NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

Fenster schließen

Krieg und Frieden
Ein Rückblick bis ins Jahr 1945
Kanzler Scholz, der Marshall-Plan und die neue NATO-Strategie
Von Wolfgang Effenberger

Am 22. Juni 2022 im Bundestag (1) und sechs Tage später in seiner Abschlussrede auf dem Ende des G7-Gipfels in Elmau forderte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz fast gebetsmühlenartig einen Marshallplan für die die Ukraine. (2) Gemeinsam mit der EU solle eine entsprechende internationale Konferenz mit Experten und Wissenschaftlerinnen organisiert und ein umfassendes Konzept zum Wiederaufbau entwickelt werden. Damit erweckt Scholz den Eindruck, dass der vormalige Marshallplan ein karitatives Unternehmen gewesen sei. Olaf Scholz ist Jahrgang 1958 und könnte sich noch an ähnliche Bilder aus seiner Kindheit erinnern. Zumindest aber an entsprechende werbewirksame Darstellungen in den Schulbüchern.



Dieses von den USA nach 1945 geförderte Narrativ ist nicht unbedingt hilfreich für die Bewältigung der gegenwärtigen Probleme. Um eine zukunftsweisende, den Frieden fördernde Initiative anzustoßen, ist es notwendig, alle Motive zu kennen.

Was wollten die USA 1947 mit dem European-Rescue-Program (ERP) bezwecken?

Am 5. Juni 1947 hielt der ehemalige Generalstabschef der USA (seit 1. September 1939) (!) und nunmehrige Außenminister George Marshall an der Harvard Universität vor Veteranen (3) des 2. Weltkriegs eine weltweit Aufsehen erregende Abschlussrede, die die Welt verändern sollte. In dieser 12-minütigen Rede betonte Marshall, der in seiner militärischen Laufbahn überwiegend mit Kriegsplanungen beschäftigt war, dass der Krieg angesichts der sowjetischen Aggression nicht wirklich vorbei sei und dass das bedrohte Europa "erhebliche zusätzliche Hilfe erhalten muss, sonst droht ihm der wirtschaftliche, soziale und politische Verfall". (4)

Der Handschlag von Torgau an der Elbe war schnell vergessen, und die gerade noch verbündete Sowjetunion wurde zum Reich des Bösen erklärt – der sich anbahnende Kalte Krieg warf die ersten Schatten voraus. (5)

Dass die Sowjetunion die Masse ihrer 12 Millionen Soldaten weiter unter Waffen hielt, während die USA das Gros ihrer 11,5 Millionen Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg sofort in die Heimat zurückschickten, war für die US-Falken ein willkommener Anlass, ihr böse Absichten zu unterstellen. Allerdings war in den USA die Industrie nicht zerstört, vielmehr boomte sie auf hohem Niveau, und man brauchte die Arbeitskräfte. Ganz anders in der Sowjetunion: Dort hatte der Krieg große Landstriche verheert und die Industrie bis zum Ural schwer in Mitleidenschaft gezogen. Daher fehlten flächendeckend Unterbringungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze, sowohl für die Soldaten als auch für die Bevölkerung.

Marshall, der Präsident Delano Roosevelt während des zweiten Weltkriegs in demutsvoller Ergebenheit gedient hatte, handelte nicht eigenständig und schon gar nicht als Altruist. Er war zeitlebens Soldat, der nur eine Aufgabe sah: Amerika zu dienen.

