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Krieg und Frieden
Zur Verlängerung des Einsatzes "Resolute Support" in Afghanistan
Im Widerspruch zur Mehrheit der deutschen Steuerzahler und Wähler
Von Jürgen Heiducoff

In wenigen Tagen haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages über die Verlängerung des Mandates des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan um ein weiteres Jahr zu entscheiden. In der Regel wird der Vorschlag des Kabinetts ohne tiefgreifende Analyse der Lage einfach durchgewunken. Dies ist leider auch in diesem Jahr zu befürchten. Dies, obwohl es einige grundlegende Veränderungen gibt: Unabhängige Quellen beschreiben einen seit Jahren andauernden Niedergang auf wirtschaftlichem, sozialen und militärischen Gebiet in Afghanistan. Die USA wollen sich aus Afghanistan zumindest in Teilen zurückziehen. Deshalb verhandeln sie seit Monaten intensiv mit Vertretern der Taliban. Afghanistan ist es in den letzten siebzehn Jahren nicht gelungen, die Afghan National Army (ANA) im Zusammenwirken mit der Polizei in die Lage zu versetzen, landesweit für nachhaltige Sicherheit zu sorgen. Die Zahl der Opfer dieses Krieges steigt von Jahr zu Jahr unentwegt und erreicht eine neue Qualität.

Es ist kaum zu erwarten, dass sich die US-Administration vor ihrer Entscheidung zum Abzug der eigenen Truppen mit den anderen Truppenstellern beraten wird. Sie wird nach eigener Interessenlage entscheiden und die Partner darüber informieren.

Die Bundeswehr nimmt vorrangig im Norden Afghanistans an einer NATO-Operation zur Ausbildung, Beratung und Unterstützung der Afghanischen Nationalarmee ANA und der Polizei ANP teil. Und auch für Afghanistan gilt: Ausbildung, Beratung und Unterstützung immer nur einer Partei und Seite in bewaffneten Konflikten kann nicht zu ihrer Beilegung beitragen, sondern dient allenfalls der Anheizung der Auseinandersetzungen.

Es sollte bedacht werden, dass die im Rahmen von „Resolute Support“ ausgebildeten afghanischen Soldaten und Polizisten in ihrer Mehrzahl nach einer zu kaum noch zu verhindernden politischen Wende am Hindukusch einer neuen, von den Taliban dominierten Regierung dienen werden. Das wäre nicht das erste Mal in der afghanischen Geschichte. Noch heute gibt es in den Reihen der ANA ältere Soldaten, die in der Sowjetunion ausgebildet wurden, danach der sozialistischen Regierung Kabuls und später bis 2001 auch unter den Taliban gedient haben. Mit anderen Worten: Wir bilden da die künftigen Sicherheitskräfte der Taliban aus.

Die Bilanz, die von offizieller deutscher Seite aufgezeigt wird, dient einer Politik des „weiter so“. Sie widerspiegelt nicht die gesamte Realität. Ich habe während meiner Tätigkeit als militärpolitischer Berater des deutschen Botschafters in den Jahren 2006 bis 2008 selbst erleben müssen wie die Lage in und um Afghanistan geschönt wurde. Damals wurden so genannte Fortschrittsberichte über unsere Erfolge am Hindukusch veröffentlicht. Da vertraue ich doch eher den Einschätzungen unparteiischer Quellen, u.a. der unabhängigen Organisation "Afghanistan Analysts Network" und ihres Co-Direktors Thomas Ruttig. (1)

