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Globales
Kaltblütig schoss er ganz aus der Nähe eine Kugel in den Kopf
Der Fall des Soldaten A
Von Uri Avnery

ALLES MÖGLICHE wurde über den Vorfall, der Israel erschüttert, so scheint es, bereits gesagt, geschrieben, verkündet, bestätigt und abgestritten. Alles außer der Hauptsache. Bei dem Vorfall handelt es sich um „den Soldaten von Hebron“. Die Militär-Zensur gestattet nicht, dass sein Name genannt wird. Nennen wir ihn also „Soldat A“. Es geschah im Stadtteil Tel Rumeida der Stadt Hebron im  besetzten Süd-Westjordanland, wo eine Gruppe äußerst extremer rechter Siedler inmitten von etwa 160.000 Palästinensern lebt, die schwer von der israelischen Armee geschützt werden. Gewalttätige Vorfälle gibt es im Übermaß. Am fraglichen Tag griffen zwei dort ansässige Palästinenser einige Soldaten mit Messern an. Auf beide wurde sofort geschossen. Einer war tot, der andere lag schwer verwundet am Boden.


Gemälde von Ursula Behr, 2009

Der Ort war voller Menschen. Sanitäter kümmerten sich um den verwundeten Soldaten (aber nicht um den Palästinenser), einige Offiziere und Soldaten standen gemeinsam mit einigen der Siedler herum. Sechs Minuten später erschien Soldat A auf der Szene. Er sah vier Minuten lang um sich, näherte sich dem verwundeten Angreifer und schoss ihm ganz aus der Nähe kaltblütig eine Kugel in den Kopf. Die Autopsie zeigte, dass es tatsächlich der Schuss gewesen war, der den Palästinenser getötet hatte. Als Ausklang zeigt die Kamera, wie Soldat A einem der Siedler die Hand schüttelt, und zwar dem berüchtigten Baruch Marzel, dem Führer der verbotenen Partei des verstorbenen Meir Kahane, der vom Obersten Gerichtshof als Faschist bezeichnet worden war. 

Verdacht: Hinrichtung nach "Neutralisierung"

BIS DAHIN gibt es über die Tatsachen keine Diskussion. Aus einem einfachen Grund: Der ganze gewalttätige Vorfall wurde von einem ortsansässigen Palästinenser aus der Nähe auf Video aufgenommen. Die israelische Menschenrechts-Gruppe B’Tselem hat viele Palästinenser für genau solche Fälle mit Kameras ausgestattet. (B'Tselem ist ein biblischer Name und bedeutet „Ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes“. Nach Genesis 1,27 schuf Gott den Menschen „Ihm zum Bilde“. Das ist einer der menschlichsten Verse der Bibel, denn er besagt, dass alle Menschen ohne Unterschied nach dem Bilde Gottes geschaffen sind.)

Die Kamera spielt bei diesem Vorfall die zentrale Rolle. In der gegenwärtigen intifada wurden viele arabische Angreifer bei derartigen Vorfällen getötet. Der starke Verdacht besteht, dass viele von ihnen hingerichtet wurden, nachdem sie schon „neutralisiert“ waren. Mit diesem Wort werden in der Sprache der Armee arabische Angreifer bezeichnet, die kein Unheil mehr anrichten können, weil sie bereits tot, schwer verwundet oder gefangen genommen worden sind.

Du sollst nicht töten, wenn eine Kamera in der Nähe ist!

GEMÄSS israelischen Armeebefehlen ist Soldaten nicht erlaubt, feindliche Angreifer zu töten, sobald diese keine Gefahr mehr darstellen. Andererseits glauben viele Politiker und Armee-Offiziere, dass „ein Terrorist“, der einen Angriff verübt hat, „nicht am Leben gelassen werden sollte“. Das war ein informeller Befehl des verstorbenen Ministerpräsidenten Jitzchak Schamir (der früher selbst ein überragender Terrorist gewesen war).

Die Armee-Führung hat diese Vorschrift jedoch niemals angenommen. Als zu der Zeit, als Schamir Ministerpräsident war, der Chef von Schin Bet zwei gefangen genommene Bus-Entführer getötet hatte, wurde er vor Gericht gestellt und wurde schließlich vom Präsidenten Israels begnadigt. Er wurde aus dem Amt entlassen. Bei einem weiteren Vorfall in letzter Zeit wurde ein junges Mädchen von der Kamera gezeigt, wie sie durch die Straßen rannte und eine Schere schwang. Sie wurde aus kurzer Entfernung von einem Polizisten erschossen.

