NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

Fenster schließen

Kultur und Wissen
„Kriminalgeschichte des Christentums“(1) - Band X von Karlheinz Deschner
Die Prinzipien seiner Kritik am Christentum
Von Wolfgang Beutin

Am 8. März erschien der zehnte und letzte Band der "Kriminalgeschichte des Christentums". Der Verfasser, Karlheinz Deschner, geboren 1924, ist einer der prominentesten Religions- und Kirchenkritiker. Für sein Lebenswerk, dessen erster Band 1986 erschien, wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht. Außerdem erscheint eine über 1000 Seiten umfassende neue kritische Papstgeschichte von Deschner "Zur Politik der Päpste im 20. Jahrhundert". Im Folgenden dazu ein Vortrag des Literaturwissenschaftlers und Privatdozenten an der Universität Bremen, Wolfgang Beutin.

Karlheinz Deschner
Foto: Archiv Deschner
 
„Religionskritik“ und „Kirchenkritik“ sind heutzutage geläufige Begriffe, aber beide nicht eindeutig: man kann prinzipiell Religion als universelles Phänomen der Menschheit und als gegenwärtiges kulturhistorisches Faktum kritisieren oder – am Beispiel vorhandener Religionen – diese oder jene als tatsächliche oder vermeintliche Fehlform sowie Fehlentwicklungen bestimmter Religionen; man kann prinzipiell Kirche als Bestandteil des Systems Christentum / Kirche / Theologie kritisieren, jedoch auch – am Beispiel einer der christlichen Kirchen, an mehreren oder an allen – bloß ihre Fehlentwicklungen, Fehler und Verbrechen. In der europäischen und nordamerikanischen Geistes- und Literaturgeschichte sind alle diese Arten von Religions- und Kirchenkritik vorgetragen worden, wobei die Verfasser oft unterschiedliche Akzente setzten, mit unterschiedlichen Graden von Radikalität operierten sowie jeweils unterschiedliche Schlüsse zogen.
 
Um nur einige wenige neuere von ihnen zu nennen – und auch einzig solche, deren Kritik dem Christentum galt, christlichen Kirchen oder Konfessionen und ihren Glaubenslehren –: die totale Verwerfung. Der Epiker Hans Hennny Jahnn bekannte 1946: „Das Kristentum ist mir ungeheuer auf die Nerven gegangen, diese Zweijahrtausende sausende Fahrt in die verkehrte Richtung.“(2) – Die Folgerung daraus müßte die doppelte sein: rasch die Fahrt zu stoppen sowie die während der Fahrt entstandenen Schäden zu reparieren, soweit möglich. – In Goethes „zahmer Xenie“, die beginnt: „Glaubt nicht, daß ich fasele, daß ich dichte (‚zusammenlüge’)“, versichert der Autor: „Es ist die ganze Kirchengeschichte / Mischmasch von Irrtum und von Gewalt.“(3) – „Gewalt“ kennzeichnet hierbei die kirchliche Praxis, „Irrtum“ die Kirchenlehre.
 
Faktisch die Auflösung des gesamten Christentums, vorab seiner Theologie, mußte im 19. Jahrhundert aus Ludwig Feuerbachs Funden resultieren. Der Philosoph beabsichtigte, das „theologische Ueber“ aufzuheben und erkannte Gott – wie jegliche sonstige himmlische Person von der Trinität bis zum kleinsten Heiligen und Seligen – als ein „abstractes, nur gedachtes oder eingebildetes Wesen“, mit einem heutigen Fachbegriff: als eine seelische Projektion, und demzufolge die Theologie als „psychische Pathologie“.(4)
 
