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Literatur
Aus den "Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers" (6)
Menschheitsretter in siebzehn Minuten
Von Erasmus Schöfer

Es war im Jahr 1983. Präsident Reagan hatte die Sowjetunion „Reich des Bösen“ genannt, was so viel bedeutete wie, dass in Moskau der Teufel regierte. Auch stationierten die USA in Westeuropa ihre neuen atomaren Mittelstreckenraketen, welche die russischen Zentren in Minuten erreichen konnten. Eine Vorwarnung wie bei den Langstreckenraketen, die immerhin gut zwanzig Minuten von der einen Macht zur andern benötigten, wäre nicht möglich gewesen. Es war eine Situation größter internationaler Spannung.

In dem streng abgeschirmten Armeestädtchen Serpuchow bei Moskau war das Rechenzentrum, das Steuerungszentrum des sowjetischen Raketensystems untergebracht, in dem als leitender Offizier in jener Nacht ein Stanislaw P. Dienst tat. Kurz nach Mitternacht heulte plötzlich die Alarmsirene los und gleichzeitig blinkte auf den Bildschirmen der Rechner in schreiend roten Buchstaben das Wort Raketenstart auf und zusätzlich die Präzisierung „Mit größter Wahrscheinlichkeit“! Alle jüngeren Offiziere, deren Aufgabe es war, in einem solchen Fall die eignen Raketen schussbereit zu schalten, blickten Stanislaw an und warteten gespannt auf seinen Befehl.

Stanislaw hatte zwei Minuten Bedenkzeit, dann griff er zum Telefon, rief das Oberkommando an und meldete den Abschuss, aber mit dem Zusatz „wahrscheinlich ein Fehlalarm“. Noch während er telefonierte, signalisierten die Computer nacheinander den Abschuss von vier weiteren Raketen und die Sirenen heulten erneut auf. Auch diese Meldung sei wahrscheinlich ein Fehlalarm, teilte er mit. Alle Radarstationen an den sowjetischen Grenzen wurden alarmiert. Nach siebzehn Minuten fieberhafter Ungewissheit kam die erlösende Meldung von dort, dass keine Raketen im Anflug seien! Da jubelten die Offiziere und umarmten Stanislaw entgegen allen dienstlichen Vorschriften.

Erst Monate später brachten die Untersuchungen des Fehlalarms die Gewissheit, dass Sonnenspiegelungen aus der Raketenbasis von den Beobachtungssatelliten als Raketenstarts interpretiert worden waren.

Der Widerstandsforscher darf wohl sagen, dass dieser Mann durch seine Besonnenheit den zufälligen Ausbruch des von den meisten Menschen gefürchteten Atomkriegs verhindert und damit die Lebewesen unserer Erde vor der Vernichtung bewahrt hat. Wie schauerlich aber dagegen die Feststellung, dass wir es nicht fertig bringen, unsere Regierungen und Militärs zu zwingen, diese apokalyptischen Waffen endlich und weltweit zu vernichten, um solche mörderischen Risiken für immer zu verbannen!




Erasmus Schöfer
Kalendergeschichten des rheinischen Widerstandsforschers
Taschenbuch, 144 Seiten, 12 Euro
Verbrecher Verlag Berlin, 2016


Erasmus Schöfer, am 4. Juni 1931 bei Berlin geboren, lebt in Köln. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt und ist Mitglied des Deutschen P.E.N.-Zentrums. Seit seiner Promotion über »Die Sprache Heideggers« (1962) veröffentlichte er zahlreiche literarische und publizistische Arbeiten. Für seine hochgelobte Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos« erhielt Erasmus Schöfer im Jahr 2008 den Gustav-Regler-Preis. Zuletzt erschienen: »Diesseits von Gut und Böse. Beiträge fürs Feuilleton« (2011), »Na hörn Sie mal! Sechs ausgewählte Funkstücke« (2012) und »Schriftsteller im Kollektiv. Texte und Briefe zum Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« (2014).


Online-Flyer Nr. 617  vom 14.06.2017



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