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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Kultur und Wissen
Eine Kollage-artige Reflexion wider die Besetzung durch Sozialdemokratisierung, National-Sozialisierung und Patriarchat
Kritik der Kritik der Migration
Von Beate Brockmann

Im Gegensatz zu den Wanderungsbewegungen der Antike ist die globale Wanderungsbewegung in der Moderne von der weltweiten, zum Teil auch zeitlich ungleich verlaufenden Entwicklung der Produktivkräfte beeinflusst. In der Antike erzwang der Mangel an Produktivkraft, z.B. die Unkenntnis der Gesetze der Naturwissenschaften mit den Konsequenzen, dass materielle Engpässe, Hunger und Krankheiten nicht zu vermeiden waren, die Auswanderung von Überflüssigen. Seit Beginn der Industrialisierung stellt sich die Situation zunehmend umgekehrt dar: Die Zunahme der Produktivkräfte und ihre Anwendung in der Profit- und Konkurrenz-orientierten materiellen Produktion führte zu Mechanisierung, Rationalisierung, Automatisierung, kurz gesagt, zu einer Verringerung der notwendigen menschlichen Arbeitsleistungen bei gleichzeitigem Bevölkerungszuwachs bedingt durch bessere medizinische und hygienische Versorgung. Durch die Steigerung der Produktivkräfte, mit deren Hilfe das menschliche Dasein eigentlich verträglicher gestaltet werden könnte, wenn sie denn in eine sozialistische und nicht-militaristische Produktionsweise eingebunden wären, wird statt dessen unter den heutigen international verknüpften Produktionsverhältnissen unter dem Diktat des Kapitals ein Heer von Überflüssigen erzeugt, die - nach Arbeit suchend - durch die Welt wandern müssen. Der hohe Stand der Produktivkräfte hat Auswirkungen auf den militärisch-industriellen Komplex, der - hoch technisiert und digitalisiert - seine Renditen am effektivsten in Kriegen realisiert. Doch auch sog. friedliche global agierende Industrie- und Finanzzweige haben Bedarf an Rohstoffen und Anlagemöglichkeiten, deren Befriedigung nur gewalttätig gesättigt werden kann. Durch existentiell unsichere Bedingungen fühlen sich Menschen wie eh und je -und darin unterscheidet sich die Moderne nicht von der Antike- zur Flucht und in die Emigration getrieben.

Im Folgenden werde ich Kollage-artig in 10 Punkten einige Überlegungen anstellen, die meiner Meinung nach substanziell zur Deutung des Komplexes "Migration – menschliche Wanderungsbewegung" gehören, und, so hoffe ich, eine fruchtbare Debatte anzustiften. Ich beziehe mich nur indirekt auf den Disput, der unter einigen sog. linken Politikern und Autoren im deutschen Sprachraum ausgetragen wird. Ich gehe auch nicht im Konkreten auf die als Kritik an der sog. Willkommenskultur getarnten Seitenhiebe ein, die – wem auch immer geltend – Vorwürfe beinhalten, rechtslastig zu sein. Bevor wir sog. Linke, Sozialisten, Kommunisten überhaupt das ganze thematische Feld der Migration gründlich und mit wissenschaftlicher Methodik, auch unter Einschluss des Denkens von Marx und Engels, diskutiert haben, halte ich es für fragwürdig, zu polemisieren.

1.

Stellt Migration wirklich eine Gefahr dar für Deutschland und die dort wohnenden Deutschen? Gibt es überhaupt eine Bedrohung durch Migranten und offene Grenzen? Im Vergleich mit den anderen Aufnahmeländern von Flüchtlingen weltweit nimmt das reiche Deutschland -bezogen auf die jeweiligen Einwohnerzahlen- erschreckend wenige Migranten auf. Die unter einigen deutschen sog. Linken geführte Kritik an Migration, mit der sie ihre politische Handlungsorientierung nach geschlosseneren Grenzen begründen, sitzt offensichtlich einer medial verbreiteten Desinformation auf.

Nach bewährter Methode frage ich: Wem nützt das? Auf jeden Fall dem ordo(neo)-liberal herrschendem globalen Weltordnungssystem, das einerseits entsprechend dem hohen Stand der Produktivkräfte Spezialisten ausbildet, andererseits Massen von Arbeitswilligen als Überflüssige entlässt, und in dem Deutschland einen Platz an der Sonne belegt, ihn mit allen Mitteln absichert und mit Aufrüstung und Wünschen nach der Atombombe vervollkommnet. Ausgewählte Fachkräfte aus fernen Ländern werden von den deutschen Oligarchen der Autoindustrie und mittelständischen Betrieben gebraucht, doch für die Überflüssigen sollen deutsche Grenzen dicht sein.