So steht Marshalls Rede in direktem Zusammenhang mit der Erklärung von Präsident Harry S. Truman, der am 12. März 1947 vor beiden Häusern des Kongresses verkündet hatte: „Wir können keine Veränderungen des Status quo erlauben, die durch Zwangsmethoden oder Tricks wie die politische Infiltration unter Verletzung der Charta der Vereinten Nationen erfolgen. Wenn sie freien und unabhängigen Nationen helfen, ihre Freiheit zu bewahren, verwirklichen die Vereinigten Staaten die Prinzipien der Vereinten Nationen. Die freien Völker der Welt rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden in der Welt und wir schaden mit Sicherheit der Wohlfahrt unserer eigenen Nation.“ (6)

Bereits im Oktober 1945 hatte Truman General Eisenhower beauftragt, einen hypothetischen Plan für einen umfassenden Krieg gegen die Sowjetunion auszuarbeiten. Mit der "Operation Totality" sollten mit einem Schlag 20 wichtige Städte (Moskau, Leningrad, Swerdlowsk, Tiflis….) ausradiert werden. (7)

Mit der so genannten "Truman-Doktrin" war nun offiziell Moskau der Fehdehandschuh zugeworfen worden. Im März 1947 übernahmen die USA auch die ehemals britische Schutzmachtrolle über Griechenland und die Türkei, um einer „sowjetischen Machtausweitung entgegenzuwirken“, so die offizielle Darstellung. (8) Hier wurde wohl die geopolitische Absicht kaschiert, die Handlungshoheit über die Dardanellen auszuüben.

Die Hauptziele des Marshallplans, eines bedeutenden Instruments bei der praktischen Ausgestaltung der Truman-Doktrin, waren, den beherrschenden Einfluss der USA in den vom Krieg zerstörten westeuropäischen Staaten zu sichern, den Aufschwung der in vielen Ländern beträchtlich gewachsenen revolutionären Bewegung zu verhindern, und natürlich die damaligen Volksdemokratien Osteuropas von der UdSSR abzutrennen bzw. auf den kapitalistischen Entwicklungsweg zurückzuführen. Es ging unter anderem darum, die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Privilegien der Eliten, der großen Unternehmen, in ganz Europa aufrechtzuerhalten. (9) Vor allem galt es, Westeuropa als einen verlässlichen Partner der USA zu etablieren. Dazu durfte es nicht zu selbständig werden. (10) Es sollte helfen, die von Truman bereits am 16. April 1945 skizzierte künftige Außen- und Wirtschaftspolitik der USA als globaler Führungsmacht zu unterstützen. (11) Zudem sollte Westeuropa ein Grundgerüst zur europäischen Integration ausbilden und Motor der transatlantischen Kooperation werden. (12) Eine entscheidende Rolle dürfte auch der enorme Außenhandelsüberschuss der USA gespielt haben. Die Konzerne –allen voran der Militärisch-Industrielle Komplex – brauchten dringend neue Märkte, die Oligarchen nach den Kriegsprofiten weitere Gewinne, und die Plutokraten wollten zudem ihre Macht ausweiten.

Die aus den USA importierten Waren wurden zu 90 Prozent aus dem Marshallplan bezuschusst, 10 Prozent mussten selbst bezahlt werden. (13) Den Gegenwert der Zuschüsse mussten die Empfängerländer dann allerdings in inländischer Währung in Gegenwertfonds (Counterpart Funds) einzahlen. In Deutschland verwaltet die am 16. Dezember 1948 ins Leben gerufene "Kreditanstalt für Wiederaufbau" (KfW) noch heute das ursprünglich aus dem Marshallplan entstandene Sondervermögen, dessen Verwendung nach wie vor durch die "Economic Cooperation Administration" (ECA) genehmigt werden muss. Die USA gewährten im Rahmen des Marshallplans Gelder in Höhe von insgesamt fast 14 Milliarden Dollar, Westdeutschland erhielt davon ca. 1,4 Milliarden. Die Gesamtsumme entspricht einem heutigen Geldwert von etwa 130 Milliarden US-Dollar (Stand 2015).

