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Aktueller Online-Flyer vom 20. April 2024  

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Medien
Die Anschläge von Paris und ihre politischen und medialen Folgen
Muslime in einem großen Hexentest
Von Süleyman Bag

Nach jedem terroristischen Anschlag kursieren gerade in den sozialen Medien Verschwörungstheorien über Tatmotiv, Hintergründe und Hergang. Die Medien- und Islamwissenschaftlerin Dr. Sabine Schiffer sieht die Lösung in ernsthaften und transparenten polizeilichen und rechtlichen Untersuchungen, die dann in sauberen Ergebnissen münden müssten. Das Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo war wenige Stunden alt, da standen schon die Täter und ihre Motive fest. Die Terroristen waren Islamisten, sie hatten die Nase voll von den Karikaturen, die ihre Religion verunglimpften. So der einhellige Tenor in der Politik und den Medien.
 

Sabine Schiffer
NRhZ-Archiv
 
Was war richtig, was falsch an der medialen Darstellung? Wenige Tage vergingen, da wurden die ersten Stimmen laut, Muslime mögen sich doch von den Gräueltaten distanzieren - für Sabine Schiffer ein „Hexentest“. Im Interview mit Süleyman Bağ vom DEUTSCH TÜRKISCHES JOURNAL (DTJ-Online) spricht die Leiterin des Instituts für Medienverantwortung über die politischen und medialen Folgen des Anschlags vom 7. Januar und über die Ursachen, die es für Muslime nach derartigen Ereignissen fast unmöglich machen, sich richtig zu verhalten.
 
Süleyman Bağ: Im Zusammenhang mit dem Attentat auf Charlie Hebdo kursieren viele Verschwörungstheorien. Was sind berechtigte Fragen in Richtung der Geheimdienste und Polizei und was Verschwörungstheorien?
 
Sabine Schiffer: Was eine Verschwörungstheorie ist, kann man grundsätzlich erst nach Ermittlungen und Recherche wissen – nur verhindert dieses Label dieses offensichtlich vonseiten der Medien. Denn es konnte schon aufstoßen, dass man vor genauen Untersuchungen bereits Ergebnisse mitgeteilt bekam seitens der französischen Behörden. Etwa, wer die Geiseln im Supermarkt erschossen habe – sie könnten ja theoretisch auch bei der Befreiung umgekommen sein. Oder ob einer der ermittelnden Kommissare sich wirklich selbst umgebracht hat, wie es nach dem Fund seiner Leiche am Folgetag der Anschläge schon hieß. Auch wäre es inzwischen an der Zeit, die forensischen Untersuchungsergebnisse vorzulegen, weil bisher die Täteridentifikation beim Anschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion allein über einen gefundenen Personalausweis zu laufen scheint.
 
Wie kann man diese beiden voneinander trennen?
 
Es hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt, dass es neben Theorien über Verschwörungen auch tatsächlich Verschwörungen gab.
 
Können Sie Beispiele für Verschwörungen nennen?
 
Beispielsweise der Sturz des iranischen Premiers Mossadegh im Jahre 1953 war ein Coup amerikanischer und britischer Geheimdienste und kein spontaner Protest auf der Straße. Die rechtsextremen Anschläge in Italien (Stichwort: Bahnhof von Bologna) werden heute im Kontext von Gladio gesehen, also als Teil eines geheimen Netzwerkes der NATO. Inzwischen wird geprüft, inwiefern auch linksextreme Terroranschläge in Italien auf das Konto dieser Strukturen gehen - also etwa der Mord an Aldo Moro. Auch die Wiederaufnahme der Ermittlungen zum Anschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 spricht für eine Verschwörung und weniger für die Einzeltäterthese.
 
Wer hier Glaubwürdigkeit erzielen will, muss – egal ob Polizei oder Staatsanwaltschaft – ernsthafte Untersuchungen und saubere Ergebnisse vorlegen und sonst immer deutlich machen, dass es sich um Vermutungen handelt. Von Medienseite stellt sich die Aufgabe anders. Sie als idealtypische Vierte Gewalt müsste natürlich alles kritisch hinterfragen, was verlautbart wird, und das geschieht eindeutig zu wenig und wenn, dann zu spät geschieht – dann sind die Frames und Labels gesetzt – kommt man oft nicht mehr aus den Rahmungen raus, wie wir ja aktuell wieder sehen.
 
