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Kultur und Wissen
Verkürzter, stereoskopischer, selbstkritikloser Westblick auf die arabische Welt
Verkannter Orient
Von Harald Schauff

Was macht den Orient aus? Die Bilder westlicher Medien dominiert der islamische Fundamentalismus mit seinen bärtigen, turbanbedeckten Gotteskriegern auf Pick-Ups, tief bis zur Unkenntlichkeit verschleierten Frauen und den drakonischen Strafen der Scharia, die vom Abhacken der Hände bis zum Kopf reichen, all das kulminiert im Terror des ‘Islamischen Staates’. In zweiter gemäßigter Reihe denkt man an Moscheen und Muezins, die zum Gebet rufen, vielleicht noch an Ölscheichs. Dahinter tauchen nostalgische Vorstellungen von Bauchtänzerinnen und Märchen aus Tausend und einer Nacht auf. 

 

 

Gerade die Fixierung auf den Islamismus hält die palästinensische Schriftstellerin Sahar Khalifa für reichlich verkürzt. In einem Artikel (‘Ich war die fünfte Enttäuschung’, le monde diplomatique September 2015) stellt sie fest, sie habe als arabische Frau verschiedene Epochen durchlebt, sich mit dem Zeitgeist verändert und auch selbst zum Wandel beigetragen. Selbst konservative arabische Familien schickten Mädchen in die Schulen, die später Lehrerinnen, Ärztinnen, Ingenieurinnen, Journalistinnen und Künstlerinnen würden. Viele arabische Frauen überflügelten die Männer. Die westlichen Medien würden ein starres Bild von ihnen zeichnen als beklagenswerte, verschleierte Kreaturen, unfähig sich zu verändern. 

Khalifa berichtet von einem ihrer Lehrer, der Wert legte auf Gerechtigkeit und Veränderung. Sie fand heraus, dass aufgeklärte und gebildete Menschen wie er zu Tausenden verfolgt und inhaftiert wurden von Regimen, die der Westen fleißig unterstützte. Zuerst taten dies die Briten und Franzosen, später die Amerikaner. Mit dem Begriff der Veränderung verbinde sich im arabischen Raum vor allem der Name des ägyptischen Staatschefs Gamal Abdul Nasser. Er regierte in den 50er und 60er Jahren. Nasser verfolgte eine panarabische Politik mit dem Ziel, die arabischen Welt, welche von den Kolonialmächten England und Frankreich während des Ersten Weltkrieges aufgesplittert worden war, zu einen. Er verstaatlichte den Suezkanal, woraufhin England und Frankreich gemeinsam mit Israel 1956 einen Feldzug gegen ihn starteten. Aus diesem ging Nasser als Sieger hervor und konnte seine Position weiter ausbauen. Westliche Medien diffamierten ihn als arabischen Hitler. 

Für Khalifa waren die 50er und 60er Jahre das ‘goldene Zeitalter des arabischen Nationalismus’. Es herrschte ein Zeitgeist der Befreiung und Veränderung. Frauen gingen ohne Schleier auf die Straße, besuchten zu Zehntausenden die Hochschulen und engagierten sich in der Politik. Sie trugen westliche Kleidung und tanzten zu Twist und Rockn’Roll. Man kopierte des westlichen Lebensstil, wollte jedoch nicht vom Westen beherrscht und kontrolliert werden. 

Diese Epoche des kulturellen Aufbruchs und Wandels der arabischen Welt ging zuende, als Nasser im Krieg von 1967 dem vom Westen unterstützten Israel unterlag. Der Aufstieg des Islamismus begann. Die USA und ihre Verbündeten unterstützten diesen gezielt mit vielen Millionen Dollar, um den linksliberalen arabischen Nationalismus zu bekämpfen. Auf diese Weise gewann die Muslimbruderschaft an Bedeutung. Zuvor war sie nur eine Randbewegung gewesen. 

Khalifa erinnert die Situation im Nahen Osten während der 70er und 80er Jahre an das Vorgehen der Amerikaner in Afghanistan. Auch dort habe man die Islamisten zuerst als Freiheitskämpfer aufgepäppelt, um sie später als Terroristen zu bekämpfen. Weitere Mittel und Unterstützung erhielten die islamisch-fundamentalistischen Gruppierungen von den mit den USA verbandelten antiliberalen und antisozialistischen Diktaturen. So flossen den Trägern sog. ‘islamischer’ Kleidung in Jordanien regelmäßige monatliche Zahlungen zu. 

