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Aktueller Online-Flyer vom 23. April 2024  

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Aktuelles
"Polizeipraktiken und gewaltsame Todesfälle im Polizeigewahrsam"
"Brechmittel-Folter"
Von Rolf Gössner

Am kommenden Freitag soll im "Brechmittelprozess“ vor dem Landgericht Bremen die Einstellung des Strafverfahrens gegen den angeklagten Arzt Igor V. erörtert werden. In dem Prozess geht es um nicht weniger als um den gewaltsamen Tod eines mutmaßlichen Drogen-Kleindealers vor neun Jahren im Polizeigewahrsam. Der im Auftrag der Polizei tätige Arzt hatte dem aus Sierra Leone stammenden Laye-Alama Condé Ende 2004 im Polizeipräsidium zwangsweise Brechmittel und literweise Wasser eingeflößt, um ihn zum Erbrechen verschluckter Kokainkügelchen zu zwingen.
 
Der an Händen und Füßen gefesselte 35jährige, der zudem von zwei Polizeibeamten festgehalten wurde, fiel während dieser über einstündigen grausamen Zwangsprozedur in Ohnmacht. Arzt und Polizeibeamte setzten die Prozedur zur Beweissicherung gleichwohl fort, auch noch als ein Notarzt herbeigerufen worden war. Condé fiel ins Koma und starb wenige Tage später.
 
Fehlurteile und scharfe Rügen: Zweimal sprach das Bremer Landgericht den angeklagten Arzt vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei – wegen Unerfahrenheit und Überforderung und weil er die Todesgefahr nicht habe vorhersehen können. Und zweimal kassierte der Bundesgerichtshof (BGH) die Bremer Urteile später in ungewöhnlich scharfer Form: Die Urteile seien „durchgreifend rechtsfehlerhaft“, der zweite Freispruch, der Vorgaben des ersten BGH-Urteils missachte, „fast grotesk falsch“. Der Arzt habe den Brechmittel-Einsatz auch nach einer ersten Ohnmacht Condés unter „menschenunwürdigen Umständen“ fortgesetzt. Deshalb seien die Voraussetzungen einer Körperverletzung mit Todesfolge gegeben, und damit die eines Gewaltverbrechens.
 
Die BGH-Urteile, die wie schallende juristische Ohrfeigen klingen, sind für das Landgericht Bremen bindend. Danach wäre ein Freispruch jedenfalls kaum noch denkbar – und eine Einstellung schon gar nicht, weil diese nur im Fall von Vergehen möglich ist.
 
Einstellungspläne
 
 Dennoch tendiert die Bremer Schwurgerichtskammer dazu, die Tat aufgrund angeblich neuer Tatsachenfeststellungen und einer widersprüchlichen Aussage des Angeklagten wieder zur fahrlässigen Tötung herabzustufen - und damit die Vorgaben des BGH womöglich zu ignorieren. Einer Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld müssten lediglich Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Angeklagter zustimmen – nicht jedoch die Nebenklägerin, die Mutter des Todesopfers, die zweimal die Bremer Fehlurteile mit so großem Erfolg angegriffen hatte.
 
Gegen eine Einstellung gäbe es kein Rechtsmittel mehr, so dass eine erneute Schelte vom BGH vermieden würde und die grausame Polizeimaßnahme mit Todesfolge nach dem dritten Anlauf für immer ungesühnt und folgenlos bliebe. Justizielle Milde im Umgang mit schwerer Polizeigewalt?
 
Damit würde eine unmenschliche, unverhältnismäßige Misshandlungsprozedur in staatlichem Auftrag und unter staatlicher Obhut zum Bagatelldelikt herabgestuft und eine weitere justizielle Aufarbeitung und Ahndung für immer unmöglich gemacht. Niemand würde für diesen Todesfall im Polizeigewahrsam zur Verantwortung gezogen – weder die damals verantwortlichen Senatoren noch die beteiligten Polizeibeamten und nun womöglich auch nicht der unmittelbar handelnde und verantwortliche Arzt.
 