Er schätzt in einem aktuellen Beitrag in der ZEITonline ein: „Die soziale Bilanz seit dem Sturz der Taliban ist katastrophal. Über die Hälfte der afghanischen Bevölkerung lebt wieder unter der Armutsgrenze. Das ist derselbe Stand wie 2003, kurz nach Ende der Taliban-Herrschaft, bevor Geldtransfers und die von den ausländischen Truppen verursachte Blase im Bau- und Sicherheitsgeschäft die makroökonomischen Daten nach oben trieben. Nun sind viele derjenigen, die seit damals über die Armutsgrenze kletterten, wieder unter sie zurückgefallen. Diese Frage hat zudem eine Gender-Dimension: Frauen sind aufgrund der verschlechterten Sicherheit bereits wieder stärker benachteiligt als Männer, was Zugang zu Bildung und ärztlicher Betreuung betrifft. Gleichzeitig beobachten die Afghanen, wie sich große Teile ihrer Eliten schamlos am Krieg bereichern. In ihren abgeschotteten Wohn- und Amtssitzen können oder wollen diese die Armut der Mehrheit nicht mehr wahrnehmen und monopolisieren gleichzeitig mit überdimensionierten Stäben von Leibwachen und ganzen abgesperrten Straßenzügen Sicherheit für sich. Wie aus unveröffentlichten Zahlen der Regierung hervorgeht, flossen seit 2001 bisher 80 Milliarden US-Dollar durch Korruption ab. Besonders leiden die Menschen in den umkämpften Gebieten. Dort ist es zu gefährlich für kontinuierliche humanitäre Hilfe und breitere Entwicklungsprogramme. Das wird der Regierung negativ angerechnet. Denn während sie sich dort, wo sie noch vertreten ist, oft korrupt und unfähig zeigt, sammeln die Taliban in den von ihnen stabil beherrschten Gebieten Pluspunkte. Dort sind sie es, die die Aktivitäten von Hilfswerken und sogar das staatlichen Bildungs- und Gesundheitswesen regulieren. Kabul zahlt zwar die Gehälter, aber die Taliban sorgen dafür, dass Lehrer und Ärzte tatsächlich ihren Dienst versehen. Auch ihre Gerichte gelten als verlässlicher – nicht weil sie mit brutalen Körperstrafen agieren (was auch vorkommt), sondern weil sie effizient in Land- und anderen Streitigkeiten vermitteln.“ (2)

Wenn man die laufende, seit Jahren andauernde Entwicklung in und um Afghanistan feststellt und fortschreibt, gelangt man zu folgenden Tendenzen:
  1. die Kampfhandlungen zwischen den Aufständischen einerseits und den afghanischen Sicherheitskräften und der USA andererseits werden intensiver;
  2. Erfolge und Vormarsch der Taliban legen zu;
  3. die Zahl der Opfer (Zivil und auch Militär und Polizei) steigt weiter; dazu kommen die Verluste ausgebildeter Soldaten durch Desertion;
  4. das soziale Niveau der Bevölkerung sinkt wie in den letzten 15 Jahren, weiter ab;
  5. die Korruption und Schattenwirtschaft, auch die Drogenproduktion werden unbeherrschbar;
  6. die psychischen Langzeitfolgen bei Einsatzsoldaten auch der Bundeswehr nehmen zu.
Einige unabhängige Quellen über Verluste und Probleme: „Allein im vergangenen Jahr wurden mindestens 3800 Zivilisten in Afghanistan getötet. Das ist ein neuer Höchststand. Die meisten Menschen kamen bei Terroranschlägen, verübt von den Taliban und Gruppen des Islamischen Staates ums Leben. Verletzt wurden annähernd 7200 Zivilisten. So steht es im jährlichen Bericht, der von der UN-Mission in Afghanistan und dem UN-Hochkommissariat vorgelegt wurde. Fast ein Viertel der Getöteten waren Kinder. Mit 900 liegt ihre Zahl ebenfalls so hoch wie nie in diesem Krieg. Mindestens 65 Selbstmordanschläge gab es 2018, die meisten davon in der Hauptstadt Kabul. Damit seien die Taliban und die IS-Miliz für mehr als 2200 Todesfälle verantwortlich, so die UN-Experten. Auch die von US- und afghanischen Streitkräften geflogenen Luftangriffe forderten unschuldige Opfer. Zum ersten Mal seit Beginn der Aufzeichnungen seien auf diese Weise im vergangenen Jahr mehr als 500 Zivilisten getötet worden, kritisiert die UNO. Seit Beginn der UN-Zählung vor zehn Jahren wurden in Afghanistan mindestens 32 000 Zivilisten getötet und rund 60 000 verletzt. Die Zahlen der UN gelten als konservativ, weil die Organisation für jeden registrierten Fall mindestens drei unabhängige Quellen benötigt.“ (3)

Unter den Folgen des Einsatzes leiden auch Bundeswehrsoldaten. Die psychischen Belastungen führen zu posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS).

