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Kommentar
Ex-Mossad-Chef: Zum ersten Mal fürchte ich für die Zukunft des Zionismus
Israel galoppiert blind in Richtung Bar Kochbas
Von Schabtai Schavit

Seit dem Beginn des Zionismus im späten 19. Jahrhundert wird die jüdische Nation im Land Israel demografisch und territorial immer umfangreicher, dem anhaltenden Konflikt mit den Palästinensern zum Trotz. Das ist uns gelungen, weil wir weise und strategisch klug gehandelt und uns nicht mit dem törichten Versuch aufgehalten haben, unsere Feinde davon zu überzeugen, dass wir im Recht sind.

Seit ich mir eine eigene Meinung bilden kann, mache ich mir heute zum ersten Mal Sorgen über die Zukunft des zionistischen Projekts. Ich mache mir einerseits über die kritische Masse der Drohungen gegen uns und andererseits über die Blindheit und politische und strategische Lähmung der Regierung Sorgen. Obwohl der Staat Israel von den Vereinigten Staaten abhängt, haben die Beziehungen zwischen den beiden Ländern einen Tiefpunkt erreicht, den sie nie zuvor hatten. Unser größter Markt Europa ist unser müde geworden und ist dabei, uns Sanktionen aufzuerlegen. Für China ist Israel ein attraktives High-tech-Projekt und wir verkaufen dem Land unsere nationalen Güter, um Profit zu machen. Russland wendet sich allmählich gegen uns, unterstützt unsere Feinde und geht ihnen zur Hand.
 
Antisemitismus und Hass gegen Israel haben ein Ausmaß erreicht, das bis zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg unbekannt war. Unsere öffentliche Diplomatie und Öffentlichkeitsarbeit haben kläglich versagt, während die der Palästinenser viele wichtige Erfolge in der Welt erzielt haben. Universitätsgelände im Westen, besonders in den USA, sind Orte, an denen sich die künftige Führungsschicht ihrer Länder besonders gut entwickelt.
 
Wir verlieren den Kampf um die Unterstützung Israels in der akademischen Welt. Immer mehr jüdische Studenten kehren Israel den Rücken. Die globale BDS-Bewegung (boycott, devestment, sanctions / Boykott, Kapitalabzug, Sanktionen) gegen Israel, die zunehmend Israels Delegitimierung betreibt, hat an Größe zugenommen und ziemlich viele ihrer Mitglieder sind Juden.
 
In dieser Zeit der asymmetrischen Kriegsführung setzen wir nicht unsere gesamte Kampfkraft ein und das wirkt sich nachteilig auf die Abschreckung aus.
 
Die Debatte über den Preis von Milky-Pudding (1) und ihre wichtige Rolle im öffentlichen Diskurs zeigt einen Verfall der Solidarität, die eine notwendige Bedingung für die Fortsetzung unserer Existenz in diesem Land darstellt. Die lebhafte Nachfrage der Israelis nach ausländischen Pässen, deren Grundlage ist, dass sie unbedingt Bürger eines anderen Landes werden wollen, weist darauf hin, dass das Sicherheitsgefühl der Menschen einen Knacks bekommen hat.
 
Ich mache mir Sorgen, weil ich zum ersten Mal sehe, wie sich Überheblichkeit und Arroganz mit mehr als nur einem bisschen messianischem Denken verbinden und damit den Konflikt zu einem heiligen Krieg werden lassen. Bisher ist es ein lokaler politischer Konflikt, den zwei kleine Nationen über ein kleines und begrenztes Stück Land austragen, jedoch sind starke Kräfte in der religiösen zionistischen Bewegung so verrückt, alles ihnen Mögliche zu tun, diesen Konflikt zu einem der schrecklichsten Kriege werden zu lassen, denn in einem Religionskrieg wird die gesamte muslimische Welt gegen uns antreten.
 
Gleichermaßen sehe ich eine Loslösung von internationalen Prozessen und ihrer Bedeutung für uns und einen Mangel an Verständnis dafür. Der rechte Flügel in seiner Blindheit und Dummheit drängt die israelische Nation in die unwürdige Stellung, die im 4. Buch Moses (23,9) bezeichnet wird: Siehe, ein Volk, es wohnt für sich/ und rechnet sich nicht zu den Völkern. (2)
 
Ich mache mir Sorgen, weil ich sehe, wie die Geschichte sich wiederholt. Die Nation Israel galoppiert in einem Zeittunnel blind in Richtung des Zeitalters Bar Kochbas (3) und seines Krieges gegen das Römische Imperium. Die Folge dieses Konflikts waren einige Jahrhunderte der nationalen Existenz im Lande Israel, denen 2000 Jahre im Exil folgten.
 