Folterähnliche Polizeimaßnahme
 
2006 stufte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die zwangsweise Brechmittelvergabe als folterähnliche Polizeimaßnahme ein und erklärte sie für menschenrechtswidrig; sie verstoße gegen das Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention – insoweit kann man also von „Brechmittel-Folter“ sprechen. Die Zwangsmethode, wie sie in Bremen besonders gegenüber schwarzen Drogenverdächtigen üblich war, konnte allerdings schon vor diesem Urteil als folterähnliche Maßnahme erkannt werden und war von Menschenrechtsorganisationen, Ärzte- und Juristen-Verbänden aus ethischen und menschenrechtlichen Gründen heftig kritisiert worden. Trotzdem blieb die Prozedur offizielle Bremer Politik - auch ungeachtet der häufig auftretenden Komplikationen und eines Todesfalles in Hamburg (2001).
 
Der angeklagte Arzt, der offenbar ärztlich-ethische Standards staatlicher Autorität unterordnete und nun zum dritten Mal vor Gericht steht, wirkt verloren auf der Anklagebank. Denn dorthin gehören auch diejenigen, die diese folterähnlichen Polizeipraktiken angeordnet, zugelassen oder sich an ihnen beteiligt hatten – also das gesamte damalige menschenrechtswidrige Brechmittelzwangsverabreichungssystem. Das betrifft im vorliegenden Fall zumindest die damals verantwortlichen Innen- und Justizsenatoren, den damaligen Oberstaatsanwalt und Polizeipräsidenten, sowie die beiden an dem Brechmittel-Einsatz unmittelbar beteiligten Polizeibeamten, die ihr Opfer gefesselt hatten und mit Gewalt festhielten, um die Misshandlung durchführen zu können.
 
Die Bremer Staatsanwaltschaft hatte es nicht für nötig befunden, gegen diese Personen rechtzeitig Ermittlungen einzuleiten und ggfls. Anklagen zu erheben. Außerdem hielt sie es nicht für nötig, gegen die offenkundig fehlerhaften Freisprüche des Landgerichts Bremen Rechtsmittel einzulegen; dafür sorgte einzig und allein die Mutter des Todesopfers als Nebenklägerin. Möglicherweise ist die Staatsanwaltschaft in dieser Sache befangen, weil sie das menschenrechtswidrige Brechmittelzwangsverabreichungssystem schließlich selbst mitzuverantworten hatte.
 
Die Geschichte dieses Verfahrens verbietet es, den Prozess ohne rechtsmittelfähiges Urteil mit einer Einstellung zu beenden. Das dürfte allen Verfahrensbeteiligten bewusst sein. Die Liga appelliert an alle Verantwortlichen, insbesondere auch an Justizsenator und Staatsanwaltschaft, nach all den Versäumnissen und Unterlassungen, all den höchstrichterlich festgestellten Rechtsfehlern und Verstößen sensibel zu agieren und die geeigneten Konsequenzen zu ziehen. Gerade vor diesem problematischen Hintergrund darf ein solcher Appell nicht als Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit zurückgewiesen werden.
 
Ansätze für Umdenken bei der Bremer Polizei? Von Seiten staatlicher Instanzen gab es kein offizielles Wort des Bedauerns oder einer Entschuldigung. Bis auf eine Ausnahme: Kürzlich äußerte der Bremer Polizeipräsident Lutz Müller sein Bedauern über den gewaltsamen Tod von Laye Condé und schrieb einen Brief an dessen Mutter. Er zeigte auch Bereitschaft, im Polizeipräsidium eine Gedenk- und Mahntafel anzubringen – eine langjährige Forderung der Bremer „Initiative zum Gedenken an Laye-Alama Condé“ Zusammen mit der Internationalen Liga für Menschenrechte begrüße ich die überfällige Bereitschaft der Polizei, sich mit dem eigenen Handeln kritisch auseinanderzusetzen“, so Rolf Gössner, der auch Mitglied der Bremer Innendeputation ist.
 
Dazu gehören auch jene Gespräche, die zwischen Polizei und der Initiative zum Gedenken an Laye Condé stattgefunden haben. Die nächsten Schritte sollten eine Entschuldigung der Polizei sein, ein obligatorisches Menschenrechts- und Antirassismus-Training in der Polizeiausbildung und die Einrichtung einer unabhängigen Institution zur Kontrolle unverhältnismäßiger und illegaler Polizeigewalt, wie sie seit Jahren von Bürgerrechtsorganisationen gefordert werden. (PK)
 
Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und Mitglied der Bremer Innendeputation


Online-Flyer Nr. 411  vom 12.06.2013



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