Wenn jetzt erleichtert festgestellt wird, dass gar nicht mehr so viele Migranten kommen? Ruhen WIR uns mit gutem Gewissen aus und blenden aus, wo und wie die Migranten tatsächlich, und zwar unter verheerendsten, unmenschlichsten Bedingungen, vor unseren Grenzen festgehalten werden oder im Mittelmeer ertrinken, damit sie UNS nicht behelligen? Ich merke an, dass Deutsche bis heute Weltmeister sind im Verleugnen von Verbrechen, die sie außerhalb ihrer subjektiven Wirklichkeitswahrnehmung begangen haben. Verdrängen WIR schon wieder Verbrechen, an deren Ausübung WIR direkt oder indirekt beteiligt sind?

2.

Ich bin selbst eine Migrantin. 2000 von Hamburg nach London/UK umgezogen mit meinem Mann, der dort eine gute ärztliche Stelle im "National Health Service" antreten konnte. Mit uns waren zu der Zeit mehr Menschen – aus unterschiedlichsten Gründen – aus Deutschland ausgewandert als nach Deutschland eingewandert. Wir selbst waren nicht aus Not ausgewandert, sondern weil wir es konnten, Spaß daran hatten und in Großbritannien gebraucht wurden, wo nicht so viele medizinische Spezialisten ausgebildet werden. Jetzt mit unserer Berentung, deren Auszahlungsbetrag aus Großbritannien -gemessen an gleicher Arbeitszeit mit gleicher Qualifikation- deutlich höher ausfällt als der Betrag aus Deutschland, sind wir nach Italien emigriert, wo wir peu a' peu ein baufälliges Wohnhaus instand setzen, brachliegende Olivenfelder urbar machen und uns willkommen fühlen, denn aus Italien wandern auch heute immer noch mehr Menschen aus als ein.

3.

Meine Kindheitserinnerungen der frühen 50er Jahre -Nachkriegszeit- in Hamburg umfassen nicht nur die Trümmerberge, sondern auch die riesigen Nissenhüttenlager der Flüchtlinge, deren Einquartierungen in Schrebergartenlauben, Dachböden, Kellern und in Etagen von großzügigeren Villen, deren Trosse mit Sack und Pack in den Ruinen, deren Kinder, die mit mir in eine Schulklasse gingen und nicht den Hamburger Dialekt sprachen. Meine Familie konnte bis Anfang der 60er Jahre ihr Wochenendhäuschen im Heide-Umland von Hamburg nicht benutzen, weil es für eine Flüchtlingsfamilie beschlagnahmt war. Meine sehr jungen Eltern wohnten mit mir und meinen beiden jüngeren Geschwistern in zwei Zimmern mit Glasveranda und Gartennutzung zum Wäscheaufhängen und – welch Luxus – einer Wassertoilette, die mit den anderen Bewohnern des überfüllten Einfamilienhauses geteilt werden musste. Bei der Oma in ihrem kleinen Siedlungshaus am Stadtrand fanden bis Mitte der 50er Jahre die ausgebombten Verwandten Unterkunft und für alle gab es draußen bloß ein Plumpsklo zu nutzen.

4.

Auch Karl Marx war ein Migrant, als Staatsfeind rausgeschmissen aus Deutschland, später aus Frankreich und aus Belgien. Das "Britisch Empire" fühlte sich so mächtig, dass es ihm mit seiner ganzen Familie dauernden Aufenthalt bis zum Tode in London gestattete, wo bis heute deren Grabstätte in Highgate gepflegt und wo im "British Museum" bis heute Marx' Arbeitsplatz in der "Library", an dem er u.a. "Das Kapital" schrieb, in Ehren gehalten wird. Friedrich Engels war auch mit einem Bein in England verwurzelt. Wie sich die beiden Klassiker gegenseitig in ihren Erkenntnissen befruchteten, wissen wir aus ihren Werken: Hat dabei möglicherweise das Leben fern der deutschen Heimat eine bereichernde Wirkung ausgeübt?

5.

Frauen – vor allem Weiße im "Westen" – fühlen sich heutzutage emanzipiert. Sie ernten die Früchte ihrer unter grausamen Bedingungen erkämpften Gleichstellung in sog. parlamentarischen Demokratien: Als die sich entwickelnde Industrie im 18./19. Jahrhundert massenweise Arbeitskräfte vom Land in die Städte lockte und eine Arbeiterklasse entstand, wurden auch die Frauen und Kinder als Lohndrücker und Reservearmee gebraucht und zum Auswandern in die Fabriken getrieben. Erst als sich die Militärs über die verschlissenen Kinderarbeiter beschwerten, die zum Kriegseinsatz nicht zu verwerten wären, griff der Staat ein und leitete per Gesetz das Verbot von Kinderarbeit ein.

