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Literatur
Aref Hajjai: "Heimatlos mit drei Heimaten - Prosatexte über das Anderssein"
Hervorragender Einblick in palästinensisches Leben
Buchtipp von Evelyn Hecht-Galinski

Vom ersten Kapitel dieses Buches an kann ich mich so gut in die Lage des Protagonisten Nader und seiner Frau Elsa versetzen. Sind es doch die gleichen Schwierigkeiten, die eine „Mischehe“ zwischen einem jüdischen und einem christlichen oder muslimischen Partner erwarten. Die Erwartungshaltung oder Enttäuschung der Familien über die Wahl des Sohnes oder der Tochter sind greifbar nah. Allerdings kommen bei diesem jungen Palästinenser noch die erschwerten bürokratischen Hürden dazu. Nicht nur die Miefigkeit der 1970er Jahre sondern auch das Problem der Heiratserlaubnis, die nur mit einer „Ledigkeitsbescheinigung“ zu bekommen sei. Was daran scheiterte, dass der Beamte einen heimatlosen Palästinenser vor sich hatte. Mir scheint diese Art der Diskriminierung ganz typisch für eine „Sonderbehandlung“ für Muslime. Vielleicht in der Annahme, dass ein Muslim einen „Harem“ zu hause haben könnte. Hilfreich scheint es auch, wenn der muslimische Partner sich dem Alkohol nicht abgeneigt zeigt. Ein wichtiges Kriterium im nichtmuslimischen Umfeld, wie es scheint. Diese eindrückliche Schilderung zeigt ja nur die Vorurteile, die sich im Großen und Ganzen bis heute gehalten haben. Vielleicht heute unterschwelliger, aber in der Wirkung ganz ähnlich. Wie die Eheleute ohne die trennenden Regeln der Religion eine glückliche Ehe führen und ihren zwei Kindern die freie Wahl der Religionswahl überlassen, das ist eine gelebte Toleranz und Garant für ein glückliches Zusammenleben.

Besonders schlimm erscheinen mir dagegen Ehepartner, die konvertieren und danach die neue Religion so verinnerlichen, dass die Ehe für den Partner zur „Religionshölle“ wird. Wie der Autor diese familiären Hintergründe schildert, ist so wichtig für das ganze Buch. Erleben wir doch aktuell, wie sich Konversion bei manchen Menschen zu gefährlichem Fanatismus wird. Ich als bekennende Atheistin halte die Instrumentalisierung und staatliche Förderung von Religionen für einen der gefährlichsten Faktoren für Unfrieden und Unterdrückung.

Auch die für jeden Leser so interessanten kulturellen Aspekte, der sprachlichen und gesellschaftlichen Unterschiede, z.B. im Umgang mit Einladungen, Besuchern und Personal, eröffnet eine neue Sicht und ist eine hilfreiche Information für den gemeinsamen Umgang miteinander. Ebenso wird sehr richtig vermittelt, dass es den Rassismus in allen Kulturen und Regimen gibt, egal ob links oder rechts. Politische „Korrektnis“ und sprachliche Ausrutscher sind ein Phänomen, das überall zu finden ist.

Allerdings erleben gerade Palästinenser erschreckende Anfeindungen - ganz besonders, wenn sie wie der Hauptprotagonist Nader in einem deutschen Bundesministerium angestellt sind. Ich tippe natürlich auf typisch neidische Anwandlungen von deutschen Zeitgenossen, die es niemals so weit bringen würden, aber nicht begreifen wollen, dass sie eben nicht die Voraussetzungen erfüllen, wie der Palästinenser.

Für meine Hochblauen-Seite habe ich das Kapitel „Antisemitismus und Philosemitismus“ (siehe unten) ausgewählt, um meinen Lesern gerade diesen wichtigen Zusammenhang nochmals vor Augen zu führen, da dieser Begriff für mich eine so wichtige und schlimme Komponente der heutigen Politik beinhaltet. Ebenso ist das Kapitel über Verschwörungstheorien ein wichtiger Aspekt, den der Autor meisterhaft zu vermitteln schafft.

