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Literatur
Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933
Auf marxistischem und psychoanalytischem Fundament
Buchtipp von Günter Rexilius

Viele Jahre lang hat Andreas Peglau auf die Neupublikation der "Massenpsychologie" hingearbeitet. Nun ist sie da - dank Unterstützung durch den Psychosozial-Verlag. Angesichts der Fülle gesellschaftswissenschaftlicher, politiktheoretischer, auch psychoanalytisch orientierter Literatur zum Faschismus, zum Holocaust, zur Rechtsentwicklung in Europa und auch in Deutschland, fragt sich auch der geneigte Leser: Brauchen wir noch ein Werk, das bald 90 Jahre alt wird und sich auf eine Epoche bezieht, die wir politisch, humanistisch, wissenschaftlich usw. längst hinter uns gelassen haben?

Wir brauchen. Wer das Nachwort von Andreas Peglau als Kompass für die Lektüre des Reich-Textes nimmt, wird sich nach wenigen Abschnitten bewusst: Niemand hat wie Reich mit psycho-analytischer Akribie untersucht, dass und wie patriarchale Gesellschaften auf faschistischem Denken und Handeln fußen: Der sie tragende autoritäre Erziehungsstil, der sexualfeindlich und destruktiv ist, verankert in den kindlichen Individuen Angst, Unterwürfigkeit und Aggressivität als "Marschroute" durchs Leben. So einfach und eindringlich wie überzeugend beschreibt Wilhelm Reich ein bis heute überdauerndes bürgerliches Gesellschaftsmodell, das sich einer psychischen Dynamik bedient, die wir alle mehr oder weniger gut kennen: Der autoritären Erziehung in der Kleinfamilie entwachsen Menschen, von denen viele zwar über Schule und Medien demokratische Einstellungen rational eingelagert haben, die aber emotional nicht hinreichend unterfüttert sind. In persönlicher oder sozialer oder gesellschaftlicher Bedrängnis brechen Autoritätsgläubigkeit und Aggressionen gegen vermeintlich existenzbedrohende "Bösewichte" sich gefühlsmäßig und handlungsleitend Bahn.

Was also ist an Reich so aktuell? Er hält uns allen den Spiegel vor: unserem viele Menschen deklassierenden Gemeinwesen, unserem bigotten Humanismus und unserer angeblich entgrenzten Sexualität, die doch nur dem Rhythmus des Warenmarktes folgt. Die seelischen Strukturen, die 1933 die faschistische Machtübernahme und später die Ermordung von Millionen Juden und anderer "outcasts" ermöglicht haben, weil die Masse der Menschen mitgemacht oder gleichgültig zugesehen hat, haben sich am 8. Mai 1945 aus ihrem Seelenleben nicht einfach so verflüchtigt. Vielmehr sind die gesellschaftlichen Grundmuster patriarchal, sexistisch , kapitalistisch, imperialistisch, rassistisch geblieben. Alters- und Kinderarmut, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Wohnungselend, Klassenmedizin und Klimazerstörung liefern drängende Motive für die nach rechts abfallende schiefe Ebene, auf der die herrschende politische Praxis seit Jahrzehnten abwärts taumelt. Ihr individueller Kern bleibt die autoritätsgebundene, unterdrückte psychische Struktur, sowohl bei den gesellschaftlich und sozial Ausgegrenzten, die darauf hoffen, aus ihrem Elend geführt zu werden, als auch in der Mittelschicht der Wohlsituierten und Profiteure, die darauf vertrauen, dass diejenigen, die demokratische Grundlagen längst oligarchisch und kleptokratisch verformt haben, weiter ihre loyalen MitläuferInnen hofieren.

Wilhelm Reich hat mit seiner „Massenpsychologie" auf marxistischem und psychoanalytischem Fundament beide theoretischen Komplexe zugleich über beide hinaus gegangen. Er hat verstanden, dass einerseits Gesellschaftsanalyse ohne Verständnis für die individuellen seelischen Prozesse historische Entwicklungen nur unvollständig erklären kann, und dass andererseits Wissen über seelische Strukturen und Prozesse der fundierten Einblicke in gesellschaftliche Vorgänge benötigt. Er hat nicht nur für die zeitgenössischen, sondern auch für gegenwärtige Zustände durchschaubar gemacht, dass kapitalistische, rassistische und in ihrem "Fahrwasser" faschistische Verhaltensmuster der bürgerlichen Lebensform bedürfen – nicht abstrakt, sondern ganz konkret ihrer kleinfamiliären patriarchalen Gestalt, die psychostrukturell in uns allen fest verbaut ist.

Vielleicht machen viele durchaus kritische und aufgeklärte ZeitgenossInnen einen Bogen um Wilhelm Reich, weil seine "Psychoanalyse gegen den Faschismus" auch Wissen gegen unsere – rassistische - Gleichgültigkeit und Trägheit ist, wenn es um Respekt gegenüber Menschen in aller Welt geht, die mit ihrem Leiden und ihrem Elend unseren Wohlstand schaffen, und gegen unsere – existenziell gesehen suizidale – Zerstörung der Natur, der zuliebe bislang selbst viele Wissende kaum bereit sind, ihren Lebensstil radikal zu verändern. Die meisten von uns sind Kollaborateure im ökonomischen, sozialen und militärischen Krieg gegen große Teile der Menschheit: In unserem Schweigen, unsere Passivität, unserem Gleichmut drückt sich unsere psychodynamisch verankerte Angst vor ihnen aus, unsere Verachtung ihnen gegenüber und unsere verschobene Aggressivität gegen sie. So, lautet die Botschaft von Wilhelm Reich, hat der Faschismus bis 1945 seinen Rückenwind erhalten, so hat er die letzten Jahrzehnte praktisch und staatstragend überlebt. Er wird gegenwärtig, nicht vor allem durch die AfD, sondern durch demokratie- und menschenfeindliche, ökonomisch-politische mächtige Eliten gefüttert – und durch die ihnen willfährigen Massen aller gesellschaftlichen Schichten.


Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933



Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau, Psychosozial-Verlag, Gießen 2020, 280 Seiten, 32,90 Euro

Online-Flyer Nr. 734  vom 05.02.2020



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