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Aktueller Online-Flyer vom 02. Dezember 2024  

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Globales
Rede über die Rolle der Vereinten Nationen
Vereint in Frieden, Freiheit und Solidarität - Plädoyer für eine menschliche Völkergemeinschaft
Von Wolfgang Effenberger

Der diesjährige Kongress „Mut zur Ethik“ ist überschrieben „Wie wollen wir zusammenleben?“ Diese Frage ist angesichts des Strebens der USA nach der totalen globalen Dominanz von zentraler Bedeutung. Ohne jegliche Scheu wird versucht, widerstrebende Staaten mit ökonomischen, diplomatischen und militärischen Mitteln zur Unterwerfung zu zwingen. Nach innen setzen die USA und ihre ergebenen Satellitenstaaten auf Überwachung und Bürgerrechtsabbau. Weltweit soll das Ausbeutungssystem des Neoliberalismus als alternativlos installiert werden. Ziel ist der ungezügelte globalisierte Kapitalismus unter Herrschaft der Finanzindustrie. Ein Marktradikalismus als „alternativlose“ Ordnung. Die USA als exzeptionelle Nation, die nicht nur über allen anderen Nationen, sondern auch über dem Recht steht. Die Welt im Würgegriff eines transatlantischen Elitenfaschismus. Wie konnte es so weit kommen? Sind in der UN-Charta nicht die Prinzipien eines freien und solidarischen Völkerbundes formuliert?

Anfang August 1941 entwarfen Roosevelt und Churchill auf dem amerikanischen Kreuzer Augusta im Geist von Immanuel Kant die "Atlantik-Charta" und nannten als Kriegsziel die Entwaffnung der aggressiven Staaten, wobei die "endgültige Vernichtung der nationalsozialistischen Tyrannei" absolute Priorität erhielt – die japanische Eroberung und Ausbeutung Chinas seit 1937 war dagegen kein Thema. In acht zentralen Punkten schrieb die Charta fest:
  • Verzicht auf Gebietsgewinne
  • Territoriale Veränderungen nur im Einverständnis
  • Selbstbestimmungsrecht für alle Völker
  • Beteiligung sämtlicher Staaten am Welthandel
  • Internationale Zusammenarbeit
  • Freiheit von Furcht und Not
  • Freiheit der Meere
  • Verzicht auf Waffengewalt
Unmittelbar danach gestatteten Churchill und Roosevelt Stalin die Besetzung der Provinzen Kurdistan und Aserbaidschan, während sich Großbritannien und die USA der ölreichen Provinzen im Süden und Osten Irans bemächtigten. Das war im August 1941, als die Tinte auf dem Papier der Atlantik-Charta noch nicht trocken war. Kant hätte an der UN-Charta sicherlich seine Freude gehabt. Er hat mit aller Schärfe gesehen, dass die Menschen auf einer immer stärker kultivierten Erde einer verbindenden Rechtsordnung bedürfen. Am Ende muss es zu einer Überwindung des von Kriegen bestimmten "Naturzustandes" zwischen den Völkern und zur Gründung einer föderalen Gemeinschaft, eines "Völkerbundes" kommen. (1)

Der Völkerbund nach dem ersten Weltkrieg scheiterte, da die Siegerstaaten darüber entschieden, wer dazu gehören durfte. Die USA traten erst gar nicht bei, da ihnen eine dominierende Rolle verwehrt war. Im Zweiten Weltkrieg wurde dann die Idee der Vereinten Nationen weiter entwickelt, sie ist jedoch weitgehend vom damaligen Krieg gegen Deutschland und Japan beherrscht. Die Gründungskonferenz der Vereinten Nationen fand noch vor Kriegsende am 25. April 1945 im Opernhaus von San Francisco statt. In der Einladung war das Ziel der zu schaffenden Organisation fest umrissen: "Aufrechterhaltung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" (2). Aus den Fehlern des Völkerbundes wurden aber kaum Lehren gezogen. Wieder war keine gleichberechtigte Staatengemeinschaft geplant. Wieder hatten die Sieger ihre grundsätzliche Vorherrschaft abgesichert. 1945 bestand die UN aus 51 Staaten, heute sind es 194, und trotzdem hat sich die Zusammensetzung des Sicherheitsrates kaum verändert. Obwohl sich die globalen Verhältnisse seit Gründung der Vereinten Nationen vor 74 Jahren dramatisch verändert haben, ist die Grundstruktur des Sicherheitsrates in den Denkmustern von 1945 erstarrt.