Dank der massiven Unterstützung des Westens und der mit ihm verbündeten Diktatoren konnte der Islamismus auch im Bildungswesen Fuß fassen und sich weiter ausdehnen. Bis sich irgendwann der ‘Zauberlehrling’ gegen den ‘Zauberer’ wandte, wie es Khalifa formuliert: Die islamisch-fundamentalistischen Organisationen begannen an der Einrichtung einer streng islamistischen, antiwestlichen Gesellschaftsordnung zu arbeiten. Damit erntete der Westen die Früchte dessen, was er selbst jahrzehntelang gesät hatte. Angefangen mit der Beteiligung des CIA am Sturz der demokratisch gewählten Mossadegh-Regierung im Iran 1953 bis hin zum Irak-Krieg ein halbes Jahrhundert später, der letztlich den Nährboden bereitete für den Aufstieg des Islamischen Staates. Zu allem Überfluss reduziert er seine Wahrnehmung des Orients und der arabischen Kultur auf den von ihm direkt wie indirekt geförderten Islamismus. Hat man vergessen, woher die Teppiche stammen, auf denen heute in westlichen Wohnstuben gewandelt wird? Und die Zahlenziffern, die im digitalen Zeitalter allgegenwärtig sind? Wer hat sie erfunden? 

Es gab einmal Zeiten, da war das Morgenland dem Abendland in punkto Wissenschaft und Technik um Längen voraus. Im frühen Mittelalter bauten orientalische Tüftler künstliche Vögel, Raubtiere und Diener, die sich aufgrund ausgeklügelter Mechanismen scheinbar selbstständig bewegten (Informationen: DER SPIEGEL 26/2015). Arabische Ingenieure benutzten für diese komplizierten Konstrukte beweglich aufgehängte Gewichte, hydraulische Röhren, Ventile und Zahnstangengetriebe. Auf den Höfen vieler orientalischer Herrscher standen vergoldete Bäume, in denen künstliche Singvögel zwitscherten. Die Zwitscherbäume wurden mit Druckluft betrieben. Den Europäern des frühen Mittelalters erschienen diese mechanischen Automaten so eigenartig und wundersam, dass sie dahinter magische und übersinnliche Kräfte vermuteten. So glaubten sie in den Vögeln aus Metall Edelsteine mit Zauberkraft am Werk und hielten den Gesang für Windhauch, der durch Geisterbeschwörung in den Baum gelockt worden war. Man glaubte viel, weil man wenig wusste und sich in der Mechanik nicht auskannte. Sowohl kulturell als auch wissenschaftlich und technisch war das frühe europäische Mittelalter weit hinter die römische Antike zurück gefallen. 

Orientalische Tüftler setzten dagegen die bereits in der Antike begonnene Tradition mechanischer Konstruktionen fort. Bereits im dritten Jahrhundert vor Christus hatte der griechische Mechaniker Ktesibios wasserbetriebene Orgeln und Druckluft-Katapulte und

-Singvögel gebaut. Der arabische Erfinder al-Dschasari entwickelte im 12. Jahrhundert allerlei außergewöhnliche Apparaturen, u.a. eine riesige Elefantenuhr, Schöpfwerke, Wasserspiele und eine Kellnerin auf Rollen, die durch Hebel und Seilzüge bewegt wurde und Gästen am Tisch automatisch Wein nachschenkte. Europäische Handwerker wagten sich erst im 13. Jahrhundert an den Bau ähnlicher Apparate wie z.B. mechanischer Affen, die von Bäumen im Schlosspark von Hesdin in Nordfrankreich winkten. 

Dieser geschichtliche Hintergrund macht klar: Die arabische Welt besitzt eine lange gewachsene Tradition der Künste und Wissenschaft. An deren Überbleibseln in historischen Stätten, die zum Weltkulturerbe zählen, toben nun ausgerechnet die vom Westen hoch gepäppelten islamistischen Fanatiker ihre Zerstörungswut aus. Kein Vertun: Hätten westliche Mächte in den vergangenen Jahrzehnten die Entwicklung der arabischen Welt nicht massiv beeinflusst, um den Nachschub an Erdöl zu sichern, sähe es heute dort anders aus, in jedem Fall weniger konfliktgeladen. (PK) 

 

Harald Schauff ist Redakteur der Kölner Obdachlosen- und Straßenzeitung "Querkopf" und hat diesen Beitrag in deren aktueller Ausgabe veröffentlicht.



Online-Flyer Nr. 540  vom 09.12.2015



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