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Literatur
Thomas Metschers "Integrativer Marxismus"
Integrativer Marxismus, zukunftsfähig
Von Rudolph Bauer

"Integrativer Marxismus" lautet der Titel der neuen Veröffentlichung des Philosophen Thomas Metscher. Er versteht darunter eine "kritische, kohärente und umfassende, philosophisch begründete dialektische Theorie; eine Theorie, die sich in der Verarbeitung divergenter Momente des Bewusstseins  und Wissens, der Wissenschaft und Kultur als philosophische erst konstituiert und entwickelt" (68). Ein so konzipierter Marxismus besitze "ein Zukunftspotenzial, das ihn über jede andere mit ihm konkurrierende wissenschaftliche Weltanschauung hinaus hebt" (282).

Metscher beansprucht, die dialektische Theorie als eine wissenschaftliche Weltanschauung zu entwerfen, die auf Marx und Hegel rekurriert, zugleich aber auch gegenwartsbezogen ist und nicht zuletzt perspektivisch eine Zukunft erschließt, die für viele mit dem Ende der UdSSR für immer untergegangen zu sein scheint. Ein deshalb geradezu vermessener Anspruch, ein revolutionäres Programm - noch dazu in einer Zeit wie der heutigen: einer Zeit der Kriege, der gescheiterten Hoffnungen, der Myriaden Toten, Geknechteten, Hungernden, Ausgebeuteten und Unterdrückten, der Zerstörung des Planeten, in einer Zeit von Armut und Elend weltweit, von Reichtum, Luxus, Machfülle und der gnadenlosen Arroganz ganz weniger?

"... ein kühner freier Geist"

Die Lektüre von Metschers jüngster Veröffentlichung ermöglicht eine Antwort auf die Frage, was den Marxismus zukunftsfähig macht. Die Erkenntnis erschließt sich freilich nur denjenigen, die freien Geistes sind, denen der Weg des marxistisch geübten Philosophierens nicht zu steil und steinig ist. "Die erste Grundlage philosophischer Forschung ist ein kühner freier Geist" (MEW, EB 1, 155), bemerkte schon Marx. Die dialektische Theorie in der von Thomas Metscher zeitgemäß aufbereiteten Form verlangt Leserinnen und Leser, die bereit sind, sich darauf einzulassen, am Begriff zu arbeiten, synthetisch zu denken, den eigenen Verstand zu benutzen und Freude daran zu haben, ihn und die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen.

Das Buch "Integrativer Marxismus" ist keine Bibel, schon gar kein Katechismus. Es verlangt den ebenso diszipliniert wie lustvoll mitdenkenden, lernfähigen und kritischen Kopf, den dialektischen Akrobaten zuweilen, der befähigt ist zur bestimmten Negation, bereit sich die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit auf den Schultern von Riesen anzueignen - auf den Schultern von Hegel, Marx und Engels, Lenin, von Hans Heinz Holz, Georg Lukács, Gramsci, Ernst Bloch, Wolfgang Harich, Bert Brecht, Peter Weiss ... nicht zuletzt auch von Thomas Metscher selber.

Denn obgleich letzterer seine Rolle als Philosoph und Autor bescheiden relativiert, seine Beiträge als "Studien" ankündigt und sein Werk vorstellt als "Grundlegung" - Metscher ist ein marxistischer Riese der Gegenwart. Auf seinen Schultern zu stehen, macht es uns möglich, über das Hier und Jetzt hinaus zu schauen und vorwärts zu denken in eine andere Zukunft - anders als es die Fortschreibung und Verlängerung des Heute in Richtung des finstersten Morgen zulässt.

Sich und der Sache treu geblieben

Manche, denen den Marxismus nicht nur eine lästige Erinnerung ist, eingebunden in die traumatische Erfahrung des im Kalten Krieg implodierten Sozialismus, kennen Thomas Metscher als einen der wenigen intellektuellen Genossen, die sich und der revolutionären Sache treu geblieben sind: nicht dogmatisch, sondern kritisch, nicht verzweifelt, sondern mutig, nicht verbissen, sondern elegant, nicht rechthaberisch, sondern um Verständigung bemüht, nicht im roten Elfenbeinturm, sondern der Welt zugewandt offen, nicht bußfertig, sondern in Brecht'scher Freundlichkeit und mit einem Funken Ironie, mit einer Prise Humor.

1934 in Berlin geboren, in einem antifaschistischen Elternhaus aufgewachsen, studierte er an der Freien Universität sowie in München, Bristol und Heidelberg. Seine Fächer waren Philosophie, Germanistik und Anglistik. Er promovierte 1966 über den irischen Dramatiker, Freiheitskämpfer und Sozialisten Sean O'Casey. Ein Jahrzehnt lang, von 1961 bis 1971, war er Dozent für neuere deutsche Literatur an der Queen's University of Belfast. Anschließend lehrte er bis 1999 als Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität Bremen, der "Roten Kaderschmiede" (FAZ). Der Ruf von dort an eine andere Universität war ihm, einem Mitglied der DKP, verschlossen.

Als Anglist und Germanist hat Metscher ebenso unter den Shakespeare-Experten einen Namen wie unter den Kennern von Goethes Faust ("Welttheater und Geschichtsprozess", 2004). Seine Forschungen zur Ästhetik betreffen nicht nur die Literatur, sondern ebenso die Musik ("Sozialistische Avantgarde und Realismus. Zur musikalischen Ästhetik Dmitri Schostakowitschs", 2008). Sein thematisches Spektrum umfasst Fragen der Bildenden Kunst und Kunsttheorie ("Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf", 2012), der Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins ("Logos und Wirklichkeit", 2010) sowie des Friedens in der Geschichte ("Der Friedensgedanke in der europäischen Literatur", 1984).