„2015 registrierte der Sanitätsdienst der Bundeswehr 235 PTBS-Erkrankungen, 2016 waren es 175. Im Jahr 2017 kamen - trotz abnehmender Anzahl in den Einsatz geschickter Soldatinnen und Soldaten - 170 und im vergangenen 182 Neuerkrankungen hinzu. Ein Forscherteam des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw) hat Soldaten, die in Afghanistan gedient haben, über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren untersucht. Es handelt sich um Angehörige des 22. an den Hindukusch entsandten Kontingents, das in einer höchst angespannten Kampfphase stand. Sie erlebten Tod und Verwundung von Kameraden. Nun liegen die Ergebnisse der ersten sozialwissenschaftlichen Langzeitbefragung vor. Auf über 300 Seiten zeigt sich ein höchst differenziertes Bild des Einsatzes und der Lebensrealität von Soldaten und Veteranen. Der überwiegende Teil der Rückkehrer habe die Erfahrungen in Afghanistan »positiv in das Selbstbild integriert«. Viele behaupten, »an dem Einsatz gewachsen zu sein, fühlen sich gelassener, psychisch belastbarer und wissen das Leben in Deutschland jetzt mehr zu schätzen«, heißt es in einer Zusammenfassung der Studienresultate. Obwohl aus der Perspektive der meisten Soldaten die Integration in das familiäre und berufliche Leben nach der Rückkehr gut gelungen ist, fällt es ihnen auch noch drei Jahre später schwer, außerhalb des Kameradenkreises über ihre Erfahrungen zu sprechen. Nahezu jeder Zehnte berichtet von anhaltenden körperlichen oder seelischen Verletzungen und von Fremdheitsgefühlen im Alltag. Auch sieht sich nur jeder zehnte Soldat dieses Kontingents durch die deutsche Politik und Bevölkerung ausreichend anerkannt.“ (3)

Dies und schlimmer wäre das zu erwartende Szenario, wenn die bisherige Afghanistan-Politik unverändert fortgesetzt wird. In den USA hat man begriffen, dass eine Änderung des Engagements am Hindukusch unvermeidlich ist. Deshalb werden intensive Verhandlungen mit den Taliban geführt und vorab der (Teil)Abzug der Truppen verkündet. Natürlich verfolgt die US-Administration dabei zunächst eigene Interessen. Hier gilt es, für die anderen Truppensteller, vor allem für Deutschland, eine eigene Strategiekorrektur einzuleiten. Danach sieht es aber derzeit nicht aus.

Deshalb kommt es besonders darauf an, dass die gewählten Volksvertreter bei ihrer Abstimmung über die Verlängerung des Mandates für die Bundeswehr in Afghanistan dem Willen des deutschen Volkes und dem eigenen Gewissen folgen. Denn jeder einzelne von ihnen trägt mit seiner Entscheidung und Stimme Verantwortung für Leib, Leben und Psyche unserer Soldaten und für das Schicksal der Zivilbevölkerung in den Kampfgebieten.

Und noch einmal: Die Entsendung von Militär zur Ausbildung, einseitigen Beratung und Unterstützung immer nur einer der Konfliktparteien trägt nicht zur Deeskalation bei. Dies führt allenfalls zur Vertiefung und Verlängerung des Leidens der Zivilbevölkerung, zum Anstieg der Flüchtlingsbewegungen und nicht zuletzt zum Anstieg der Kosten für uns Steuerzahler. Zudem stellt vor allem die Beratung von Militärs im ministeriellen und strategischen Bereich anderer Streitkräfte eine unzulässige Einmischung westlicher Generale und Offiziere in deren Sicherheitspolitik und innere Angelegenheiten dar. Dies widerspricht dem Primat der Politik gegenüber dem Militär.

Mögen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, bevor sie der Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr an der NATO-Operation „Resolute Support“ zustimmen, der Aufschrift über dem Portal des Parlamentsgebäudes folgen: DEM DEUTSCHEN VOLKE.


Hinweise und Quellen:

1) Thomas Ruttig, den ich persönlich gut kenne, schätze ich als echten Afghanistan-Experten. Nach Abschluss seines Studiums der Afghanistik arbeitet er seit 39 Jahren zu und in Afghanistan. Er beherrscht Dari und Pashtu, lebte über 10 Jahre am Hindukusch und hat sehr viele Freunde und Kontakte im Land.
2) https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-03/afghanistan-truppenabzug-taliban-krieg-aschraf-ghani/seite-2
3) https://www.neues-deutschland.de/artikel/1113071.bundeswehr-kriegseinsatz-mit-psychischen-folgen.html?sstr=Kriegseinsatz|mit|psychischen|Folgen

Online-Flyer Nr. 697  vom 20.03.2019



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