Nun sind fast drei Wochen nach dem Anschlag vergangen. Was weiß man und was sind Spekulationen, die als Gewissheit verbreitet werden?
 
Ich kenne den genauen polizeilichen Ermittlungsstand nicht, sondern bin auf Medienberichte angewiesen – da kann man nur vorsichtig von Fakten sprechen, denn viel Spekulatives wird im Laufe der Berichterstattung und vielen Wiederholungen faktiziert, d.h. es erscheint als erwiesen, obwohl es das nicht ist. Lassen Sie mich das an einem Beispiel festmachen: Der Mediendiskurs suggeriert, wir würden die Motive der Täter kennen. Das ist vielleicht ansatzweise im Fall des Trittbrettfahrers Coulibaly der Fall, weil es ein Video von ihm gibt. Aber in Bezug auf die Charlie Hebdo-Attentäter beruft man sich auf Augenzeugenberichte und Ausrufe der Mörder. Nun kann aber jeder „Allahu Akbar“ rufen – oder es aber gehört haben wollen. Das ist noch kein Beweis für die Motive. Und die Rangelei um Bekennerorganisationen, die offensichtlich die Untaten für Rekrutierungszwecke nutzen wollen, sagt auch noch nichts über deren Echtheit aus. Und wenn das SITE Institut oder der IntelCenter die Internetveröffentlichungen auf Authentizität prüfen, ist erst recht Vorsicht geboten – deren Geheimdienstnähe ist hinreichend bekannt oder sollte es zumindest sein.
 
Was kann man über die politische Instrumentalisierung des Attentats sagen?
 
Zunächst glaube ich, dass die Einordnung solcher Taten eher als Reflex, denn als bewusste Steuerung ablaufen. Die Schablonen der Wahrnehmung waren vorbereitet: Islamisten kämpfen gegen die Meinungsfreiheit und westliche Satire. Nachdem nun aber nicht nur die Einteilung der Welt in Muslime und Nichtmuslime bestätigt und verstärkt wurde, fällt auf, dass das Thema von wichtigen Vertragsabschlüssen ablenkt und diese in den Hintergrund treten, TTIP & Co., und dass man im Schulterschluss mit Muslimen zum gemeinsamen Kampf gegen Terror und IS auch im Nahen Osten aufruft. Hier werden weitere Maßnahmen zur militärischen Kontrolle des rohstoffreichen Raums legitimiert. In dem Zusammenhang muss man auch die Proteste gegen das neue Cover von Charlie Hebdo sehen: Zu Ausschreitungen kommt es vor allem da, wo die Menschen neokolonial dominiert werden – das trifft auf Tschetschenien ebenso zu, wie auf bestimmte Regionen in Afrika.
 
Wie gehen Medien mit dem Attentat um? Kann man Lernprozesse im Vergleich zu der Berichterstattung nach dem 11. September beobachten?
 
Mir fiel zunächst das reflexhafte Verhalten im Vergleich zum sog. Karikaturenstreit auf. Anscheinend haben die wenigsten Kollegen in der Zwischenzeit recherchiert, was sich damals wirklich hinter den Kulissen abspielte. Man hat ja ein halbes Jahr gebraucht, um den Abdruck der Jyllands Posten zu skandalisieren und zu dem zu machen, was wir als Bilder im Kopf haben. 2005 wurden die Karikaturen in der ägyptischen Tageszeitung Al Fajr während des Ramadan abgedruckt ohne Reaktion. Meine Kollegin Xenia Gleißner und ich haben die Hintergründe für das Bilderlexikon des Jahrhunderts von Gerhard Paul ausgeleuchtet.
 