Schnell verflog der Traum vom Frieden, und Misstrauen breitete sich aus. Die Unfähigkeit oder vielleicht sogar der Unwille zur nachhaltigen Konfliktlösung forderte Millionen von Opfern in Kriegen und bewaffneten innerstaatlichen Konflikten. Mit Erstaunen erlebte die Welt das Horror-Regime von Pol Pot, der nach seiner Vertreibung dank den USA und der Bundesrepublik Deutschland weiterhin Sitz und Stimme in den Vereinten Nationen hatte.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges begann die vorsichtige Transformation der NATO. Schon im ersten Amtsjahr legte Bill Clinton 1993 in einem Regierungsdokument mit dem bezeichnenden Titel "Mit den Vereinten Nationen wenn möglich, ohne sie wenn notwendig" fest, wie die USA künftig mit den UN umgehen wollten: "Die NATO soll die Entscheidungskriterien für die UN festlegen und nicht umgekehrt." (3)

Besonders irritierend ist es - das sagt auch Professor Hans Köchler - dass ein Militärbündnis, das Militärbündnis eines ganz bestimmten Machtblocks, mehr oder weniger als Exekutivorgan der Vereinten Nationen auftritt. Die NATO vertritt die Partikularinteressen der USA und ihrer Verbündeten, und die NATO ist von ihrem Gründungsdokument her, von ihrem Statut her ein Verteidigungspakt, dessen Zielsetzung sich auf die gegenseitige Hilfe im Fall eines Angriffs auf ein Mitgliedsland bezieht. Die NATO hat überhaupt keine Berechtigung, in Gebieten außerhalb, «out of area», also in Staaten, die nicht zu ihrem Vertragsgebiet gehören, zu intervenieren. Aber Tatsache ist, dass die NATO jetzt mehr oder weniger als militärisches Instrument der einzigen universalen Staatenorganisation, nämlich der Vereinten Nationen, auftritt. Auch das ist für Prof. Köchler eine völlige Pervertierung der Konzeption. (4)

Bis heute steht die UN als wenig demokratisches Konstrukt in der Kritik. (5) Für die USA sollten die Vereinten Nationen offensichtlich das Vehikel werden, mit dem sie ihre außenpolitischen Aktivitäten vorteilhaft voranbringen konnten. Für den Literaturnobelpreisträger Harold Pinter hatten die USA schon vor dem Irak-Krieg ihr Interesse am "low intensity conflict" verloren: „Sie scheren sich einen Dreck um die Vereinten Nationen, das Völkerrecht oder kritischen Dissens, den sie als machtlos und irrelevant betrachten." (6) Pinter zufolge definiert sich die offiziell verlautbarte Politik nun als "full spectrum dominance", wobei der Begriff die Kontrolle über Land, Meer, Luft und Weltraum sowie alle zugehörigen Ressourcen bedeutet. Die von Pinter angesprochene "full spectrum dominance" wird auch mit der Zahl der weltweiten US-Stützpunkte deutlich: in mindestens 42 Ländern dieser Welt sind US-Truppen stationiert, (7) wobei sich die TOP-TEN um das eurasische Herzland gruppieren. Ein ausuferndes globales Netzwerk als permanente Drohgebärde.

Am 21. September 2011 eröffnete zum ersten Mal eine Frau die UN-Vollversammlung in New York. Die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff. Sie forderte Demokratie und Gleichheit in der Welt. Frau Rousseff rief die UN auf, Repressionen gegen Zivilisten zu verhindern und im Einsatz von Militär nur die letzte Option zu sehen. Dann warb sie für eine konkrete Reform des Sicherheitsrates. Ich zitiere: “Die Forderung wird immer dringlicher. Die Welt braucht einen Rat, welcher die zeitgenössische Realität widerspiegelt.“ Frau Rousseff forderte also eine ständige Mitgliedschaft für Brasilien und verwies auf über 140 Jahre Frieden mit den Nachbarn und wachsenden Wohlstand in der Region. Das Schicksal von Frau Rousseff ist Ihnen sicherlich bekannt.