Zum Vergleich: 2012 hat Deutschland allein zur Euro-Rettung nach der Finanzkrise von 2007/2008 Hilfsprogramme für Irland, Portugal und Griechenland betreut und eine maximale Haftung von bis zu 211 Milliarden Euro übernommen. Wird das Volumen für Hilfskredite beider Schirme einfach addiert, könnte die deutsche Gesamthaftung im schlechtesten Fall sogar auf rund 400 Milliarden Euro hochschnellen. (14) Die auf Deutschland zukommenden Beiträge im Rahmen des aktuellen Ukrainekriegs dürften diese Summen noch weit übersteigen.

Das auf kapitalistischen Prinzipien und Freihandel aufgebaute „Hilfsprogramm“ stand sozialistischen Prinzipien diametral entgegen. Zudem verlangten die USA als Gegenleistung für den Erhalt von ERP-Mitteln Einsicht in die Budgetplanungen der betreffenden Länder. (15)

Nur wenige Wochen nach Marshalls Rede, am 26. Juli 1947, wurde der "National Security Act" verabschiedet, eines der wichtigsten Gesetze in der amerikanischen Nachkriegsgeschichte. Mit ihm wurde die Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf institutioneller Ebene vollzogen. Nach einer Analyse von Harvey Sapolsky und Kollegen aus dem Jahr 2009 ist der National Security Act bis heute Grundlage weltweiter amerikanischer Militärmacht. (16)

Die wichtigsten Punkte des Gesetzes waren die Zusammenlegung des vorherigen Kriegsministeriums und des Marineministeriums, die Schaffung einer unabhängigen Luftwaffe (USAF), die Beibehaltung und Institutionalisie- rung des während des Krieges eingerichteten Vereinigten Generalstabs (Joint Chiefs of Staff, JCS), die Schaffung des Nationalen Sicherheitsrats (NSC) so- wie die Gründung der "Central Intelligence Agency", der CIA.

Walter Lippmann, einflussreicher Propagandist des Neoliberalismus und einer gelenkten Demokratie, schrieb 1947 im Zusammenhang mit der Einbindung von Griechenland und der Türkei in den Marshallplan: „Wir haben die Türkei und Griechenland nicht deshalb ausgewählt, weil sie besonders hilfsbedürftig sind, und auch nicht deshalb, weil sie glänzende Muster für Demokratie sind, sondern weil sie das strategische Tor darstellen, das ins Schwarze Meer führt, in das Herz der Sowjetunion.“ (17)

Im Jahr 2021 war dieses strategische Tor für die US-/NATO-Aktivitäten weit geöffnet. Im Rahmen des mehrmonatigen Manövers Defender Europe 21 fanden die Schwerpunktaktivitäten in der Region des Schwarzen Meers statt: ein sichtbarer Erfolg der offenen Aggressivität der Truman Doktrin und des Marshallplans.

Alle drei Ereignisse - "Truman-Doktrin", Marshallplan und der "National Security Act" – stehen in einem direkten Zusammenhang.

Im März 1948 beschlossen die vom Marshall-Plan subventionierten Regierungen Großbritanniens, Frankreichs und der drei kleinen Benelux-Monarchien den "Brüsseler Pakt": Er verstand sich als Militärbündnis gegen eine erneute deutsche Aggression und gegen eine drohende sowjetische Aggression.

Am 4. April 1949 wurde die NATO offiziell als Verteidigungsbündnis gegen die Sowjetunion gegründet. (18)

Der erste Generalsekretär der NATO, Lord Ismay, formulierte salopp die Aufgabe der NATO: „die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten“ (19). Im Bündnisvertrag wurde festgehalten, dass wirtschaftlicher Wiederaufbau und wirtschaftliche Stabilität wichtige Elemente der Sicherheit seien – daher der Marshallplan.