Die noch ungeklärten Sachverhalte im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 haben es zwar mal ins japanische Parlament geschafft, aber hier werden die offenen Fragen einfach mit dem Tabuisierungstrick „Verschwörungstheorie“ ausgeblendet. Die Medienrolle ist aber nicht, Herrschaftsdiskurse zu verlautbaren, sondern stets kritisch zu hinterfragen. Ohne einen solchen Journalismus wären die Manipulationen um das sog. Celler Loch nie aufgedeckt worden. Und dem Journalisten Ulrich Chaussy ist es zu verdanken, dass nun endlich das Oktoberfestattentat neu untersucht werden soll. Eine solche unabhängige und internationale Untersuchung darf man in Bezug auf 9/11 durchaus auch noch verlangen, wo ja im Commission Report nicht einmal der Einsturz des dritten Turms, WTC 7, Erwähnung fand, geschweige denn untersucht wurde.
 
Die muslimischen Verbände haben eine Mahnwache organisiert, an der auch die Kanzlerin und der Bundespräsident teilgenommen haben. Waren die Veranstaltung selbst und ihre Botschaft richtig?

Mahnwache in Berlin – Gauck sagt Muslimen und Juden Unterstützung zu: „Es ist unser aller Sache“ (1)
Quelle: http://dtj-online.de
 
Tja, Muslime befinden sich in einem großen Hexentest: Wirft man sie ins Wasser und sie gehen nicht unter, gelten sie als Hexe und werden verbrannt. Gehen sie unter, waren sie keine Hexen, wie schön. Das klingt jetzt hart, aber lassen Sie mich das erläutern: Distanzieren sich Muslime nicht öffentlich von derlei Untaten, wirft man sie damit in einen Topf. Distanzieren sie sich jedoch, ziehen sie sich den Schuh quasi an – sie ordnen sich damit aktiv in den Kontext von irgendwelchen „Allahu Akbar“-Rufern ein. Machen wir zwei Gegenproben: Sollen wir die Charta der Menschenrechte verwerfen, weil im Namen der Menschenrechte Kriege legitimiert werden? Und wer distanziert sich von diesem Missbrauch? Oder sollen sich alle Juden weltweit dazu erklären, wenn die israelische Regierung Gaza bombardiert? Wie kommt man dazu, alle Juden in so einem Fall in einen Topf zu werfen? Das geht doch nicht. Dennoch freut man sich freilich, wenn sich jemand davon distanziert. Das ist das gleiche Dilemma.
 
Bezüglich der Mahnwache am Brandenburger Tor sehe ich aber noch ein anderes Problem: Einerseits freut man sich, dass unsere Staatsoberen sich daran beteiligen und gemeinsam mit den aufrufenden muslimischen Organisationen und allen Bürgern, die gekommen sind, gegen Gewalt und Polarisierung demonstrierten. Andererseits stehen gerade sie für die Politik im Ausland, die zu Gewalt und Eskalation führt. Deutschland liefert Waffen und Soldaten in Gegenden, wo Konflikte nach westlicher Intervention entstanden sind. Und das will ich mal mindestens auf das Jahr 1953 zurückführen, als die iranische Regierung unter Mossadegh von westlichen Geheimdiensten ausgehebelt wurde.
 
Am folgenden Tage haben die Printmedien es vermieden, ein Gruppenfoto von der Bühne zu verwenden, auf der Politiker solidarisch mit Vertretern der Religionsgemeinschaften zu sehen waren. Steckt Absicht dahinter oder war es Zufall?
 
Wie kommen Sie darauf? Gibt es eine quantitative Auswertung der Bebilderung der Berichterstattung?
 
Ich habe mir mehrere relevante Tageszeitungen an dem Tag gekauft. FAZ, SZ, Tagespiegel und andere. Auf der ersten Seite war kein Gruppenfoto. Lediglich die Bild-Zeitung hat auf der ersten Seite ein Foto verwendet, auf dem die Demonstranten zu sehen sind.
 