Doch Frauen fungieren weiterhin bis heute als Lohndrücker und Reservearmee, meist bleibt ihnen keine Wahl. Sie müssen -in der Regel nicht bei gleichem Lohn für gleiche Arbeit- ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, um ihre persönliche Existenz zu sichern und ihre soziale Teilhabe in der Gesellschaft zu verdeutlichen. Denn die Aufgabenerledigung in Haushalt, Familie und bei Mutterschaft -kurz gesagt: die Reproduktionsarbeit- stellt sich nicht mehr als zeitaufwendig und erfüllend dar, nicht zuletzt weil technische Hilfsmittel wie z.B. eine Waschmaschine die weibliche Arbeit entlasten. Außerdem empfinden Mütter die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung von unbezahlter sorgender Arbeit als diskriminierend und fühlen sich von den gesellschaftlich erbrachten Wirtschaftsleistungen ausgeschlossen. Weil Frauen immer noch den Hauptteil der Reproduktionsarbeit leisten, stellt sich ihre Berufstätigkeit oft als eine Tätigkeit dar, die sie "nebenbei" erledigen müssen. Also gehen sie "Teilzeit" oder "flexibel" arbeiten. Unabhängig von ihrer Qualifikation und ihrer Absicht machen Frauen den männlichen Arbeitskräften Konkurrenz, deren Löhne nicht ausreichen, eine Familie standesgemäß zu ernähren. Schutzbestimmungen für Schwangere und Mütter wurden nicht nur von der Arbeiterschaft erkämpft, sondern auch herablassend gewährt, um geburtenstarke Jahrgänge zu gewährleisten, die frische Arbeitskräfte für Produktion und Militär versprachen.

Auch wenn in den Zeitläuften immer wieder von diversen – männlichen wie weiblichen – Interessengruppen die Meinung vertreten wurde, Frauenarbeit generell zu verbieten, würde das Recht von Frauen auf Arbeit heute niemand mehr infrage stellen. Dass Frauen sich inzwischen weltweit als Soldatinnen verdingen und dies von der Öffentlichkeit selbstverständlich als Gleichberechtigung beurteilt wird, zeigt mir, wie raffiniert patriarchalische Verhältnisse die Befreiungskämpfe der Frauen gegen sie selbst zu richten vermögen. Fortschritt vollzieht sich offensichtlich im Zickzack von Widersprüchen.

Wenn sich nun einige sog. linke Autoren und Politiker für eine kontrollierte Eindämmung des Migrantenstroms aussprechen mit dem Argument, Migranten seien als Lohndrücker und Reservearmee nur für das Kapital von Nutzen und deswegen für die einheimische, gemeint ist: die deutsche Arbeiterschaft bedrohlich, so haben sie nichts aus der wechselvollen Geschichte der Frauenbewegung gelernt, d.h. sie nehmen die Erkenntnisse der historisch-materialistischen Dialektik nicht in ihre praktischen Schlussfolgerungen auf.

6.

Die Nation ist historisch im Zuge und im Interesse des Kapitals und – damit automatisch – der entfremdeten Arbeit entstanden. Nationen waren eine Notwendigkeit für die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse weltweit. Das belegen die ein Jahr lang dauernden Verhandlungen auf dem sog. Wiener Kongress, auf dem die feudalen Mächte zäh die Erhaltung ihrer Reiche verteidigten, bis sie dann in den 48er Revolutionen als feudale Klasse vom Bürgertum in die Schranken verwiesen wurden. Das zeigt sich auch daran, dass Kolonialisten schnurgerade Grenzstriche in den Wüstensand gezogen haben, um eine Nation in ihrem imperialistischen Interesse in Afrika oder Vorderasien zu gründen – rücksichtslos gegenüber den sprachlichen, kulturellen und ethnischen Gegebenheiten unter den von diesem Gewaltakt betroffenen Einwohnern. Zur Strafe rächt sich heute, dass damals ein Feuer entfacht wurde, denn es zündelt unterschwellig weiter wie im Nahost, der von den Imperialisten auch durch Kriege nicht in den Griff zu kriegen ist.