Die UN wie der ehemalige Völkerbund sind Kinder des Krieges. Heute ist die "Stimmung im Sicherheitsrat so schlecht wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Es gibt dort eine tiefe Spaltung. Das behindert natürlich die Arbeit des Sicherheitsrats, nicht nur in der Syrienkrise, sondern ganz generell. Weil es kein Vertrauen gibt", heißt es in einem Beitrag des Deutschlandradios vom 24. September 2012.

Ramsey Clark, der heutige Friedensaktivist und ehemalige stellvertretende Justizminister unter John F. Kennedy und Justizminister unter Lyndon B. Johnson, ausgezeichnet mit dem Gandhi Peace Award, mahnte bisher vergeblich UN-Reformen an, die auf ein weltweit gültiges Recht, auf demokratische Macht, Lauterkeit in der Regierungstätigkeit und den Weltfrieden abzielen.

So muss ich leider sagen, dass ich nicht nur den UN-Sicherheitsrat, sondern auch die bestehenden UN-Organisationen aufgrund ihrer Verflechtung mit den Interessen der USA für nicht mehr reformierbar halte. Sollten wir nicht endlich eine Völkergemeinschaft aus der Taufe heben, die aus dem Frieden entstanden ist und der die Menschen vertrauen können? Schon Kant hat vor einer Weltregierung gewarnt und auf die Notwendigkeit unabhängiger Staaten für den Weltfrieden hingewiesen, da es das Verlangen jeden Staats ist, „auf diese Art sich in den dauernden Friedenszustand zu versetzen, dass er, wo möglich, die ganze Welt beherrscht.“ (8)

In einem Artikel der Zeitung „Die Welt“ resümiert Professor Volker Gerhardt Kants eindringliche Warnung vor einer Weltregierung: „So groß der Machtimpuls in allen politischen Aktivitäten auch immer sein mag: Wenn sie nicht auf die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit gegründet sind, lassen sie sich weder im einzelnen Staat noch in einer Gemeinschaft der Völker begründen. (9)


Fußnoten:

1 Volker Gerhardt: Die Philosophie von Krieg und Frieden vom 30. 11. 2001 unter https://www.welt.de/print-welt/article490098/Die-Philosophie-von-Krieg-und-Frieden.html (aufgerufen 24.8.2019)

2 James Bamford, James: NSA. Die Anatomie des mächtigsten Geheimdienstes der Welt. München 2001, S. 29 ff.

3 Karin Führ/Jo Angerer: Die wahren NATO-Kriegsziele im Kosovo, Monitor Nr. 449 vom 22. April 1999, im Netz unter http://archiv.nostate.net/gib.squat.net/texte/monitor-220499.html; Zugriff am 7. April 2013

4 Hans Köchler: Schweizer Vorträge, Texte zu Völkerrecht und Weltordnung, Zürich 2019, S. 21

5 Vgl. Zeit-Fragen Nr. 72a vom 2. Oktober 2000

6 Harold Pinter: "Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in Schach", Nobelvorlesung: Kunst, Wahrheit & Politik, 2005, S.8 unter www.agfriedensforschung.de/themen/Friedenspreise/nobel-lit-pinter.html; Zugriff am 14. April 2013

7 Militärstützpunkte der USA 2017 unter https://www.siper.ch/frieden/infografiken/; vgl. Jakob Reimann „Die USA haben in 172 von 194 Ländern dieser Welt 240.000 Soldaten stationiert unter http://justicenow.de/2017-10-27/das-us-empire-haelt-soldaten-in-172-laendern-dieser-welt/

8 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, 3. Definitivartikel. 1. Zusatz

9 Volker Gerhardt: Die Philosophie von Krieg und Frieden vom 30. 11. 2001 unter
https://www.welt.de/print-welt/article490098/Die-Philosophie-von-Krieg-und-Frieden.html (aufgerufen 24.8.2019)


Rede, gehalten beim Kongress "Mut zur Ethik" am 31. August und 1. September 2019 in Sirnach/Schweiz


Online-Flyer Nr. 717  vom 04.09.2019



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