Das kann natürlich sein, dass es nicht auf die Titelseiten gehoben wurde. Das würde für das sprechen, was Walter van Rossum immer für die Abläufe in deutschen Redaktionsstuben beschreibt. Es handelt sich um eine Art Klassenreflex, der bei solchen Platzierungsfragen zum Ausdruck kommen könnte. Es gab ja durchaus Fotos des gemeinsamen Auftritts und Schulterschlusses – wie gesagt, ich fand eher die Vereinnahmung in Richtung „Wir bekämpfen gemeinsam den Terrorismus“ problematisch. Was genau ist damit gemeint, müsste man fragen. Der „War on Terror“ à la George Bush hat schon viel Unheil angerichtet. Irgendwann kommt ein exportierter Krieg zurück, das kann man aus der deutschen Geschichte doch gut lernen – und es ist bedenklich, dass das Fazit „Nie wieder Krieg!“ inzwischen so löchrig geworden ist.

Es kamen an den Folgetagen und kommen immer noch Vertreter muslimischer Verbände und muslimische Theologen zu Wort. Was machen die Stimmen aus der Mitte der Muslime beim Medienauftritt falsch/richtig?

Auch hier befinden sich die Muslime in einem Teufelskreis. Man kann jeden Gesetzestext, jeden religiösen Text, alle Ideale und jede Ideologie missbrauchen. Wer nun „koranisch“ zu solchen Ereignissen Stellung nimmt, stellt die Glaubenslehren des Islam als relevant in diesen Kontext. Und letztendlich kann man ja nicht die Komplexität einer Textexegese deutlich machen, sondern ist gezwungen, in der Auswahl einiger Zitate zu verbleiben. Genau das tun Islamhasser auch, und sie rechtfertigen damit gar ihre „Argumentationsweise“, weil sie ja auf den ersten Blick genauso vorgehen wie Muslime, nur halt andere Stellen auswählen. Genauso wie im Übrigen immer Fanatiker Texte in ihrem fanatischen Sinne interpretieren.
Und Verneinung erkennt das Unterbewusstsein ja nicht. Also, jede Äußerung wie „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“ ist überflüssig, weil sie genau diese Verbindung wiederholt. Außerdem kommen manche Menschen erst drauf, dass an einer Verbindung was dran sein könnte, wenn man Selbstverständliches ausspricht. Da braucht man noch nicht einmal einen Henryk Broder, der auf seiner „Achse des Guten“ schon lange gezielt vorbereitet, was sich aktuell auf der Titelseite des Focus niederschlägt. Auf achgut.com gibt es Fallsammlungen unter dem Titel „Das hat alles nichts mit dem Islam zu tun“, wo die Untaten von Boko Haram mit Anschlägen in Libyen, Syrien oder sonstwo quasi als „islamische Tat“ angeboten werden. Diese Ironisierung der Aussage von muslimischen Sprechern hat nun ihren vorläufigen und völlig humorlosen Höhepunkt auf dem Focus-Cover gefunden, wo in dicken Lettern steht DOCH.
Ja, und nicht wenige Muslime setzen sich – eigentlich lobenswerterweise – mit dem Missbrauch ihrer Religion durch Extremisten auseinander. Selbstkritik halte ich immer für einen richtigen Ansatz, weil ja nur jeder bei sich selbst anfangen kann, wenn man etwas verändern möchte. Aber hier fehlt die Machtanalyse. Man müsste sich von muslimischer wie nichtmuslimischer Seite mehr mit dem Thema Geostrategie befassen und erfassen, warum genau viele Konfliktherde in der sog. islamischen Welt liegen. Das hat etwas mit Weltherrschaftsansprüchen, Wirtschafts- und Ressourcenfragen sowie denen nach den Ressourcenwegen zu tun. Man schaue sich beispielsweise mal an, wann Al Qaida im Jemen auftauchte und an welcher Meerenge der Jemen liegt – dann klärt sich auch schnell, warum im gegenüberliegenden Somalia schon lange Krieg brodelt.
Kommt man in diesem Kontext mit Äußerungen zur Kategorie „Was sagt denn der Koran dazu?“, dann bedient man falsche Zuweisungen und Frames selbst.

Ja, aber Muslime, die solche Anschläge begehen, haben doch ihren Islam verraten. Warum soll man das nicht thematisieren?