Sowohl für die Bourgeoisie wie für die Arbeiterschaft bedeutete Nation die Befreiung von feudalen Fesseln, aber diese Freisetzung musste die Arbeiterschaft mit elendigen Schicksalen bezahlen. Nation bzw. Nationalstaat bedeutet keinen Wert an sich. Die deutsche Arbeiterklasse kämpfte erfolglos für einen demokratischen Staat, sie musste sich mit etwas Zuckerbrot und viel Peitsche und militaristischen Regierungen begnügen. Wenn jetzt von einigen sog. linken Autoren und Politikern die Nation als "wertvolles Gut", das es zu verteidigen gäbe, angerufen wird, möchte ich daran erinnern, dass die Sozialdemokratie im 1. Weltkrieg die deutsche Nation verraten hat, indem sie für den Krieg gegen internationale Solidarität gestimmt und sich unter dem Mantel des Kaisers als ein Volk eingerichtet hatte. Damit hat die Sozialdemokratie die Chancen, welche die Errungenschaft einer einheitlichen staatlichen Nation gegenüber klerikal-adlig-junkerlicher Kleinstaaterei für die Arbeiterklasse durchaus bietet, vertan. Traurigerweise setzte sich die deutsche Geschichte in diesem reaktionären Sinne fort und hinterließ offene oder schlecht vernarbte Wunden, mit denen wir uns bis heute herumschlagen. Dazu gehört auch das Desaster der sog. deutschen Wiedervereinigung mit blühendem Antikommunismus statt blühenden Landschaften.

Dass eine Nation die Bühne bieten sollte für Klassenkämpfe, die an die Wurzel des Übels greifen, wird beim Thema Migration von einigen sog. linken Autoren und Politikern nicht einmal erwogen, stattdessen Furcht vor offenen Grenzen geschürt - klingt für mich nach altbekanntem sozialdemokratischem Muster. Wer sich dem Klassenkampf global nicht stellen mag, d.h. den sozialen Kampf nicht leben will, kann die sog. soziale Frage bloß aus der Balkonloge herablassend ausrichten, um wenigstens der AfD die Show zu stehlen. Statt (sich selbst und) der Arbeiterschaft die Wahrheit zu sagen über die deutschen militarisierten Verhältnisse, den deutsch-europäischen Imperialismus, der außerhalb unserer Grenzen wütet, und die deutsche devote Unterordnung unter das aggressive US-Regime, wird das Märchen vom guten Sozialstaat aufgelegt, der wieder erweckt werden soll. Statt die deutsche und die eingewanderte Arbeiterschaft zum gemeinsamen Klassenkampf aufzurufen, zu organisieren und in internationaler Solidarität einzuüben, sollen nur die deutschen Arbeiterrechte geschützt werden, als ob es bloß um Sozialarbeit und nicht um handfeste Politik ginge. Beispielsweise einen Streik, d.h. Verweigerung des Faktors: Arbeit, zu entfesseln, wäre wirkmächtig, natürlich auch riskant und möglicherweise mit dramatischen Folgen. Klassenkampf tut weh, das lässt sich nicht vermeiden! Die Sozialdemokratie zeichnet sich -in ihrer Tradition verhaftet- jedoch darin aus, zugespitzten Klassenkampf aus ängstlichem Gutmenschentum und Opportunismus gar nicht erst aufkommen zu lassen bzw. bei der kleinsten Glut sofort zu ersticken. Sogar theoretisch – auf dem Blatt Papier gedruckt – vermeidet sie jeden Anschein von Klassenkampf.

7.

Der Tourismus ist auch eine Wanderungsbewegung. Die Zahl der Touristenströme geht weltweit pro Jahr in die Milliarden. Die meisten Touristen sind sog. Westler aus den Kernländern (US-Amerikaner, Japaner, Deutsche), die sog. westliche Länder für ihre Ferien bevorzugen (beliebte Reiseziele USA, Spanien, Schweiz). Doch Massen von Touristen zieht es auch in den Süden, oft ist für einfache Arbeiter ein Urlaub im Süden (z.B. Thailand) erschwinglicher als in einem der teuren westlichen Länder wie z.B. in Italien. Ironischerweise machen viele sog. nordische Westler Urlaub in den sog. Herkunftsländern der Flüchtlinge. Von winzigen Ausnahmen abgesehen kann sich ein Bewohner der südlichen Halbkugel weltweit keinen Urlaub leisten, abgesehen davon würde seine Reise an mangelnder Genehmigung eines Besuchervisums für den Ferienaufenthalt in einem sog. westlichen Land scheitern. (Sonst könnten die Flüchtlinge ja ungeniert mit Touristen-Visa bei UNS einreisen.) Erst seit jüngster Zeit verschiebt sich die Gewichtung durch zunehmende Touristen aus China und Russland.