Am 19. Dezember 1949 verabschiedeten die USA den Kriegsplan "Dropshot", mit dem 1957 die Sowjetunion angegriffen werden sollte. In der »Grundannahme« heißt es wörtlich: „Am oder um den 1. Januar 1957 ist den Vereinigten Staaten durch einen Aggressionsakt der UdSSR und/oder ihrer Satelliten ein Krieg aufgezwungen worden.“ (20)

Daraufhin sollten 300 Atombomben und 29.000 hochexplosive Bomben auf 200 Ziele in einhundert Städten abgeworfen werden, um 85 Prozent der industriellen Kapazität der Sowjetunion mit einem einzigen Schlag zu vernichten. Der Zeitpunkt war zweifellos auf den ursprünglich geplanten Abschlusstermin der Remilitarisierung Westdeutschlands abgestimmt. Als dann jedoch 1957 der fiepsende Sputnik seine Kreise um die Erde zog, mussten die Kriegsplanungen überarbeitet werden, und der Zeitpunkt für Dropshot wurde vertagt. In Moskau aber ist der Plan unvergessen.

1951 stellte der Koreakrieg den Auftakt für weitere Kriege in Südostasien dar, begleitet von Destabilisierungsmaßnahmen. Den Auftakt zu einer Reihe gewaltsamer, völkerrechtswidriger Umstürze bildete 1953 der Sturz des demokratisch gewählten iranischen Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh in einer Geheimoperation namens Ajax. In der Folge übernahm ein internationales Konsortium die Förderung und Vermarktung des iranischen Erdöls für die nächsten 25 Jahre. Dabei wurde der Anteil britischer Firmen auf 40 Prozent reduziert – bei gleichzeitigem Einstieg von fünf amerikanischen Ölgesellschaften mit zusammen 40 Prozent Geschäftsanteil. (21)

Am 4. Juni 2009 gestand Präsident Barack Obama in seiner Rede an die islamische Welt als erster US-Regierungschef öffentlich das ein, was die CIA jahrzehntelang geleugnet hatte: „Mitten im Kalten Krieg spielten die Vereinigten Staaten eine Rolle beim Sturz einer demokratisch gewählten iranischen Regierung.“ (22) Ein Geständnis ohne Einsicht. Denn Obama und sein Vizepräsident Joe Biden spielten im Februar 2014 selbst die zentrale Rolle beim Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, Wiktor Janukowytsch; dabei standen geostrategische Ziele im Hinblick auf die Zerstörung Russlands im Vordergrund.

Am 29. Juni 2022 räumte NATO-Generalsekretär Stoltenberg auf dem NATO-Gipfel in Madrid ein, dass sich das Bündnis seit 2014 auf einen Konflikt mit Russland vorbereitet hat. (23) Vor Medienvertretern erklärte er, „dass das Militärbündnis seit der Machtübernahme durch russische Truppen auf der Halbinsel Krim damit begonnen habe, seine Truppen in Osteuropa zu verstärken“ (24).

Die Bewohner der Krim wurden 1954 nicht gefragt, ob sie zur Ukraine wollen. 1991 strebte die Krim die Unabhängigkeit an. Warum ist der "Werte-Westen" nicht bereit, den Menschen auf der Krim ihr verbrieftes Selbstbestimmungsrecht zuzubilligen? Warum der jahrelange Krieg im Donbass mit der Ausweitung zu einem großen europäischen Krieg?

Vor den Staats- und Regierungschefs sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Zelensky (er nahm nur virtuell teil), die Russische Föderation wolle die künftige Weltordnung diktieren. Das ist eine ungeheure Unterstellung, und sie ist lächerlich angesichts der permanenten NATO-Osterweiterung seit 1991. Die USA sind es, die konsequent nach einer unipolaren Weltordnung streben (eine "neue Ordnung der Zeitalter" findet sich auf der Rückseite – darüber das Auge der Vorsehung über einer unvollständig gemauerten Pyramide – des Siegels der Vereinigten Staaten) (25). Und die US-Langzeitstrategie TRADOC 525-3-1 „Win in a Complex World 2020-2040“ ist in diesem Sinn mehr als eindeutig.