Ich mache mir Sorgen, weil – soweit ich das verstehe – die Vorstellung eines Exils nur den säkularen Bevölkerungsteil des Staates beängstigt, diejenigen, deren Weltsicht politisch im Zentrum und in der Linken angesiedelt ist. Das ist der geistig gesunde und liberale Bevölkerungsteil, dem klar ist, dass Exil die Zerstörung des jüdischen Volkes bedeutet. Der charedische Teil (4) lebt ohnehin nur aus Gründen der Zweckdienlichkeit in Israel. Was das Wohngebiet angeht, so sind Israel und Brooklyn für sie gleichwertig. Im Exil werden sie weiterhin als Juden leben und dann eben dort geduldig auf die Ankunft des Messias warten.
 
Die religiöse zionistische Bewegung glaubt, die Juden seien von Gott erwählt. Für diese Bewegung ist Territorium ein nicht so heiliger Wert wie andere Werte. Die Bewegung ist bereit, alles, selbst zum Preis eines Misserfolges und einer Gefahr für das Third Commonwealth, zu opfern. Wenn eine Zerstörung stattfindet, wird die religiöse Bewegung diese in Glaubenssätzen folgendermaßen erklären: Wir hatten Misserfolg, weil wir “gegen Gott gesündigt haben”. Darum, so werden sie sagen, ist das nicht das Ende der Welt. Wir gehen ins Exil, bewahren unser Judentum und warten geduldig auf die nächste Gelegenheit.
 
Ich denke da an Menachem Begin, einen der Väter der Vision vom Großen Israel. Für die Erfüllung dieses Traumes kämpfte er sein Leben lang. Als sich dann aber die Tür für einen Frieden mit Ägypten, unserem bis dahin größten Feind, öffnete, gab er um des Friedens willen den Sinai auf – ein ägyptisches Gebiet, das dreimal so groß wie Israels Gebiet innerhalb der Grünen Linie ist. Mit anderen Worten: Es gibt Werte, die heiliger als Land sind. Frieden, der Leben und Seele wahrer Demokratie ist, ist wichtiger als Land.
 
Ich mache mir Sorgen, dass große Teile der israelischen Nation die ursprüngliche Vision des Zionismus vergessen haben oder dass sie sie beiseite schieben. Die Vision ist die Errichtung eines jüdischen und demokratischen Staates für das jüdische Volk im Land Israel. In dieser Vision sind keine Grenzen gezogen und die gegenwärtige freche Politik arbeitet dagegen.
 
Was können wir tun und was sollten wir tun? Wir müssen einen archimedischen Punkt finden, von dem aus wir die gegenwärtige Verschlechterung sofort aufhalten und die heutige Realität sofort umkehren können. Ich schlage vor, dass wir diesen Punkt dadurch finden, dass wir den Vorschlag der Arabischen Liga von 2002 nutzen. Dieser wurde teilweise von Saudi-Arabien gemacht. Unsere Regierung muss die Entscheidung treffen, dass dieser Vorschlag die Grundlage für die Gespräche mit den gemäßigten arabischen Staaten sein soll, die von Saudi-Arabien und Ägypten angeführt werden.
 
Unsere Regierung sollte als Vorbereitung für diese Bekanntgabe dreierlei tun:
1. Sie sollte eine künftige Verhandlungsstrategie für sich und gleichzeitig ihre Stellungnahme zu den in dem Vorschlag der Arabischen Liga aufgeführten Punkten festlegen.
2. Sie sollte einen geheimen Kanal für einen Dialog mit den Vereinigten Staaten einrichten, um die Idee zu prüfen und im Voraus Einigkeit über die roten Linien und darüber herzustellen, in welchem Maß die USA bereit sind, in einen derartigen Prozess zu investieren. 3. Sie sollten einen geheimen amerikanisch-israelischen Dialog-Kanal mit Saudi-Arabien einrichten, um im Voraus Einigkeit über die Begrenzung der Punkte, über die gesprochen werden soll, herzustellen und die Erwartungen zu koordinieren. Wenn die geheimen Prozesse erst einmal abgeschlossen sind, wird Israel öffentlich ankündigen, dass es bereit ist, auf der Basis des Dokuments der Arabischen Liga mit Gesprächen zu beginnen.
 