Es ist auch sehr interessant, wie sich die Sportkultur im Vorderen Orient und Westeuropa unterscheidet, oder medizinische Aspekte, die verbunden werden mit einer Allergie, die sich verschlimmert, je nach politischen Umständen, der grausamen und illegalen Besatzung Palästinas durch das zionistische Regime. Auch ich kann dieses Phänomen bestätigen, da sich meine „Juckreizprobleme“ je nach politischer Lage verschlimmern. Nach jeder deutschen „uneingeschränkten Staatsräson“ Solidarisierung mit dem „jüdischen Staat“ deutscher Politiker und nach neuen schrecklichen Besatzungsverbrechen, kommt es dann zum „Ekzem Gau“.

Die Schilderung der „Trump-Sucht“ und der US-Zustände im Umgang mit Israel und der „Pathologie in der Politik“ ist unübertrefflich. Diese Heimatlosigkeit des Autors und seine Verlorenheit zwischen den drei Heimaten sind eine traurige Realität, die mich tief berührt hat. Auch die Besuche in der palästinensischen Heimat, dem Land unter illegaler jüdischer Besatzung, machen mich traurig und erfüllen mich mit Scham über dieses bis heute ungesühnte Verbrechen, das mit der Nakba begann und bis heute andauert.

Fazit: dieser Autor und sein Hauptprotagonist Nader sind angekommen in den „Heimaten“. Er hält uns den Spiegel vor und weist uns auf ein manchmal mehr als skurriles Verhalten der „Förmlichkeiten“ im Alltag hin. Ich habe mich selten so persönlich angesprochen gefühlt beim Lesen eines Buches wie bei „Heimatlos mit drei Heimaten“.

Die Heimat Schweiz in der deutschen „Diaspora“, der „Geburtsheimat“ seiner Frau Elisa, in der Nader seit Jahrzehnten lebt, und seine Erlebnisse im „Röschti-Graben“, die ich als „Neu-Südbadnerin“, Markgräflerin und Dreiländer-Eck-Nachbarin nur bestätigen kann, haben mich fasziniert.

Heimatlos, aber niemals identitätslos, ist eine wunderbare Devise, und Integration muss nicht zwangsläufig in verordneter Assimilation enden.

Fazit: Aref Hajjaj ist es hervorragend gelungen, uns einen Einblick in palästinensisches Leben und Gemütslage zu geben, ohne nicht auch die politischen Einsichten und Aussichten authentisch zu schildern, so dass es für mich eines der wichtigsten und ergreifendsten Bücher, eines persönlichen Romans der letzten Jahre, ist.


Aref Hajjaj

Dr. Aref Hajjaj wurde im Februar 1943 in Jaffa/Palästina geboren. Nach der Vertreibung 1948 wuchs er in Beirut und Kuwait auf. Er studierte in Heidelberg Politikwissenschaft, Geschichte und Völkerrecht. Nach der Promotion arbeitete er im Deutschen AA als Übersetzer und Dozent für Arabistik und interkulturelle Kommunikation. Er ist Publizist und Vorsitzender des Palästina-Forums. 2010 erschien sein Buch „Angekommen in Deutschland – Der Preis der Integration“ im LIT-Verlag. Anfang 2017 erschien sein zweites Buch „Land ohne Hoffnung? – Arabischer Nationalismus, politischer Islam und die Zukunft Palästinas“ im Schöningh-Verlag. Das Buch wurde u.a. in der FAZ und in der Rheinischen Post rezensiert. WDR 5 machte eine Sendung darüber. Er ist häufiger Interview-Gast deutscher, österreichischer und arabischer TV- und Radiosender zu innerarabischen und europäischen Themen. Hajjaj ist mit einer Schweizerin verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.