Dem "Theorietypus Marx" verbunden

Nicht zuletzt hat Thomas Metscher sich als marxistischer Philosoph einen Namen gemacht, der auch jenseits der Grenzen deutschsprachiger Kultur bekannt ist (allerdings noch viel zu wenig, was mehr als zu bedauern ist). Nach eigener Aussage ist er dem "Theorietypus Marx" verbunden. Was das bedeutet, illustriert der Band "Integrativer Marxismus" auf beeindruckend überzeugende Weise.

Das Buch beginnt mit einem Prolog in Anlehnung an Bertold Brechts "Das Manifest" - ein Text, der wiederum auf das "Kommunistische Manifest" zurückgreift. Ohne den Titel der Veröffentlichung von Jacques Derrida "Marx' Gespenster" (1996) zu erwähnen - ganz zu Recht übergeht Metscher den französischen Dekonstruktivisten und Katzenphilosophen - widmet der Prolog unter dem Titel "Marx' Gespenst und die Zukunft des Marxismus" sich der Zukunft und Zukunftsfähigkeit desselben mit folgenden Worten:

"Zukunftsfähigkeit des Marxismus heißt, dass er seinem doppelten Anspruch genügt, die Welt - die heutige wie die zukünftige Welt - zu 'interpretieren' wie auch sie zu 'verändern'; denn Interpretation und Veränderung, Theorie und Praxis seien hier ... als Einheit verstanden, wobei das Erste die Bedingung des Zweiten ist. ... Zukunftsfähigkeit heißt aber auch: die Zukunft denkbar machen; dafür Sorge tragen, dass die Zukunft denkbar wird." (28 f.)

Der Marxismus sei nur unter bestimmten Bedingungen zukunftsfähig - also "nicht in jeder seiner historisch vorliegenden Gestalten": weder "in der Form des Systems, das mit dem Anspruch einer geschlossenen Totalität der Erkenntnis auftritt, wie in der Form einer nur noch kritischen Theorie, die alles positive Wissen aufzehrt, noch in einer auf bestimmte kategoriale Dimensionen beschränkten Theorie von Teilbereichen" (29).

Ein Wegweiser für Suchende

Metschers zukunftsfähiger Marxismus nimmt zur Verdeutlichung seines eigenen Profils eine Reihe von Abgrenzungen vor. Durch diese wird die Lektüre stellenweise etwas erschwert, etwa in der Auseinandersetzung mit Adorno, W. F. Haug oder G. Fülberth. Aber fürs erste erscheint es zum besseren Verständnis nicht erforderlich zu sein, diese innermarxistischen Grenzziehungen nachzuzeichnen bzw. zu betonen. Es handelt sich um interessante Vertiefungen und leichte Umwege neben der gut ausgeleuchteten, zielführenden Hauptspur.

Diese umfasst einen großen, beeindruckenden Abschnitt der kategorialen Grundlegung: Problemlage, Aufgabenstellung und Zielsetzung des von Marx und Engels begründeten neuen Materialismus ("dynamisch-energetisch", "bewegend"), seiner Kernkategorien (gegenständliche Tätigkeit, Arbeit; Geschichte, Gesellschaft, Politik; Kultur; Ästhetik) sowie mehrere theoretische Erweiterungsfelder wie Religion, Ethik und Humanismus, Marxismus als Weltanschauungsform in der Verbindung von Wissenschaft, Kunst und Philosophie. Zwei weitere große Kapitel bearbeiten die Dialektik als Fundamentalkategorie und den Komplex Ideologie.

Auf diese Themenfülle kann hier in der Besprechung des Buches nur andeutungsweise hingewiesen werden, ohne die durch Thomas Metscher grandios erfolgte Bearbeitung in der erforderlichen Weise auch nur annähernd würdigen zu können. Die Rezension versammelt vielmehr philosophische Topoi, die denen ein Signal oder Wegweiser sein mögen, die sich auf der Suche befinden nach einer zukunftsfähigen Theorie in der Tradition der materialistischen Dialektik - Dialektik verstanden sowohl als logisch-methodologischer Weg des Denkens wie auch als Bewegung des Seins.

Den Suchenden sei das Buch mit allem Nachdruck empfohlen. Sein Erscheinen steht in unseren schwarzen Zeiten für eine philosophische "Sternstunde der Menschheit" (Stefan Zweig). Dies gilt um so mehr, als Metscher angekündigt hat: "Das hier vorliegende Buch ist der erste von vier Bänden, in denen das Konzept des integrativen Marxismus entwickelt werden soll." (11) Das Vermächtnis der folgenden drei Bände steht noch aus. Möge es ebenso vital, luzide, innovativ, grundlegend und weiterführend den Weg des integrativen Marxismus weisen, wie es der erste Band tut. Wir warten darauf.


Thomas Metscher: Integrativer Marxismus. Dialektische Grundlegung. Studien.




Kassel: Mangroven Verlag 2017. 308 Seiten. ISBN 978-3-94694-604-5. 25,00 Euro

Online-Flyer Nr. 652  vom 28.03.2018



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