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Wirtschaft und Umwelt
Teile der Londoner Finanzwelt haben den Brexit gefördert. Sie denken weniger neoliberal als vielmehr anarchokapitalistisch.
Austritt der Finanzmacht
Von Harald Schauff

Für viele kam es unerwartet. Am 24. Juni 2016 stimmten knapp 52 Prozent der britischen Wähler für den EU-Austritt Großbritanniens. Ein gewichtiges Zünglein an der Waage spielte dabei die Londoner City, immerhin der mächtigste Finanzplatz Europas. Offiziell nach außen hin hatte man sich vehement für einen Verbleib in der EU eingesetzt. Intern galten andere Prioritäten, wie eine eingehendere Analyse des Wahlergebnisses nahe legt. Demnach flossen über 60 Prozent der Spenden des Londoner Finanzplatzes an die Austrittsbewegung. Die Zuwendungen für deren Kampagne stammten überdies zu 57 Prozent aus dem Finanzsektor. Das Lager für den EU-Verbleib erhielt von dort nur 36 Prozent (Informationen: ‚Die Sponsoren des Austritts‘ von Marlène Benquet und Théo Bourgeron, le monde diplomatique Januar 2021).

Dazu kommt: Der Finanzsektor zieht keineswegs an einem Strang. In der Londoner City gibt es zwei Gruppen mit durchaus gegensätzlichen Interessen. Zum einen sind da die Betreiber des traditionellen Finanzgeschäftes wie Banken, Versicherungen, Finanzberater-Firmen und institutionelle Anleger wie Pensionskassen. Sie verdienen daran, Privatkunden zu animieren, ihre Spareinlagen kurzfristig in Aktien anzulegen. Die Anteilseigner haben dabei kein Interesse, die Kontrolle zu erlangen über das Unternehmen, an dem sie beteiligt sind. Sie bleiben passiv und überlassen die Kontrolle dem Management des Unternehmens.

Solche traditionellen Finanzeinrichtungen nennen die beiden französischen Soziologen Benquet und Bourgeron Vertreter der ‚ersten Finanzialisierung‘. Ihnen gegenüber steht die andere Kategorie der ‚zweiten Finanzialisierung‘, darunter Private-Equity-Firmen und Hedgefonds. Sie stecken die Gelder von Privatanlegern gezielt in Unternehmensteile, welche nicht an der Börse gehandelt werden, um jene unter ihre Kontrolle zu bringen. Aktienkurse brauchen sie dabei so gut wie nicht zu kümmern.

Dieses Lager hat die Kampagne für den EU-Austritt mit rund 94 Prozent seines Spendenaufkommens gefördert. Hingegen kamen die meisten Spenden zugunsten der Bewegung für den EU-Verbleib von den traditionellen Finanz-Akteuren der ersten Finanzialisierung.

Kritischen Ökonomen gilt die EU oftmals als Hort des Neoliberalismus. Sie würde zu einseitig die Interessen der Finanzwirtschaft bedienen zulasten der Souveränität der Völker. In der Tat hat sie dem europäischen Finanzsektor bessere Rahmenbedingungen verschafft. Doch den Akteuren der zweiten Finanzialisierung genügt das längst nicht mehr. Sie empfinden den Rahmen als zu eng und halten die Finanzaufsicht in Brüssel für zu streng. Der Brexit soll sie davon befreien, damit sie in Zukunft überall nach Gutdünken investieren können. Sie beabsichtigen, aus der Londoner City eine Art Offshore-Plattform zu machen, ein globales Singapur frei von EU-Auflagen und Regularien, ein gigantisches Steuerparadies. Die britische Presse schreibt von einem ‚Singapore-upon-Thames‘.

Im Juli 2019 wurde Boris Johnson britischer Premier. Seitdem hocken auch Vertreter der zweiten Finanzialisierung in der Downing Street 10 auf wichtigen Regierungsposten. Sie folgen einer libertären Ideologie und wollen die Rolle des Staates ausschließlich auf den Schutz des Privateigentums beschränken. Beziehungen zwischen Staaten sollen nicht über Institutionen wie die EU oder die UN geregelt werden, sondern nach freiem Ermessen der Staaten gestaltet werden.

Diese schließen untereinander direkte Handelsabkommen ab, die sich mit ihren wirtschaftlichen Interessen decken. Das libertäre Ideal ist ein radikal deregulierter Kapitalismus. Dieser soll ein soziales System bilden, das einzig um das moralisch, politisch und wirtschaftliche souveräne Individuum kreist.

Libertäre bzw. Anarchokapitalisten wollen den Staat noch weiter zurückdrängen als Neoliberale, bis hin zu seiner völligen Abschaffung. Nicht nur das Bildungswesen und Infrastrukturen wie das Verkehrssystem, sondern auch hoheitliche Befugnisse und Funktionen wie jene von Armee, Polizei und Justiz sollen vollständig privatisiert werden. Letztere wollte der britische Ökonom Adam Smith, einer der Urväter des Liberalismus, in den Händen des Staates belassen. Er sah das Allgemeinwohl als Summe der Einzelinteressen. Gesetze des demokratischen Staates sollten das freie Wirtschaften der Einzelnen ergänzen.