Aref Hajjai: Heimatlos mit drei Heimaten - Prosatexte über das Anderssein



Kiener Verlag, erschienen 09/2021, 1. Auflage, 208 Seiten, ISBN 978-3-948442-21-7, CHF 19,20, EUR 18,95


Anhang: Kapitel "Philosemitismus und Antisemitismus"


Naders Weltbild ist vielschichtig und aufgeklärt. Dennoch oder gerade deswegen fällt es ihm schwer, die glühenden Argumente für Antisemitismus und auch für Philosemitismus nachzuvollziehen, von welcher Seite sie auch immer kommen mögen. Natürlich ist der Antisemitismus oft kein haltloser Vorwurf. Der wahre und empirisch definierte Antisemitismus ist nach wie vor eine gefährliche, nicht zu unterschätzende Realität. Die physischen und verbalen Angriffe auf Menschen, die als Juden erkennbar sind, häufen sich in den letzten Jahren und werden zurecht mit harten strafrechtlichen Maßnahmen geahndet. Dabei ist es völlig belanglos, ob solche Handlungen von völkisch handelnden Rechtsextremisten oder von politisch inspirierten muslimischen Migranten begangen werden. Es ist ein krimineller Akt. Interessanterweise schlagen Antisemitismus und Philosemitismus auch manchmal ineinander um, wie folgendes Beispiel zeigt.

Einem palästinensischen Studenten, der damals auffallend ausgemergelt aussah, wurde einmal von einem akademisch gebildeten, gut situierten Heidelberger Bürger attestiert, eine frappierende Ähnlichkeit mit Franz Kafka zu haben. Der Bürger war voll des Lobes über die Juden und über alles Jüdische. Das verkündete er – offensichtlich in der falschen Annahme, der erwähnte Student sei Jude. Sobald er jedoch erfuhr, dass diese Annahme falsch war, änderte er seine Aussagen zum Judentum um 180 Grad. Er polemisierte rhetorisch hart gegen diese Religionsgemeinschaft in Vergangenheit und Gegenwart und machte sie für all das Unheil verantwortlich, welches die Menschheit je heimsuchte. Dafür nutzte er ein an Hasstiraden nicht zu überbietendes Vokabular. Irrigerweise war er der festen Überzeugung, dem jungen Studenten aus den israelisch besetzten Gebieten damit einen Gefallen zu tun. Diesem wäre es allerdings viel lieber gewesen, hätte der Wendehals statt in Juden-Bashing zu verfallen, begründete Kritik an der Politik Israels geübt.

Übrigens: Auch Nader hatte, wenn auch selten, ähnliches erlebt, was er ebenfalls für eine seltsame Geisteswendung hielt. Manche tragen paradoxerweise sowohl Antisemitismus wie Philosemitismus, gleichzeitig, in ihrer Brust. Rechtslastige, zum Teil völkische Bewegungen neigen gemäß ihrer geistigen Sozialisierung zu Antisemitismus und allgemeiner Fremdenfeindlichkeit. Gleichzeitig stehen sie – wohl aus „negativen“ Beweggründen – eindeutig auf der Seite Israels. Mit „negativ“ ist gemeint, dass diese Kreise nicht wirklich eine innige Beziehung zu Israel hegen. Vielmehr handeln sie schlicht gemäß der weit verbreiteten und doch absurden Devise „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“. Islamophobe Menschen und erbitterte Hasser von Migranten und Flüchtlingen aus muslimisch geprägten Ländern sympathisieren stark mit der rechtslastigen Agenda der israelischen Mainstream-Politik, die sich gegen die Rechte der Palästinenser richtet, und die Flüchtlingspolitik – zum Beispiel Deutschlands – für abwegig und gefährlich hält. Diese Paradoxie in der politischen und ideologischen Haltung findet sich nicht nur hierzulande, sondern auch unter den nationalistischen und zum Teil völkisch orientierten politischen Parteien und Strömungen etwa in Ungarn, Polen, Frankreich, Italien und den Niederlanden. Sogar aus dem inneren Kreis des früheren US-amerikanischen Präsidenten und bedingungslosen Verbündeten Israels, Donald Trump, gab es einige Berater, auf die dieser doppelbödige Dualismus zutraf: stark proisraelisch in der Außen- und Sicherheitspolitik und gleichzeitig kritisch und reserviert gegenüber den Juden im innenpolitischen Kontext.