Ich zweifele nicht daran, dass die Vereinigten Staaten und Saudi-Arabien – jedes Land aus seinen eigenen Gründen – positiv auf eine derartige Initiative Israels reagieren werden. Dann wird die Initiative zu dem archimedischen Punkt, von dem aus die Situation vollkommen verändert werden kann. Bei aller Kritik, die ich am Oslo-Prozess habe, kann ich doch nicht leugnen, dass zum ersten Mal in der Geschichte des Konflikts, unmittelbar nachdem die Oslo-Vereinbarungen unterzeichnet waren, fast alle arabische Staaten Gespräche mit uns aufnahmen, uns Türen öffneten und auf wirtschaftlichem Gebiet und auf anderen Gebieten noch nie da gewesene Gemeinschaftsunternehmen in Angriff nahmen.
 
Zwar bin ich nicht so naiv zu denken, dass ein derartiger Prozess den lange ersehnten Frieden bringen wird, ich bin jedoch sicher, dass ein derartiger Prozess, so langwierig und ermüdend er auch sein wird, zuerst Vertrauen bildende Maßnahmen aufbauen und später Sicherheitsvereinbarungen hervorbringen wird, mit denen zu leben beide Konfliktparteien bereit sein werden. Der Fortschritt der Gespräche wird natürlich von der Ruhe in der Sicherheitssphäre abhängen, die aufrechtzuerhalten beide Seiten verpflichtet sein werden. Während dieser Gespräche kann es durchaus geschehen, dass beide Seiten bereit sein werden, Kompromisse mit der Gegenseite in Betracht zu ziehen, die den Gedanken einer Koexistenz Seite an Seite fördern. Wenn gegenseitiges Vertrauen entwickelt werden sollte – und die Chancen, dass das unter der Schirmherrschaft der USA und Saudi-Arabiens geschieht, sind ziemlich groß – wird es möglich sein, auch Gespräche über die vollständige Lösung des Konflikts aufzunehmen.
 
Eine derartige Initiative verlangt eine wahre und mutige Führung, die zurzeit kaum in Sicht ist. Aber wenn sich der Ministerpräsident den Ernst der derzeitigen Menge der Drohungen gegen uns, die Torheit der gegenwärtigen Politik, die Tatsache, dass die Urheber dieser Politik wichtige Elemente der religiösen zionistischen Bewegung und extrem rechts sind, dazu die verheerenden Folgen – bis zur Zerstörung der zionistischen Vision – klarmacht, findet er vielleicht den Mut und die Entschlossenheit, die Vorgehensweise, die ich vorschlage, aufzunehmen.
 
Diese Stellungnahme habe ich verfasst, weil ich denke, dass ich sie meinen Eltern schuldig bin, die ihr Leben der Erfüllung des Zionismus gewidmet haben; ich habe sie auch für meine Kinder, meine Enkel und die Nation Israel verfasst, der ich Jahrzehnte lang gedient habe. (PK)
 
(1) http://www.alsharq.de/2014/mashreq/israel/protest-israel-es-geht-um-mehr-als-pudding/
(2) Zürcher Bibel
(3) http://de.wikipedia.org/wiki/Bar-Kochba-Aufstand
(4) Das ultraorthodoxe bzw. charedische Judentum (hebr. ‏יַהֲדוּת חֲרֵדִית‎ jahadut charedit) ist die theologisch und sozial konservativste Richtung innerhalb des Judentums. Die in nichtjüdischen Medien gängige Bezeichnung "ultraorthodox" wird von den Anhängern selbst zumeist abgelehnt; sie bezeichnen sich als "streng orthodox" oder "charedisch". Die im Hebräischen gebräuchliche Bezeichnung für einen Anhänger dieser Richtung ist ebenfalls Charedi (‏חֲרֵדִי‎, Mehrzahl Charedim ‏חֲרֵדִים‎, von charada ‏חֲרָדָה‎ „Furcht“, deutsch etwa „Gottesfürchtiger“). http://de.wikipedia.org/wiki/Ultraorthodoxes_Judentum
 
Der Autor (*1939) war von 1989 bis 1996 Generaldirektor des Mossad, des für weltweite Nachrichtenbeschaffung, Geheimaktionen und Terrorismusbekämpfung zuständigen israelischen Geheimdienstes. Er hat diesen Artikel am 24. November in der Zeitung Haaretz veröffentlicht. http://www.haaretz.com/opinion/.premium-1.628038. Mehr Informationen über ihn unter http://en.wikipedia.org/wiki/Shabtai_Shavit
Wir danken der Schriftstellerin Ingrid von Heiseler dafür, dass sie uns auf diesen Kommentar aufmerksam gemacht und ihn für uns übersetzt hat. 
 


Online-Flyer Nr. 487  vom 03.12.2014



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