Weil diese Muslime eben nicht nur ihren Islam verraten haben, sondern auch ihre Verfassung. Man geht als vermeintlich Betroffener vielleicht schnell in die Falle, die Zuweisung zu akzeptieren, dass man primär als Muslim wahrgenommen wird. Man ist aber immer viel mehr und wenn man will, dass das wahrgenommen wird, muss man es auch selber vormachen. An dieser Stelle können Muslime sehr viel tun, indem sie die aufgestellten Fettnäpfe umgehen und nicht die geformten Schablonen bedienen.
Als schwächere Glieder in einer Diskurshierachie zeigt das leider den geringen Spielraum, der den Muslimen als Dauerdiffamierte hier zugewiesen wurde. Jedenfalls in Bezug auf die herrschende Meinung können sie kaum selbst gestalten – sich aber mit entsprechenden Kräften verbünden. Muslime – wie die meisten Bürger – entscheiden ja nicht darüber, was veröffentlicht wird und was nicht. Ihnen wird man auf Grund des großen und geschürten Misstrauens auch am wenigsten glauben. Dass etwa die aktuellen Schablonen falsch sind, zeigt ein kurzer Blick in die Statistik. Hier hat sich einer die Mühe gemacht.(2)


Are all terrorists Muslims?
Quelle: http://www.thedailybeast.com/articles/2015/01/14
 
Tatsächlich werden die wenigsten Terrorakte von Muslimen verübt. Wie wirkt das auf Sie? Überzeugend? Oder apologetisch? Leider ist es mit unser aller Aufklärung nicht so weit hin, wie gerne idealisiert wird. Rational ist das alles nicht mehr.

Sie sprechen oft von einem Herrschaftsdiskurs. Was heißt das für die mediale Darstellung des Attentates?

Der Frame der Verteidigung der Meinungsfreiheit gegen einen mächtigen Feind ist vollkommen falsch. Freilich kann man alles durch den Kakao ziehen, und Charlie Hebdo war da einigermaßen konsequent und hat alles verspottet, zuletzt im Dezember mit einer antisemitischen Veröffentlichung, wo alle Juden aufgefordert wurden zu spenden, damit sie noch für 2014 Spendenquittungen erhalten könnten, um ihre Steuerlast zu reduzieren. Die Unterstellung wird wohl deutlich. Nun haben wir es aber spätestens seit dem sog. Karikaturenstreit nicht mehr mit einem linken Protestblatt zu tun, das sich gegen Herrschaft positioniert, sondern da hat man den Herrschaftsdiskurs mitgetragen. Das mag damals ein Missverständnis gewesen sein, weil man vielleicht nicht wusste, dass die Jyllands Posten kurz vor der Aufforderung, Muhammad-Karikaturen zu zeichnen, antichristliche Karikaturen abgelehnt hatte. Damals meinte man im Sinne der Verteidigung der absoluten Meinungs- und Pressefreiheit diese nachdrucken zu müssen – und man ging noch darüber hinaus. Man hat aber damit, und tut es permanent, eine schwache Gruppe attackiert. Das ist antilinks und stützt die herrschende Klasse. Entgegen allen Allmachtsfantasien, die sich in dem Wort „Islamisierung“ ausdrücken, sind Muslime weltweit nicht diejenigen, die die politische Agenda vorgeben – auch nicht Saudi-Arabien, das seit 1973 in einer eng gefassten und abhängigen Symbiose mit den USA lebt, wie es u.a. John Perkins in seinem Buch „Bekenntnisse eine Economic Hintman“ aufdeckt.
Viele sprechen von „Europas 11. September“. Was ist ihre Einschätzung?

Die Gräben wurden tiefer gezogen. Die Überwachungspläne wurden wieder aus der Schublade gezogen. Wenn es der Zivilgesellschaft nicht gelingt, hiergegen zusammen zu stehen, dann wird die Entwicklung keine gute sein.

Sie haben ein Foto, das wir als DTJ Online bei einem Artikel verwendet hatten, kritisiert. Darauf war ein Plakat mit der Aufschrift „Nicht jeder Muslim ist ein Terrorist“ abgebildet. Warum ist die Verwendung solcher Fotos problematisch?