Es gibt flankierend zu diesem seltsamen Dualismus bei einigen Anhängern dieser Strömungen auch noch eine weitere, nicht minder abstruse Variante: die Glorifizierung des Systems Vladimir Putin trotz latent bestehender Vorurteile gegenüber den „Russen“ als slawische Menschen. Hier geht es nicht um eine nostalgische Haltung gegenüber der Sowjetunion, sondern um eine bewusste Entscheidung zugunsten des starken Staates sowie gegen die liberale Demokratie, Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz. Das erinnert stark an das Werk von Thomas Hobbes „Leviathan“, in dem der herbeigesehnte omnipotente Staat verherrlicht wird. Auch der eigentlich „ideologiefreie“ Trump galt in diesen Kreisen als Vorbild, denn er verkörperte eins zu eins die Forderung nach einer übermächtigen Exekutive zuungunsten von Parlament und unabhängiger Justiz. Der Antisemitismus ist also kein Phantasiegebilde, sondern nach wie vor eine reale und bedrückende Gefahr. Real und bedrückend ist aber auch dessen politische und gesellschaftliche Instrumentalisierung. Die Keule des Antisemitismusvorwurfs wird vor allem in Deutschland gerne und häufig eingesetzt, um zum Beispiel berechtigte Kritik an der Besatzungs- und Siedlungspolitik Israels zu kriminalisieren. Auch die Forderung nach Boykott der aus den jüdischen Siedlungen in der Westbank hergestellten Waren wird nicht nur in rechtslastigen Kreisen als „antisemitisch“ genannt, sondern auch von den meisten Regierungen der EU-Staaten. Und dies obwohl die EU und die meisten Staaten der Welt den Bau von Siedlungen in besetzten Territorien als völkerrechtswidrig verurteilen. Dadurch liefert die EU das Bild einer unschlüssig handelnden Regionalmacht. Das gleiche Bild liefern viele Medien und wichtige Institutionen in Deutschland wie etwa der Zentralrat der Juden in Deutschland und der Deutsche Bundestag.

Letzterer verabschiedete 2019 eine undifferenziert formulierte Resolution gegen die BDS-Bewegung (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen), ohne das wesentliche Problem, die Besetzung und Besiedlung von palästinischem Grund und Boden, auch nur am Rande zu thematisieren. Mehrere Bundestagsabgeordnete bekundeten im privaten Zirkel, sie betrachteten diese Resolution im Nachhinein als „unausgewogen“, und bereuten daher sogar ihre Zustimmung dazu. Ende 2020 übten außerdem namhafte deutsche, europäische und jüdische Künstler und Intellektuelle harsche Kritik an der erwähnten Resolution des Bundestages sowie an der öffentlichkeitswirksamen Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs überhaupt. Genauso bedenklich ist die Position des Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung Felix Klein und seine Kritik am afrikanischen Historiker Achille Mbembe. Mbembe beschrieb die Lage der Menschen im Gazastreifen als eine humanitäre Katastrophe und übte Kritik an der Politik der israelischen Regierung. Daraufhin warf Klein ihm vor, durch seine Vergleiche den Holocaust zu relativieren, was Mbembe nicht einmal andeutungsweise getan hat.

Es gab auf Kleins Polemik hin heftige Reaktionen auf deutscher, europäischer und internationaler Ebene. Klein und seine Gleichgesinnten, die den Philosemitismus kritiklos übernehmen, verurteilen die These, dass trotz des singulären Charakters des Holocaust auch andere Verbrechen gegen die Menschheit im gleichen Maße angeprangert werden dürfen. Neben dem völkisch begründeten Antisemitismus und dem oft auf Opportunismus und Angepasstheit beruhenden Philosemitismus gibt es in Teilen der Welt, so auch unter Arabern und Muslimen, ein weiteres Phänomen, das zwar nicht auf Rassismus beruht, dennoch nicht minder verstörend ist. Es geht hier um die seltsame und völlig unreflektierte „Hitler-Verehrung“, die man in einigen muslimischen Ländern noch heute vorfindet und die im Wesentlichen auf dem Unwissen über die komplexen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge beruht. Auch Hitlers Verhältnis zum damaligen palästinensischen Politiker und Mufti von Jerusalem, Hadsch Amin Al-Husseini, war, wie dies die deutschen und internationalen staatlichen Archive deutlich belegen, rein taktisch-opportunistischer Natur.

Online-Flyer Nr. 779  vom 27.10.2021



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