Das Monopol des Tourismus, und damit auch seines Profits, gehört westlichen Eigentümern und deren Vasallen (die meisten aus USA, dann Deutschland, Frankreich, UK, Kuwait, Saudi-Arabien): die Hotelketten, die Fluggesellschaften, die Kreuzfahrtschiffe, die Infrastruktur in den Urlaubsländern (z.B. die Häfen in Griechenland). Wie eine Heuschreckenplage verunstalten Touristenströme die Regionen, Städte, Geografien, bewirken die Erhöhung der Wohnungspreise und allgemein die Verteuerung das Alltagslebens, beeinflussen die Lebensweisen der Ansässigen, zerstören deren Gewohnheiten und Gemeinschaften: so dürfen einige ihre Arbeitskraft in der Tourismusindustrie verkaufen und sich dadurch vor Arbeitslosigkeit retten, andere verlieren ihren beruflichen Stand, weil er nicht mehr gebraucht wird, und sind möglicherweise zur Emigration gezwungen.

Bringen Touristen auch Positives in die letzten Winkel der Erde: Anregendes, einen Austausch der Kulturen z.B.? Ich erinnere, als in Kuba die wirtschaftlichen Vorteile der Wiederbelebung von Tourismus diskutiert wurden, wie sich Fidel Castro skeptisch äußerte, doch die Einführung von Tourismus letztendlich gewagt wurde. Bis heute meistern die Kubaner die Konsequenzen, versuchen, sich als würdige und stolze Gastgeber zu präsentieren und profitieren von den Einnahmen durch die Touristen.
 
Eine Besonderheit der Wanderungsbewegung von Urlaubern stellt der Erwerb von Ferienhäusern dar. Verbreitet unter den betuchten Schichten Westeuropas besitzt MAN ein Haus in den attraktiven südlichen Regionen. Die ausländischen Besitzer der Ferienhäuser überschichten sozial gesehen die meist ländliche Bevölkerung, die Preise ihrer Immobilien treiben die Preise für das Wohnen der Einheimischen in die Höhe, deren Sitten und Gebräuche werden bedrängt, ausgehöhlt, oft schlicht kommerzialisiert (z.B. die traditionellen Dorffeste). Meist werden die Ferienhäuser zusätzlich vermietet, doch selten Steuern an das Gastland abgeführt. Dank der Zugezogenen möge ein kleiner Kaufladen überleben, ein neues Restaurant eröffnen, ein zur Ruine verfallenes Wohnhaus wieder aufgebaut werden, aber die Ferienhausbesitzer bringen auch Güter wie Haushaltsgeräte, Möbel, Gartenutensilien, Brennholz, ein zweites Auto für vor Ort verbleibend, sogar ihre Handwerker und Maurer für die Restaurierung ihres Ferienhauses aus ihrem Herkunftsland (z.B. von Deutschland nach Italien) mit, obwohl all das auch in ihrem Gastland zu beschaffen wäre oder überflüssig ist wie ein Zweitwagen. Die ausländischen Hauseigentümer bilden somit eine Parallelgesellschaft, ohne deren Anwesenheit würden jedoch südliche Landstriche verlassen, menschenleer und von der Natur zurückgeholt -zugewuchert von üppigem Buschwerk- da liegen, weil in gewissen Landstrichen kein Mensch mehr – weder auf althergebrachter, noch moderner Weise – sein Auskommen sichern kann. Die Assoziation: "Siedlerkolonialismus" passt allerdings nicht zur Beschreibung der Ferienhauskultur, denn diese kommt im Unterschied zum historischen Siedlerkolonialismus ohne Vertreibung, Vernutzung oder Vernichtung der Urbevölkerung aus, schließlich passiert sie zeitlich an Orten, in denen sowieso schon - aus den bis dorthin wirkenden kapitalistisch-neoliberal-globalen Umständen - außer wenigen übrig gebliebenen Alten keine Jungen mehr ansässig sind.

8.

Der Jazz kam in Ketten nach Amerika und dann als subversive Musik auch nach Westeuropa! Von den schwarzen Sklaven: eingefangen in Afrika, in Ketten gelegt, auf Schiffen rübertransportiert und den weißen Plantagen- oder Bergwerks-Besitzern als Arbeitstiere verkauft. Auf dem Kontinent Amerika bestimmen heute nicht allein die – durch die europäischen Einwanderer brutal dezimierten – indigenen Urvölker das oppositionelle gesellschaftliche Geschehen, auch eine hohe Anzahl Schwarzer, nämlich die Nachkommen der zwangsweise aus Afrika Deportierten, spielen eine entscheidende Rolle in den Auseinandersetzungen um die Gestaltung von "Gesellschaft" in Amerika - mit internationaler Wirkmächtigkeit: Ich erinnere Anfang der 70er Jahre, welchen Schwung die internationale Solidarität mit Angela Davies in die außerparlamentarische und die sozialistische Bewegung der BRD brachte.