Dieses Bild fällt unter die Kategorie „Das Gegenteil von gut, ist gut gemeint“. Das war sicher gut gemeint von den Demonstranten gegen Pegida, aber es zeigt auch ein tief sitzendesVorurteil. Denn so ein Text enthält eine Präsupposition, eine Unterstellung. Gegenproben erleichtern oft das Durchschauen – versuchen wir es: Nicht alle Deutschen sind Nazis. Nicht alle Juden sind Finanzhaie. Nicht alle Männer sind Machos. Nicht alle Polen sind Autodiebe. Hinter all den Verneinungen, die das Unterbewusstsein gar nicht erkennt, stecken Behauptungen. Diese will man eigentlich konterkarieren, aber man verstärkt mit solchen Sätzen derlei Grundannahmen. Derlei Sprachfallen gibt es viele.(3) Manche öffentlich Aktiven lassen sich deshalb Rhetorik-Schulungen angedeihen. Das wäre vielleicht ein Tipp auch für die Vertreter muslimischer Verbände.
Rechnen Sie mit einer weiteren Eskalation in den kommenden Wochen und Monaten?

Ja. Mit derlei Eskalationen rechne ich schon lange, auch aufgrund der permanenten Diskursbeobachtungen, die wir im Institut machen. Bisher ist es nicht gelungen, die Teufelskreise zu durchbrechen. Und solange sich an der ungerechten Weltwirtschaftsstruktur nichts ändert, deren Erhalt mit Kriegen abgesichert wird, bin ich pessimistisch. Dabei bin ich überzeugt, dass es kostengünstiger und sowieso menschlicher und damit deeskalierend wäre, wenn man faire Strukturen implementieren würde - wozu man mit einer fairen Bezahlung von Rohstoffen beginnen könnte.
 
Antisemitismus und IslamophobieSabine Schiffer.jpg
Ein Buch von Sabine Schiffer und Constantin Wagner


Wer ist aktuell in Europa mehr gefährdet: Muslime oder Juden?

Entschuldigen Sie, aber die Frage zieht mir schon etwas die Schuhe aus. Wie wir in unserem Buch „Antisemitismus und Islamophobie – ein Vergleich“(4) aufzeigen, bringt eine Opferkonkurrenz zwischen Minderheiten nichts, sondern nur deren solidarisches Zusammenstehen. Das haben einige Vertreter ganz aktuell eindrücklich gezeigt. Juden und Muslime gegeneinander auszuspielen, ist ebenfalls Teil von Herrschaftsdiskurs. Sie sind als Minderheiten gleichermaßen gefährdet und darum gilt es, sie auch gleichermaßen zu schützen – was bisher nicht geschieht. Und das bedeutet auch gleichermaßen gegen antijüdische wie antimuslimische und weitere Ressentiments vorzugehen – und auch da haben wir noch einiges nachzuholen. (PK)
 
(1) http://dtj-online.de/gauck-mahnwache-berlin-muslime-juden-46056 vom 13.1.2015
(2) http://www.thedailybeast.com/articles/2015/01/14/are-all-terrorists-muslims-it-s-not-even-close.html
(3) http://www.migazin.de/2010/10/01/die-grenzen-wohlmeinender-diskurse-rassismuskritische-aufklarung-auf-verlorenem-posten/
(4) http://www.amazon.de/Antisemitismus-Islamophobie-Vergleich-Sabine-Schiffer/dp/3937245057
 
 
Dr. Sabine Schiffer (*1966 in Geilenkirchen) ist Sprachwissenschaftlerin und Medienpädagogin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit dem Islambild in deutschen Medien und „Hate Speech“ (sinngemäß übersetzt: „Hassrede“) in islamfeindlichen Blogs. Im November 2005 gründete sie das unabhängige Institut für Medienverantwortung (IMV) in Erlangen, das sie bis heute leitet und mit freien Mitarbeitern betreibt. Seit 2012 ist sie als Referentin für die Journalistenschule World Media Akademie in Offenbach am Main tätig, seit dem Wintersemester 2012 als freie Dozentin für den Studiengang International Media Studies an der DW Akademie in Bonn.
 
Dieses Interview haben wir mit Dank von Deutsch Türkisches Journal übernommen:
http://dtj-online.de/muslime-paris-distanzierung-schiffer-47104
 


Online-Flyer Nr. 497  vom 11.02.2015



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