NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 18. April 2024  

Fenster schließen

Kommentar
UNESCO erklärt Höhle von Machpela in Hebron zum Kulturerbe
Abraham, Isaak & Bibi
Von Uri Avnery

DAS GANZE hätte ein Schabernack sein können, wenn es nicht echt gewesen wäre. Ganz Israel ist reingefallen. Die Linke, die Rechte und das Zentrum. Alle Zeitungen und Fernsehsender ohne Ausnahme. Da hatten wir es also: Die UNESCO hatte die Höhle von Machpela in Hebron zum palästinensischen Kulturerbe erklärt. ICH GEBE ZU, auch ich bin reingefallen. Die Nachricht war so eindeutig und einfach, ihre Annahme so einmütig, dass auch ich das Undenkbare akzeptierte. Stimmt schon, es war ein wenig seltsam, aber Seltsames geschieht eben. Die Höhle von Machpela ist überhaupt keine Höhle. Sie ist ein großes Gebäude, das die Araber al-Haram al-Ibrahim, die Moschee Ibrahims, nennen und das im Zentrum Hebrons liegt. Die Araber nennen die Stadt al-Khalil, den Freund Gottes (womit Abraham gemeint ist). Die Bibel erzählt: Der Stammvater der Juden Abraham kaufte dem dortigen Besitzer den Platz als Begräbnisort für seine Frau Sara ab. Als seine Zeit gekommen war, wurde auch er dort begraben, ebenso wie sein Sohn Isaak mit seiner Frau Rebekka und sein Enkel Jakob mit seiner Frau Lea. (Seine andere Frau Rachel soll auf dem Weg nach Bethlehem begraben sein.) Und da kommt die UNESCO, die antisemitische Kulturabteilung der antisemitischen UN, und erklärt es zu einem palästinensischen Heiligtum! Kennt die Hetze gegen die Juden keine Grenze? Ein Tsunami von Emotionen überschwemmte Israel. Die Juden vereinigten sich im Protest. Alle äußerten ihre Wut so laut wie möglich. Selten hat man hier eine solche Einmütigkeit gesehen.

WENN ich einen Augenblick lang nachgedacht hätte, wäre mir klar geworden, dass das Ganze Unsinn war. Die UNESCO ordnet nicht Orte Nationen zu. Ein Weltkulturerbe ist eben Kulturerbe der ganzen Welt. Die Erklärung nennt das Land, in dem das Weltkulturerbe liegt, nur der Form halber. Die heilige Kirche in Nazareth liegt in Israel, aber sie „gehört“ Israel nicht. Die Gräber der heiligen jüdischen Rabbiner in Russland oder Ägypten gehören nicht Israel. Die UNESCO hat nicht gesagt, die Machpelah-al-Haram al-Ibrahim-Stätte gehöre den Palästinensern. Sie hat nur gesagt, dass sie in Palästina liegt. Warum Palästina? Weil nach internationalem Recht die Stadt Hebron zu Palästina gehört. Dieses wurde von den UN als Staat unter einer Besatzung anerkannt. Auch nach israelischem Recht gehört Hebron nicht zum eigentlichen Israel, sondern steht unter militärischer Besetzung. Ich bin dem in den USA lebenden ehemaligen Israeli Idan Landau dankbar. Er hat sich die Mühe gemacht, den Originaltext zu lesen, und er hat uns eMails geschickt, damit wir unseren Eindruck korrigieren könnten. Als ich das las, schlug ich mich an die Stirn: Wie hatte ich so dumm sein können! Der UNESCO-Beschluss ist fair und korrekt. Es heißt darin: Der Ort ist den drei monotheistischen Religionen heilig, und das ist er tatsächlich. Aus diesem Grund hat ein jüdischer Fanatiker – ein Siedler aus Amerika – einmal Dutzende betender Muslime ermordet. Jüdische Fanatiker haben sich nebenan angesiedelt.

IST DER Ort wirklich heilig? Das ist eine komische Frage. Ein Ort ist genauso heilig, wie die Menschen glauben, dass er sei. Liegen Abraham und seine Nachkommen dort wirklich begraben? Selbst das ist unwichtig. Viele – unter ihnen auch ich – glauben, dass der erste Teil der Bibel, der Teil bis zum assyrischen Zeitalter, fiktiv ist. Das tut der Wunderbarkeit der Bibel keinen Abbruch. Sie ist das schönste literarische Werk auf Erden. Jedenfalls die (originale) hebräische Fassung. Auch wenn man Abraham, Isaak und Jakob für reale Personen hält, ist es immer noch zweifelhaft, ob sie dort begraben liegen. Eine ganze Schule von Archäologen glaubt, dass der Begräbnisplatz an einer anderen Stelle in Hebron und nicht unter dem Gebäude ist, das heute die Höhle von Machpela genannt wird. Die Gräber dort sind Gräber von muslimischen Scheichs. Sei dem wie ihm wolle, Millionen Menschen glauben, dass die biblischen Urväter in der Höhle begraben liegen. Für sie ist der Ort heilig und er liegt im besetzten Palästina. Aber wenn man die Bibel so wörtlich nimmt, sollte man auch die Verse 8 und 9 des 25. Kapitels der Genesis lesen: „Und Abraham verschied und starb in einem guten Alter …. Und es begruben ihn seine Söhne Isaak und Ismael in der Höhle von Machpela …“

Als ich Leute darauf hinwies, die israelische Schulen besucht hatten, waren sie sehr schockiert. Dieser Vers wird in keiner israelischen Schule erwähnt. Es gibt ihn nicht. Warum nicht? Weil Ismael der Stammvater der Araber ist, ebenso wie Isaak der Stammvater der Juden ist. Wir haben gelernt, dass unsere Stammmutter Sara, die in der Bibel als regelrechtes Biest dargestellt wird, ihren gehorsamen Gatten Abraham dazu anstiftete, seine Konkubine Hagar und deren Sohn Ismael in die Wüste zu schicken, damit sie dort verdursteten. Aber ein Engel rettete sie und sie verschwanden, allerdings steht in der Bibel eine lange Liste von Ismaels Nachkommen. Die Enthüllung, dass die Bibel tatsächlich das Gegenteil sagt, schockiert. Ismael verschwand nicht, sondern irgendwann schloss er Frieden mit Isaak. Die beiden Söhne begruben ihren Vater gemeinsam. Das ändert die Geschichte vollkommen. Sie bedeutet, dass die Bibel auch die Araber zu rechtmäßigen Erben der Höhle von Machpela macht, Seite an Seite mit den Juden.