9.


Die Kartoffel, ein wesentliches Grundnahrungsmittel von der deutschen Küche nicht wegzudenken, kommt aus Amerika. Als Ergebnis kolonialer Eroberungen konnte man die Kartoffeln dennoch nicht mehr in den – bis in die 50er Jahre vorhandenen – Kolonialwarenläden einkaufen, sondern beim Gemüsemann: Die Kartoffel war mythisch deutsch geworden. In den Kolonialwarenläden wurden nunmehr exotisches Obst wie Apfelsinen und Bananen und unheimliche Gewürze wie Knoblauch angeboten. Die Tomate gehört zu Italien wie die Spaghetti, doch ist die Tomate ursprünglich auch das Ergebnis kolonialer Einfuhren. Heute verlaufen globale Modetrends von der Toscana über New York, Hollywood zurück nach Westeuropa, wo die Kartoffel unter Gourmets inzwischen "out" ist und die sich weiterhin großer Beliebtheit erfreuende Tomate ironischerweise hauptsächlich aus chinesischem Anbau stammt. "Man" genießt mediterrane Diät, während unzählige Menschen auf unserer Erde keinen Zugang zu sauberem Wasser geschweige denn hygienischen Wassertoiletten besitzen.

So wie einstmals die Kartoffel und die Tomate auf die europäischen Küchentische zum Kochen wanderten, so wandern heute Menschen aus dem Süden in den Norden zur Verwertung ihrer Arbeitskraft, und weil die Überlebensbedingungen in ihrer Heimat weder zum Leben noch zum Sterben taugen. Die Lösung gelingt nicht moralischen Forderungen, der Ausweg ist: Umsturz von unten nach oben hüben wie drüben, vorstellbar wie Schockwellen, die rund um die Erde rollen, wenn Arbeitskräfte sich besinnen, dass sie Menschen sind. Vielleicht startet die Revolution in US-Amerika, wo alles begann und die Produktivkräfte hoch entwickelt sind, ganz bestimmt nicht als gewaltfreier gemütlicher Sonntagsspaziergang, so wie auch die Illusion des goldenen Westen ein gewalttätiges imperialistisches Unternehmen war. Die Tomate hat schon ein halbes Stück des Weges geschafft, wächst schon in einem Land, das sich aus kolonialer und Dollar-wirtschaftlicher Abhängigkeit befreit hat, nachvollziehbar, dass dies Land – China – vom Norden und Westeuropa bedroht und mit Sanktionen beschwert wird. Und in Russland hat sich der italienische Speiseplan mit viel Tomate durchgesetzt nicht zuletzt durch die Ansiedelung von "Chef", Köchen, die in ihrer Heimat Italien keine Arbeit in einer Großküche fanden. Die beste Pizza Margherita habe ich in der Millionenstadt Moskau, den wundervollsten Tomate-Auberginenauflauf mit Mozzarella in Novorissirks am Schwarzen Meer genossen.
 
10.

Die ursprüngliche Akkumulation zur Gewinnung von einsatzbereitem Kapital zur Entwicklung der Produktivkräfte und die menschliche Erzeugung von Mehrwert in Fabriken gelang u.a. dank der geraubten Reichtümer und Bodenschätze aus den Kolonien und der entfremdeten Arbeit in den Herrschaftsgebieten der Imperien -in Übersee und im Heimatstandort, verbunden mit innerörtlichen und überörtlichen, die Meere durchkreuzenden Wanderungsbewegungen der Freien, ihre Arbeitskraft Verkaufenden gemäß Angebot und Nachfrage. Als Beispiele verweise ich auf die Industrialisierung des Ruhrgebiets mit Hilfe polnischer Immigranten, auf das „British Empire“ und das Kolonialreich der Niederlande, die mit Hilfe protestantischer Prinzipien, der Erfindung der Dampfmaschine und erbärmlicher Fabrikarbeit den Kapitalismus als Gesellschaftsstruktur gebaren, und auf die privaten Aneignungen und die Ausbeutung durch Industrie- und Handelsmonopole wie der Reederei Hamburg-Süd und dem Bremer Kaffee-Clan unter dem Protektorat des deutschen Kaisers.