Abschließend forderte Zelensky Sicherheitsgarantien vom Westen und wies darauf hin, dass die Ukraine fast 5 Milliarden Dollar pro Monat für Verteidigung und Schutz benötige.

Vor dem aufgezeigten Hintergrund wird deutlich, dass der von Scholz geforderte Marshallplan für die Ukraine mit dem Marshallplan von 1947 nur eine Parallele hat: Stärkung der Ukraine als Rammbock gegen Russland. Unter dieser Überschrift hat der Autor in Schwarzbuch EU & NATO (2020) dem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet.

Der Marshallplan von 1947 war ein Plan des Kriegsgewinners USA (militärisch und wirtschaftlich) zum Wiederaufbau der kriegsgebeutelten westlichen Verbündeten (der Verlierer Deutschland kam später hinzu). Eine derartige Situation stellt sich heute nicht dar. Europa hat keine moralische Schuld gegenüber der Ukraine – höchstens vielleicht eine Mitverantwortung beim Putsch auf dem Maidan, dem Ausblenden von acht Jahren Bürgerkrieg sowie Interesselosigkeit bei der Umsetzung von Minsk I und II.

Was die Welt jetzt braucht, ist kein leeres Geschwätz über eine Neuauflage des Marschallplans, sondern aktives Handeln in Richtung Waffenstillstand, das hoffentlich in einen FRIEDEN mündet, welcher den Namen verdient.

Oberste Pflicht von Bundeskanzler Scholz muss es zunächst sein, dass Deutschland nicht weiter in den Krieg hineingezogen wird.

Angesichts weiterer Lieferungen von Panzerhaubitzen 2000 und der Eskalation durch Litauens Blockierung des russischen Transitverkehrs nach Kaliningrad (früher Königsberg) und die Erhöhung der Zahl der NATO-Soldaten in hoher Einsatzbereitschaft von 40.000 auf mehr als 300.000, wird vor einem möglichen Frieden wohl die Ausweitung des Krieges stehen.

Das in Madrid nach dem NATO-Gipfel verabschiedete neue strategische Konzept liest sich wie eine Kriegserklärung an Russland und hat der Eskalationsspirale einen weiteren Impuls gegeben. In Madrid kündigte US-Präsident Joe Biden eine umfassende Aufstockung der US-Truppen (auf 100.000) in Europa an sowie die Einrichtung eines ständigen US-Militärhauptquartiers in Polen – ein bisher noch nie dagewesener militärischer Vorstoß der USA in einem Land des ehemaligen Warschauer Pakts. Dazu soll in Rumänien eine zusätzliche "Rotationsbrigade" mit 5.000 Mann stationiert werden, sollen zwei zusätzliche F-35-Kampfstaffeln nach Großbritannien verlegt und in Deutschland und Italien zusätzliche Luftabwehrsysteme in Stellung gebracht werden – was ja nur Sinn macht, wenn mit Luftangriffen auf diese NATO-Staaten gerechnet wird.

Schweden und Finnland wurden nun offiziell eingeladen, dem Bündnis beizutreten. (26) Vorausgegangen war ein wochenlanges Tauziehen mit dem türkischen Autokraten Erdogan. Er schaffte es, dass die zukünftigen Nato-Länder sich weitgehend den türkischen Forderungen beugten. Sie kündigten bereits an, dass kurdische Aktivisten, die von der Türkei als „Terroristen“ bezeichnet werden, an die Türkei ausgeliefert werden – und dies, obwohl ihnen in der Türkei Folter und lange Haftstrafen drohen. (27) Über den völkerrechtswidrigen Angriffen der Türkei gegen die Kurden in Syrien oder im Irak wird die NATO weiterhin wohlwollend hinwegsehen.