In allen diesen besonderen Fällen spielte die Kamera die ausschlaggebende Rolle. (Vielleicht sollte das göttliche Gebot ergänzt werden und dann lauten: „Du sollst nicht töten, wenn eine Kamera in der Nähe ist!“) Der Kommandeur des Soldaten A fragte ihn an Ort und Stelle, warum er den verwundeten Palästinenser erschossen habe. Soldat A antwortete spontan: „Er hat meinen Kameraden verwundet, darum hat er den Tod verdient.“ Kurz darauf merkte er, dass das die falsche Antwort gewesen war, deshalb ergänzte er: „Er hat sich bewegt und neben ihm lag ein Messer, dadurch habe ich mich bedroht gefühlt.“ Es stellte sich jedoch heraus, dass ein anderer Soldat das Messer schon weggestoßen hatte.

Später nannte Soldat A einen weiteren Grund, an dem er bisher festgehalten hat: „Ich sah eine Wölbung unter seiner Jacke und dachte, er hätte einen Sprengstoffgürtel um. Ich habe geschossen, um zu verhindern, dass er alle Umstehenden tötet.“ Das ist äußerst unwahrscheinlich, da die Kamera deutlich zeigt, dass alle anderen in der Nähe ganz gelassen dastanden. Der Verwundete war bereits durchsucht worden. Darum kündigte die Militärpolizei an, dass gegen den Soldaten A wegen Mordes ermittelt werden würde. Der israelische Verteidigungsminister Mosche Jaalon und Generalstabschef Gadi Eizenkot sicherten zu, der Fall werde mit äußerster Genauigkeit untersucht.

Ermittlung gegen den Soldaten A wegen Mordes
 
EIN RIESIGER Sturm brach los. Im ganzen Land griffen Rechte, Siedler, Politiker und ihresgleichen den Armeekommandeur in einer Sprache an, die man bis dahin noch nie gehört hatte. Der Erziehungsminister Naftali Bennett, der Führer der extrem rechten Partei „Jüdisches Heim“, griff den Verteidigungsminister, der einmal Generalstabschef gewesen war und ein moderater Likud-Rechter ist, wild an. Der gegenwärtige Generalstabschef Gadi Eizenkot ließ sich nicht beirren. Er wiederholte die Armeebefehle und unterstützte die Aktionen der Militärpolizei gegen den Mob der Denunzianten, die die sozialen Medien mit Tausenden von Nachrichten überschwemmten und den Armeekommandeur verfluchten. Benjamin Netanjahu unterstützte zuerst den Verteidigungsminister ein wenig und verfiel dann in Schweigen.

Das war nur der Anfang. Die Eltern von Soldat A griffen den Armeekommandeur in den Medien an, er habe ihr Kindchen  „im Stich gelassen“, die Angehörigen der Armee des Soldaten A verfluchten nach Belieben ihre Kommandeure und die Militärpolizei. Überall im Land erscholl der Schrei, Soldat A sei ein „Held“. Demonstrationen von Soldaten und Zivilpersonen fanden auf dem Armeegelände vor dem Militärgericht statt. Minister und Knesset-Abgeordnete kamen in den Gerichtssaal, um ihre Solidarität mit dem „Helden“ zu zeigen. Der Mob verlangte sowohl vom Armeechef als auch vom Verteidigungsminister, sie sollten zurücktreten.

Einer, der einen verwundeten Feind erschießt, ist kein Held
 
ICH MÖCHTE ein paar persönliche Bemerkungen hinzufügen. Im Krieg 1948 war ich Kampfsoldat in einer Kommandoeinheit, die mit dem ehrenvollen Titel „Simsons Füchse“ belohnt worden war. Ich nahm an 50 Gefechten teil. Ich schrieb zwei Bücher über diese Erfahrung. Das erste "In den Feldern der Philister" schrieb ich während des Krieges und darin beschrieb ich die Schlachten. Alles, was ich dort geschrieben habe, war die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, aber es war doch nicht die ganze Wahrheit. Das zweite Buch "Die Kehrseite der Medaille" wurde unmittelbar nach dem Krieg veröffentlicht und darin beschrieb ich die dunklen Seiten des Krieges, darunter auch Kriegsverbrechen.