Kapital und Arbeit haben sich wie ein Paar von Anfang an im globalen Zusammenhang als abenteuerliche Modernisierer ohne Moral entwickelt und sich mit bluttriefenden Methoden in die verkrusteten, verarmten, verklemmten, von leibeigener Abhängigkeit dominierten Klassenverhältnisse geschoben. Von nun an wird der Klassenkampf international hauptsächlich zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie geführt. Kapitalismus bedeutet Konkurrenz-System und ein hohes Maß an Arbeitsteilung, das bereitet den beiden Hauptklassen -Arbeiterschaft und Bürgertum- viel Kopfschmerzen in ihren Strategien. Die heutige Realität zeichnet sich aus durch die global agierende Macht des Finanz- und Rüstungskapitals getragen von einem international verflochtenem Oligarchentum mit Oberhoheit über die Massenmedien, welche in ihrer Funktion der mittelalterlichen Kirche vergleichbar sind. Diesem Herrschaftsgeflecht steht die Mehrheit aller Personen dieser Erde -abgestreift von ihrem Menschendasein, entfremdet, als Ware behandelt und wie Wegwerf-Dinge vegetierend- als nackte potentielle Arbeitskräfte ohne eigene Besitztümer gegenüber. Unsere heutige Wirklichkeit ähnelt den vergangenen feudalen Strukturen - nur gepresst in einen internationalen kapitalistischen Rahmen. Doch das kalte unfreundliche Profitsystem, das technische Höhen erklimmen, die Produktivität bis zum Überfluss ins Verschwenderische steigern lässt und die Notwendigkeit der Vergesellschaftung der Ökonomie vorantreibt, schafft – wenn es politisch eingebettet ist in eine polyzentristische Weltordnung – gleichzeitig zum ersten Mal in der Geschichte des Gattungswesen Mensch die Voraussetzung, mit einer sozialistischen Produktionsweise fortzufahren - wahrscheinlich nicht an jeder Ecke der Erde zeitgleich begonnen oder vollendet.

Zusammengefasst möchte ich behaupten: Wir befinden uns mit dem Thema Migration in einem DILEMMA, also mitten im LEBEN.


Wer mechanisch die Frage stellt: "wer profitiert und wer verliert" und die entsprechenden Schlüsse gegen Immigranten zieht, der versucht, die Widersprüche nach einer Seite hin aufzulösen, und er geht mit dieser Methode am Leben vorbei, d.h. handelt dumm. Wer stur wie ein Buchhalter nur nach den positiven und negativen Seiten eines Spannungsverhältnisses, welches die weltumspannende Migration definitiv darstellt, fragt, wird nicht in der Lage sein, das gesamte Spektrum von Wanderungsbewegungen zu beleuchten und auf deren Wechselwirkungen mit dem gesellschaftlichen und natürlichen Geschehen zu beziehen.

So bewerten einige sog. linke Politiker und Autoren zwar die Auswirkungen von Migration völlig zu Recht als weltumspannende schreiende Ungerechtigkeit, doch plädieren sie zur Aufhebung dieser Ungerechtigkeit nur für ein Umdenken in den sog. "Push- und Pull" Ländern und erhoffen sich dadurch, dass von deren Regierungen einsichtige Maßnahmen ergriffen werden, die den Migrantenflusses austrocknen.

So schwingt bei einigen sog. linken Autoren und Politikern der Tenor mit, nicht willens zu sein, für das Kapital dessen selbst eingebrockte Suppe auszulöffeln, und er verführt sie dazu, gegen offene Grenzen zu argumentieren. In Wirklichkeit übersehen sie jedoch die globalen Lebensumstände- und -verwicklungen und sie versuchen, Spannungen virtuell in Zement zu gießen.