Neoliberale Ökonomen wie Milton Friedman und Friedrich Hayek traten für die radikale Verteidigung des Privateigentums und die Freiheit zur Selbstbereicherung ein. Sie würde durch den sog. ‚Trickle-Down-Effekt‘ den allgemeinen Wohlstand mehren und den sozialen Fortschritt fördern. Der libertäre oder anarchokapitalistische Freiheitsbegriff klammert die Folgen für das Gemeinwohl aus. Die Freiheit als höchster Wert begründet sich in der Kapitalanhäufung als Selbstzweck. Sie ist nicht einmal auf den Glauben an den Kapitalismus als beste aller Wirtschaftsweisen zur Wohlstandsmehrung angewiesen. Grob zusammengefasst gilt bei Smith: Privat plus Staat. Bei den Neoliberalen: Privat vor Staat. Bei den Libertären: Privat statt Staat.

Gegenüber den Libertären wirken die Neoliberalen geradezu staatsfreundlich. Sie stehen in der Tradition des Ordoliberalismus, der dem Staat eine ordnungspolitische Aufgabe zuweist. Der Staat soll einen Ordnungsrahmen herstellen, der das reibungslose Funktionieren des Marktes gewährleistet. Auf diese Weise soll er das Marktgeschehen voran treiben.

Anarchokapitalisten überlassen den Markt dagegen völlig sich selbst bzw. den Privateigentümern, die alles von sich aus regeln. Dem Profitstreben wird freier Lauf gelassen und alles, was es hemmen könnte, aus dem Weg geräumt. Etwa die öffentliche Finanzierung von Bereichen wie Gesundheit, Bildung und Sicherheit, welche die Grundbedürfnisse der Bevölkerung erfüllen.

Dies führt automatisch zu einer autoritären Politik, die den sozialen Zusammenhalt durch Zwang zu sichern versucht. Sie schränkt bürgerliche Freiheiten und Rechte ein und unterdrückt soziale Bewegungen. Da sie jegliche Maßnahmen zur Eindämmung von Armut und Ungleichheit von Grund auf ablehnt, bleibt ihr nur der Einsatz von Gewalt, um das gesellschaftliche Leben zu regeln. Für die Freiheit zu besitzen und sich zu bereichern werden alle anderen Freiheiten aufgegeben.

Seit den 2010er Jahren wird diese Ideologie von Thinktanks der ‚Tufton Street‘ verbreitet. Der Sammelbegriff geht auf eine Straße im Londoner Stadtteil Westminster zurück. Die meisten dieser Denkfabriken haben dort ihre Anschrift, u.a. das Adam Smith Institute, die Taxpayers Alliance und das Institute for Economic Affairs. Finanziert werden diese Einrichtungen vor allem von Vertretern der zweiten Finanzialisierung. Den Rest steuern mit ihnen verflochtene Wirtschaftszweige wie Hoch- und Tiefbau, fossile Brennstoffe und die Tabakindustrie bei.

Die Tufton Street gehört dem transatlantischen ‚Atlas Network‘ an, dem rund 400 Organisationen angeschlossen sind. Das libertäre Netzwerk besitzt Verbindungen zu den Tory-Brexiteers und zur Alt-Right-Bewegung in den USA. In der politischen Zielsetzung ist man sich einig, will u.a. die Thatcher-Linie fortsetzen, steht dem Euro skeptisch gegenüber und zweifelt den menschengemachten Klimawandel an.

Auch in Deutschland gibt es Vertreter dieser Denkrichtung. Die 20 jährige Influencerin Naomi Seibt bezeichnet sich selbst als Anarchokapitalistin (Siehe DER SPIEGEL Nr. 38/ 12.9.20). Auf ihrem YouTube-Kanal warnt sie vor einer ‚sozialistischen Ökodiktatur‘, wo das Kollektiv alles und der Einzelne nichts ist. Sie träumt von einem Deutschland, in dem es keinen Staat mehr gibt, der irgendetwas vorschreibt und Steuern erhebt. In einer solchen Gesellschaft würde nicht das Recht des Stärkeren gelten, sondern sich ‚die Starken aus eigenem Antrieb um die Schwachen kümmern.‘

Die politischen Unterstützer der zweiten Finanzialisierung neigen spürbar zu einem autokratischen Regierungsstil. Die französischen Soziologen Benquet und Bourgeron schließen daraus: Die libertären Ultra-Kapitalisten scheinen nicht länger auf die Demokratie als bürgerliche Herrschaftsform angewiesen zu sein. Diese wurde seit Beginn des 19. Jahrhunderts gegen den bis dahin fast 1000 Jahre herrschenden Geburtsadel durchgesetzt.

Heute sieht es anders aus: Keine andere Gesellschaftsschicht oder konkurrierende Elite bedroht die Macht der Bourgeoisie. Weder Monarchie noch Sozialismus rücken ihr zuleibe. Hat sie vielleicht deshalb das Interesse an der Demokratie verloren? Andersherum gefragt: Hat die eher autokratisch geprägte Wirtschaftsform des Kapitalismus jemals richtig zur Demokratie gepasst?


Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Mai 2021, erschienen.

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