Aufgrund dieser Erfahrung wage ich zu behaupten: Jeder, der Soldat A einen Helden nennt, beleidigt die Hunderttausende anständiger Kampfsoldaten, die von damals bis heute in der israelischen Armee dienten und dienen. Unter ihnen gab es wahre Helden (wie die vier in Marokko geborenen Soldaten, die ihr Leben wagten, um mich, als ich verwundet worden war, aus dem Geschützfeuer in Sicherheit zu bringen).

Ein Held ist ein Soldat, der sein Leben wagt, um einen Kameraden zu retten oder um eine andere wesentliche Mission zu erfüllen. Einer, der einen verwundeten Feind erschießt, ist kein Held, und wenn man ihn so nennt, ist das eine Beleidigung für alle anständigen Soldaten, die unter harten – manchmal unmöglichen – Umständen versuchen, ihre Menschlichkeit zu wahren. Ein anständiger Soldat braucht keine Armeebefehle, um zwischen Erlaubtem und Verbotenem, zwischen anständig und kriminell, zwischen einem Helden und einem erbärmlichen Feigling zu unterscheiden. Er kennt den Unterschied.

Ich verabscheue Krieg und Gewalt, aber...

MANCHE mögen sich über meine Haltung der Armee gegenüber wundern. Ich bin Pazifist. Ich verabscheue Krieg und Gewalt. Aber ich bin kein Einfaltspinsel. Ich weiß, dass jedes Land eine Armee braucht, nicht nur in Kriegszeiten, sondern auch in Friedenszeiten. Eine Armee ist eine Tötungsmaschine. Aber nach dem furchtbaren Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert setzte die Menschheit den Grausamkeiten Grenzen. Kurz gesagt: Gewalt ist erlaubt, wenn sie dem Zweck des Krieges dient, aber sie ist absolut verboten, wenn sie gegen Hilflose wie Gefangene und Verwundete eingesetzt wird.

Wie es einige von uns vorhergesehen haben, haben 50 Jahre Besetzung unsere Armee auf vielerlei Weise korrumpiert. Es ist nicht mehr die Armee, in der ich einmal gedient habe. Es ist keine Armee, auf die ich stolz sein kann. Sie ähnelt mehr einer Kolonial-Polizeimacht als einer Armee. Deren Pflicht ist es, unseren Staat inmitten seiner turbulenten Nachbarschaft zu verteidigen. Ausländer mögen sich über die Tatsache wundern, dass der Armeekommandeur in Israel im Allgemeinen gemäßigter ist, als es Regierung und Politiker sind. Aus historischen Gründen war das schon immer so. Ich tadele das Armeekommando für viele Fehler und Untaten, aber ich muss es in diesem Fall für seine Charakterstärke loben.

Die Fäulnis, die in den besetzten Gebieten begann, breitet sich aus

DIE HAUPTSACHE bei diesem Vorfall, die niemand auszusprechen wagt, ist, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte Israels zu Zeugen einer ausgewachsenen Meuterei geworden sind. Man kann es nicht anders bezeichnen. Eine Gruppe von Soldaten, die von einem großen Teil der politischen Szene unterstützt werden, meutert gegen ihre Kommandeure. Das ist eine starke Bedrohung der Staatsstruktur, eine Herausforderung für das, was von unserer Demokratie übrig geblieben ist. Die Fäulnis, die in den besetzten Gebieten begann, breitet sich im ganzen Land aus. Sie hat sich jetzt in der einzigen Institution manifestiert, die bisher von allen (jüdischen) Israelis geliebt wurde: der Armee.


Uri Avnery, geboren 1923 in Deutschland, israelischer Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist, war in drei Legislaturperioden für insgesamt zehn Jahre Parlamentsabgeordneter in der Knesset. Sein Buch „Israel im arabischen Frühling – Betrachtungen zur gegenwärtigen politischen Situation im Orient“ ist in der NRhZ Nr. 446 rezensiert.

Für die Übersetzung dieses Artikels aus dem Englischen danken wir der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler. Sie betreibt die website ingridvonheiseler.formatlabor.net. Ihre Buch-Publikationen finden sich hier.


Top-Foto:
Uri Avnery (arbeiterfotografie.com)


Online-Flyer Nr. 557  vom 13.04.2016



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