Die Chance für die Menschheit besteht darin, die "Verhältnisse zum Tanzen" zu bringen: Schwingung statt Beton. Damit rüttelt der unterdrückte Mensch an den Kerkergittern von Sozialdemokratisierung, National-Sozialisierung und Patriarchat.
  • Nur so ist der Widerspruch zu verstehen, dass Frauen seit Tausenden von Jahren immer wieder bereit sind, sich dem Schmerz und dem Risiko der Geburt eines Kindes hinzugeben! Nach den argumentativen Kausalketten einiger sog. linker Autoren und Politiker müssten folgerichtig Frauen aufgeben, Mutter zu werden.
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  • Nur so sind ist der Fortschritt zu verstehen, dass Schuhe nicht mehr per Hand genäht, Kleiderstücke statt im Fluss in der Waschmaschine gereinigt und Urlaubsreisen per Flugzeug angetreten werden! Nach der Logik einiger sog. linker Autoren und Politiker müssten konsequenterweise kapitalistische Lebensweisen gegen das Leben in der Steinzeit eingetauscht werden. Wie gut, dass Evolution ein Wörtchen mitzureden hat und dass aus dem in höchste spannungsvolle Zuspitzung gebrachten Kapitalismus der Sozialismus entspringt - auch wenn Sozialdemokratismus dieser Geburt durch Starrsinn die Luft abschneidet und sie immer wieder am Durchbruch hindert.
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  • Nur so ist das Paradox zu verstehen, dass - seit dem weltweit sich vollziehendem massivem Eingreifen in die Natur durch Industrialisierung unter der Diktatur des Kapitals mit destruktiven Rückwirkungen auf die sozialen und natürlichen Ordnungen - die nur nach kapitalistischem Profit gierende herrschende Klasse es bitter nötig hat, ihre Macht zu verkaufen an die unter den Schäden Leidenden, an die Unbill Ertragenden, an die von den Früchten Ausgeschlossenen, an die nicht mal mehr die Gelegenheit Habenden, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, an die nur noch die abstrakten Etiketten Menschenrecht und Individuum Aufgeklebten ohne eigen Hab und Gut, kurz an die Mehrheit der Erdbewohner, denn die physische Erzwingung stellt sich zunehmend als weniger erfolgversprechend bei der Herrschaftsabsicherung dar. Manipulation zwecks Pseudo-Überzeugung und Zustimmung zur freiwilligen Unterwerfung unter das ordo(-neo-)liberale Herrschaftsprinzip lässt die Renditen unhinterfragt sprudeln. Nützlich dabei sind die Medien und das Internet, und die Sozialdemokratie wird dringender gebraucht als je zuvor, vielleicht wird sie heute mit einem anderen Namen bezeichnet: z.B. Grüne oder Linke (wenn die nicht aufpassen!). Faschismus droht im Hintergrund als äußerste Notbremse, mit Faschismus lassen sich die aufkeimenden bewussten Köpfe der Menschen als Ausdruck der Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche mit offener Gewalt bändigen. Doch Faschismus und Atomkrieg bringen die Erde an den Abgrund der Selbstzerstörung, was letztendlich auch den Herrschenden wenig nützt, -könnte man glauben-, dennoch scheuen deren aggressivste Kräfte das Risiko nicht. Sozialdemokratische Beschwichtigungsabsichten waren in der deutschen Geschichte schon mal indirekt – nicht subjektiv gewollt – am Steigbügelhalten der Faschisten beteiligt.

  • Nur so ist zu verstehen, dass Menschen ihr eines einziges Leben leben können in Verhältnissen voller unüberbrückbarer Widersprüche als Kämpfer und beseelt mit Wahrnehmungen, die die Wirklichkeit als schwankend zwischen Tragik, Drama und Komödie erkennen, was reife Menschen mit dem Gefühl von Melancholie und wissendem Optimismus aushalten.
Lässt sich das komplexe Problem Migration-Wanderungsbewegungen in unserer ordo-neoliberal globalisierten Weltgesellschaft überhaupt grundsätzlich nachhaltig in den Griff kriegen? Ich meine NEIN. Im Patriarchat und mit sozialdemokratischen Rezepten in den einzelnen Nationen/Staaten werden nur kleine Wunden mit Trostpflastern notdürftig überklebt, denn die großen Wunden d.h. die globalen Widersprüche würden immer wieder aufbrechen und nach einem revolutionären Ausweg drängen, der die Machtverhältnisse verschieben müsste. Das erkannte schon der viktorianische Essayist Edward Bulwer-Lytton: "A Reform is a correction of abuses. A revolution is a Transfer of power." Nur mittels Macht-Transfer von oben nach unten können Taten durchgesetzt werden - national und international in gegenseitigem Austausch und mit gegenseitigen Verbindlichkeiten.

Wie schon Karl Marx vor über 150 Jahren zur erzwungenen Emigration und Flüchtlingsfrage seit Aufkommen des globalen produktiven Kapitalismus schrieb: "Nicht die Bevölkerung drückt auf die Produktivkraft, sondern die Produktivkraft drückt auf die Bevölkerung," d.h. die negativen Auswirkungen von Migration/Wanderungsbewegungen in unserer heutigen Welt können nicht im nationalen Rahmen gelöst werden. Unter den Bedingungen der rasanten Internationalisierung von Kapital und Arbeit brauchen sog. Linke, Sozialisten und Kommunisten eine klare Theorie zur Rolle des Staates. Realistisch analysiert sichert der Staat von heute die pseudodemokratisch parlamentarisch verbrämte Herrschaft der Klasse der Eigentümer an Grund und Boden und des Kapitals ab, während der Staat als Machtinstrument der Arbeitenden und Besitzlosen - bis auf wenige Ausnahmen wie Kuba - weltweit erst erkämpft werden muss.

Online-Flyer Nr. 702  vom 24.04.2019



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