ICH DENKE nicht, dass Benjamin Netanjahu diesen Vers jemals gelesen hat. Er kennt nur das, was jeder israelische Schüler kennt. Die streng orthodoxe Richtung. Auf dem Höhepunkt der UNESCO-Hysterie in dieser Woche tat Netanjahu etwas Bizarres: Mitten in einer formellen Kabinettsitzung holte er eine Kippa aus der Tasche, setzte sie auf und begann aus der Bibel vorzulesen (natürlich nicht den eben erwähnten Vers). Er sah absolut glücklich aus. Er zeigte den verdammten Gojim, was sie waren: alles Antisemiten. Glaubt Netanjahu wirklich (ich denke, er tut es), dass dieser Teil der Bibel-Legende Geschichte wäre? Wenn ja, dann hat er den Verstand eines Zehnjährigen. Wenn nicht, ist er ein Betrüger. In jedem Fall ist er ein sehr begabter Demagoge. Aber er ist nicht der Einzige. Weit entfernt. Der Präsident Israels, ein sehr netter Herr, wiederholte Netanjahus Anschuldigungen gegen die UNESCO. Ebenso der Knesset-Sprecher, ein Einwanderer aus der Sowjetunion.

Einige israelische Kommentatoren brauchten etwa vier Tage, ehe sie den originalen Text der UNESCO-Resolution zitierten. Sie entschuldigten sich natürlich nicht, aber wenigstens zitierten sie den tatsächlichen Text. Schüchtern und still stimmten einige andere Kommentatoren ein. Die meisten ihrer Kollegen taten nicht einmal das. Besonders erwähnt werden muss Israels Gesandter bei der UNESCO Carmel Schama Hacohen. Er ist nicht gerade als Pfeiler der Weisheit bekannt. Tatsächlich wurde er in die UNESCO geschickt, damit ein Protegé des Außenministers seinen Platz in der Knesset würde übernehmen können. Während der UNESCO-Sitzung regte sich Schama-Hacohen sehr auf (sein wirklicher Name ist nur Schama, aber das klingt zu arabisch und deshalb fügte er das sehr jüdische Hacohen hinzu). Er setzte einen Anschrei-Wettkampf mit dem palästinensischen Gesandten in Gang, rannte dann zum Podium und schrie auch noch den Vorsitzenden an.

WILLIAM SHAKESPEARE hätte das alles sicherlich „viel Lärm um nichts“ genannt – außer zwei Punkten. Einer ist, dass die Angelegenheit zeigt, wie leicht es ist, das ganze (jüdische) Israel – alle ohne Ausnahme! – in heilige Wut zu versetzen. Politiker und Kommentatoren von links und rechts, Ost und West, religiöse und säkulare, vereinigen sich zu einer einzigen rasenden Masse, selbst wenn die Voraussetzung falsch ist. Ein derartiger Ausbruch kann sehr ernste Folgen haben. Er blockiert alle inneren Bremsen. Der zweite Aspekt ist noch gefährlicher. Auf dem Höhepunkt des Tsunami fiel mir plötzlich auf, dass alle großes Vergnügen zu empfinden schienen. Und dann wurde mir klar, warum. Seit Hunderten von Jahren wurden die Juden in Europa verfolgt, deportiert und gefoltert. Das gehörte zu ihrer alltäglichen Erfahrung. Sie waren daran gewöhnt. Antisemitismus jeder Art, darunter auch mörderischer Antisemitismus, gehörte zur Realität. Dem Sadismus der Gojim begegneten die Juden mit Masochismus. (Ich habe es schon früher erwähnt: Das gehört zur christlichen Kultur des Westens und ging anscheinend von der Kreuzigungsgeschichte im Neuen Testament aus. Im Islam gibt es das nicht, da der Prophet seine Gläubigen ermahnt, die beiden anderen „Völker des Buches“ – Juden und Christen – zu schützen.)

Seit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust ist der grausame europäische Antisemitismus verschwunden oder in den Untergrund gegangen. Aber daran haben sich die Juden nicht gewöhnt. Sie sind sicher, dass er irgendwo lauert und dass er jeden Augenblick erneut ausbrechen kann. Wenn das geschieht oder wenn es jedenfalls so aussieht, als ob es geschieht, neigen Juden zu dem Gefühl: „Ich hab’s  ja immer gesagt!“ In Israel ist das noch komplexer. Der Zionismus hatte gehofft, er könnte die Juden von ihren „Exil-Komplexen“ befreien, uns in ein normales Volk verwandeln, „ein Volk wie andere Völker“. Das war anscheinend nicht so ganz erfolgreich. Oder der Erfolg geht unter der Führung Netanjahus und seinesgleichen zurück. Diese Episode macht viele Juden glücklich. Sie sagen sich: „Wir haben recht. Alle Gojim sind Antisemiten!“


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Online-Flyer Nr. 622  vom 19.07.2017



Startseite           nach oben