Mit dem NATO-Beitritt von Schweden und Finnland verdoppelt sich die Landgrenze der NATO zu Russland, das als die "bedeutendste und direkteste Bedrohung für die Sicherheit der Verbündeten" definiert wird. Mit Schweden und Finnland wird die Ostsee zu einem NATO-Meer. Nun kann auch der Seezugang zu Kaliningrad von der NATO gestört werden (Zur Erinnerung: das Korridorproblem zwischen Deutschland und Polen führte am 1. September 1939 in den Zweiten Weltkrieg), und das NATO-Land Türkei kann der russischen Schwarzmeerflotte den Zugang zum Mittelmeer versperren. Zugleich kontrolliert die NATO über die Straße von Gibraltar den Zugang zum Mittelmeer. Die angelsächsische Meerengenpolitik ist immer noch sehr erfolgreich. Mit der gegenwärtigen Situation können die US-Strategieplaner von "Win in a Complex World 2020-2040" (September 2014) sehr zufrieden sein.

Doch wie könnten die Reaktionen auf der anderen Seite des Schachbretts aussehen? Wird man dort warten, bis USA und UK noch mehr Militärmaterial für einen Angriff auf Russland nach Europa schaffen? Im Februar 2007 hat Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz bereits die rote Linie gezogen: weder Georgien noch die Ukraine dürfen Teil der NATO werden. Da westliche Politiker nicht müde werden, immer wieder zu betonen, dass Russland besiegt werden muss, und damit Putin unmissverständlich deutlich machen, dass momentan ein Abnutzungskrieg gegen Russland als Stellvertreterkrieg mit der NATO geführt wird, wird es das Ziel des Kremls sein, die Strukturen von NATO und EU zu zerschlagen bzw. funktionsunfähig zu machen. Da im sog. "Werte-Westen" die Stimmen, die zu einer gedeihlichen Zusammenarbeit mit Russland raten (z.B. Sarah Wagenknecht, Alice Weidel), diffamiert werden, muss man kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass in Europa wieder wie 1914 die Lichter ausgehen könnten (Edward Grey, damals britischer Außenminister), sofern nicht doch noch ein Wunder geschieht.


Fußnoten:

1) https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2022/kw25-de-regierungserklaerung-897774
2) https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/g7-gipfel-elmau-kanzler-scholz-2058172
3) Die ehemaligen Soldaten konnten aufgrund eines Gesetzes zur Unterstützung bei der Wiedereingliederung von Veteranen des Zweiten Weltkriegs in das zivile Leben studieren, 22. Juni 1944; Eingetragene Gesetze und Resolutionen des Kongresses, 1789-1996; https://www.archives.gov/milestone-documents/servicemens-readjustmentact#:~:text=Signed%20into%20law%20by%20President,WWII%20and%20later%20military%20conflicts
4) Zitiert aus Opinion: The 75-year-old lesson for pushing back against Putin https://edition.cnn.com/2022/06/07/opinions/marshall-plan-wwii-anniversary-peace-avlon/index.html
5) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/252298/umfrage/armeestaerken-im-zweiten-weltkrieg-nach-laendern/
6) Zit. wie Görtemaker, Manfred et al.: Das Ende des Ost-West-Konflikts, Berlin 1990, S. 58
7) Siehe Wolfgang Effenberger: Schwarzbuch EU & NATO, Höhr-Grenzhausen 2020, S. 99f.
8) Zit. wie www.academia.edu/32323328/Die_ungarische_Revolution_von_1956_pdf
9) Vgl. ebd.
10) Vgl. Michelle Cini, From the Marshall Plan to EEC: Direct and Indirect Influences. In: Schain 2001, S. 34
11) Hofbauer, Hannes: Westwärts Österreichs Wirtschaft im Wiederaufbau, Wien 1992, S. 44 f.
12) Auch das Clayton-Memorandum vom 27. Mai 1947 dachte eine »Europäische Wirtschaftsföderation« an. Vgl. Roman Fried: Marshall-Plan und österreichischer Wiederaufbau. Eine Betrachtung vor dem Hintergrund des Kalten Krieges; http://othes.univie.ac.at/10266/1/2010 -05-15_0501711.pdf (abgerufen am 21.5. 21)
13) Curt Tarnoff: The Marshall Plan: Design, Accomplishments, and Relevance to the Present. In: Report for Congress. 6.1.1997, S. 13 (abgerufen am 24.1.2021)
14) Der dauerhafte Geldtopf zur Eu-ro-Rettung wurde vom Bundeskabinett beschlossen – dabei sind wichtige Details noch nicht geklärt: Die parlamentarische Kontrolle und die genaue Haftungssumme für Deutschland vom 14.3.2012. Vgl. www.handelsblatt.com/ politik/deutschland/rettungsschirm- schlimmstenfalls-haftet-deutschland- fuer-400-milliarden-euro/6327118-2. html?ticket=ST-8149832-i1rJVtWdT- c0RacxGBVj2-
15) Rebecca Belvederesi-Kochs und Paul Thomes: Der Marshall-Plan. In: Themenportal Europäische Geschichte, 2010, https://www.europa.clio-online.de/ essay/id/fdae-1526
16) Vgl. Sapolsky, Harvey/Gholz, Eugene/Talmdge, Caitlin: US Defense Politics London 2009, S. 4
17) Lippmann, W.: The Cold War. New York 1947, S. 29 f.
18) Die Gründerstaaten der NATO sind Kanada und die USA und die europäischen Länder Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen und Portugal
19) https://internationalepolitik.de/de/nordatlantische-allianz
20) LONG-RANGE PLANS FOR WAR WITH THE USSR – DEVELOPMENT OF A JOINT OUTLINE PLAN FOR USE IN THE EVENT OF A WAR IN 1957 (Short Title --"DROSHOT")
21) https://web.archive.org/ web/20080327181230/http://www.nioc. ir/brief_history/page6.html
22) https://obamawhitehouse.archives. gov/issues/foreign-policy/presidents- speech-cairo-a-new-beginning
23) https://www.republicworld.com/world-news/russia-ukraine-crisis/natos-stoltenberg-admits-alliance-has-been-preparing-for-conflict-with-russia-since-2014-articleshow.html
24) Ebd.
25) Auf der Rückseite der gültigen Ein-Dollar-Note befindet sich seit 1935 das stilisierte Siegel der USA
26) http://www.defenddemocracy.press/nato-is-preparing-world-war-against-russia-and-china/
27) https://www.fr.de/politik/tuerkei-erdogan-nato-beitritt-schweden-finnland-zugestaendnisse-weder-ueberzeugend-noch-werteorientiert-zr-91643076.html
Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, ehemaliger Offizier der Bundeswehr, setzt sich als Autor seit seinem ersten Buch „Pax americana“ (2004) engagiert für den Frieden ein. Im April 2022 erschien von ihm "Die unterschätzte Macht: Von Geo- bis Biopolitik - Plutokraten transformieren die Welt". Weitere Bücher von ihm zum Thema:
"Wiederkehr der Hasardeure" (2014, Koautor Willy Wimmer), die Trilogie „Europas Verhängnis 14/18“ (2018/19) sowie "Schwarzbuch EU & NATO" (2020).


Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, ehemaliger Offizier der Bundeswehr, setzt sich als Autor seit seinem ersten Buch „Pax americana“ (2004) engagiert für den Frieden ein. Im April 2022 erschien von ihm "Die unterschätzte Macht: Von Geo- bis Biopolitik - Plutokraten transformieren die Welt". Weitere Bücher von ihm zum Thema: "Wiederkehr der Hasardeure" (2014, Koautor Willy Wimmer), die Trilogie „Europas Verhängnis 14/18“ (2018/19) sowie "Schwarzbuch EU & NATO" (2020).

Online-Flyer Nr. 794  vom 06.07.2022



Startseite           nach oben