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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Arbeit und Soziales
Da war doch noch was
Billigfachkräftemangel
Von Harald Schauff

Vorsicht auf dem Bürgersteig! Mit rudernden Armen kommen sie einem entgegen. Wer nicht aufpasst, erntet eine Ohrfeige, freilich ohne Absicht. Im Auto sitzen dieselben Verdächtigen wild gestikulierend hinterm Steuer. Nicht wegen des Verkehrs oder weil ihnen jemand den Parkplatz geklaut hat. Den Luftschwimmern setzt ein anderes Problem dramatisch zu: Sie sind Firmenchefs, die händeringend nach Fachkräften suchen. Und zwar bereits seit rund zehn Jahren. Damals, zu Zeiten der Finanzkrise, soll das Drama mit den fehlenden Fachkräften begonnen haben. Ausgerechnet also in einer Phase des Abschwungs und der steigenden Arbeitslosigkeit.

Genauer gesagt: Unternehmensverbände schickten es als Zeitungsente auf die Reise durch die Presselandschaft. Bis heute kreist es dort fröhlich umher. Dabei hat sich das gedruckte Watschelvieh zur kapitalen Prachtsau entwickelt, die wechselseitig durch die Nachrichten getrieben wird. Unlängst warnten die Wirtschaftsweisen, der S(chw)achverständigenrat der Bundesregierung, das Sauvieh von Fachkräftemangel könne das Wirtschaftswachstum mit schwächen.

Anfang November meldete sich die staatliche Förderbank KfW und warnte, der Bewerbermangel im Mittelstand verschärfe sich (Frankfurter Rundschau vom 5.11.2018). Laut KfW-Studie wollen in den nächsten drei Jahren zwei Drittel aller mittelständischen Betriebe neue Fachkräfte einstellen.

65 % befürchten, dass die Stellen nur mit Abstrichen, verzögert oder überhaupt nicht besetzt werden. Die KfW wiederum befürchtet mittelfristig einen ‘flächendeckenden’ Fachkräftemangel, wenn ab etwa 2025 die Baby-Boomer in Rente gehen. Seit 2014 habe sich der Fachkräftemangel in allen Wirtschaftsbereichen verschärft. Besonders stark betroffen sei der Bausektor: 9 von 10 Firmen fürchten hier einen Mangel an Bewerbern. Fällt etwas auf? Andauernd ‘fürchten’ sie. War die Furcht jemals so groß? Sie fürchten, befürchten und verlieren sich in vagen Zukunftsdeutungen, ganz nach dem Vorbild der Wirtschaftsweisen aus dem Sorgenland. Die Faktenlage, die das untermauern soll, erweist sich als eher dünn. Es mag Personalengpässe im erwähnten Bausektor so wie im Gesundheits- und Pflegebereich geben. Es geht um Zehntausende, wenn es hoch kommt, Hunderttausende Stellen. Sicher kein Pappenstiel, allerdings weit entfernt von einem ‘dramatischen’ flächendeckenden Fachkräftemangel.

Nach offizieller Statistik gibt es immer noch rund doppelt so viele gemeldete Erwerbslose wie gemeldete offene Stellen. Rechnet man über 58jährige, Maßnahmenteilnehmer und krank Gemeldete dazu, kommen sogar rund drei Personen auf eine offene Stelle. Außerdem: Wären Fachkräfte so begehrt wie vorgegeben, müssten ihre Löhne exorbitant ansteigen. Pustekuchen. Der Verdacht liegt nahe, dass hinter dem Tamtam um den angeblichen Fachkräftemangel die gegenteilige Absicht steckt: Ein Überangebot an Fachkräften zu schaffen, um die Löhne zu drücken und sich die Rosinen heraus zu picken. Auf der anderen Seite wird bei der Ausbildung gespart und auf die Einstellung erwerbsloser Fachkräfte wie Techniker und Ingenieure verzichtet. Diese sind in der Regel etwas älter, nicht mehr so ‘formbar’ und lassen sich auch nicht unbedingt mit niedrigen Löhnen abspeisen. Die ringenden Hände wedeln nicht mit Geldscheinen.

Mal sehen, was nach der nächsten Rezession mit massivem Stellenabbau von der Fachkräftemangel-Debatte übrig bleibt. Gut denkbar, dass die Befürchtungen der KfW (Kampagne für Wirtschaftsinteressen?) sich in das auflösen, woraus sie im Kern bestehen: Luft.


Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf". Sein Artikel ist im "Querkopf", Ausgabe Dezember 2018, erschienen.

Online-Flyer Nr. 688  vom 26.12.2018



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