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bürgerte es sich ein, die christliche Religion als Geisteskrankheit aufzufassen, das Christentum als nichts denn ein Sanatorium für die Erkrankten. So schreibt Otto von Corvin (1812-1886), ein Achtundvierziger, in seinem „Pfaffenspiegel“ (zuerst 1845): „Die Keime der in ihren Folgen gräßlichsten geistigen Epidemien enthält die Religion und keine mehr als die mißverstandene christliche. Sie hat Europa Jahrhunderte hindurch in ein trübseliges Narrenhaus verwandelt und Millionen von Schlachtopfern sind der durch sie erzeugten Tollheit gefallen.“(5) Der Philosoph Nietzsche stellte sich vor, er selber durchwandle Corvins Narrenhaus: „… ich gehe durch die Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende, heiße sie ‚Christentum’, ‚christlicher Glaube’, ‚christliche Kirche’, mit einer düsteren Vorsicht hindurch …“(6)
 
In seinen kirchenkritischen Forschungen bezeichnete der Amerikaner Henry Charles Lea (1825-1909) die römisch-katholische Lehre als spirituelles Zwinguri, als eine Diktatur über die Gedanken und Gefühle von jedermann. Sie erstrebe „the regulation of every thought, every feeling, and every act of the believer“. Unmöglich sei es gewesen, der geistlichen Autorität klare Grenzen zu ziehen, da sie sie zu unendlicher Ausdehnung neigte.(7)
 
Wie Lea erkannte zu Beginn des 20. Jahrhunderts der schärfste Kritiker des Christentums in Böhmen, Josef Svatopluk Machar (1864-1942), als Inbegriff der Kirchenherrschaft, der Ambitionen Roms den gravierenden Anspruch, absolute Gewalt über das menschliche Innere auszuüben, Macht über die Seelen zu gewinnen.(8)
 
In der Gegenwart sieht der Theologe Eugen Drewermann (geb. 1940) in der bestehenden Religionsform eine Hauptursache der seelischen und geistigen Erkrankungen der Menschen, so daß, wer deren Gesundung wünsche, eine grundlegende Änderung nicht zuletzt auf religiös-kirchlichem Gebiet herbeiführen müsse.
 
Zu einigen aktuellen Fragestellungen in der Wissenschaft leitete der Zweifel über, ob der in der älteren Historiographie behaupteten Christianisierung Europas in der Antike und im Mittelalter die Wirklichkeit entsprochen habe und ob diejenigen Menschen, die sich als Christen fühlten, von der christlichen Lehre wirklich durchdrungen gewesen waren. Peter Dinzelbacher hält zwar daran fest, daß es berechtigt sei, für die Spanne vom 4. bis zum 16. Jahrhundert von einem ‚Zeitalter des Glaubens’ zu reden; er besteht aber darauf, daß „keine Gesamtdarstellung des Mittelalters darauf verzichten“ sollte, „auch der Gegen- und Nebenströmung weltlichen Denkens und Verhaltens Raum zu geben“.(9)
 

Kardinal Michael Faulhaber
Quelle: http://www.historisches-
lexikon-bayerns.de
Von welchen Persönlichkeiten der moderneren Jahrhunderte ließe sich zeigen, daß sie vom Christentum wahrhaftig geprägt waren? Welcher Prominente hielt am Gottesglauben fest und verdiente sich daher die Belobigung durch einen weithin bekannten Kirchen‚fürsten’? – Man erinnere sich an historische Worte des Kardinals Michael Faulhaber, der nach einem Zusam-mentreffen mit Adolf Hitler auf dem Obersalzberg jubilierte – so liest man es in einem Roman, der seinen Titel „Jahrhundert-Roman“ zu Recht führt – : „Der Reichskanzler lebt ohne Zweifel im Glauben an Gott.“(10) Hier paßt eine Aussage Deschners wie die Faust aufs Auge: „Denn Kirchenfürsten stehen, nüchtern oder nicht, wenn irgend möglich, immer bei den Star-Banditen der Geschichte …“ (1,68) So von Anfang an. Einen Kaiser der Frühzeit, Konstantin, rühmen christliche Historiographen bis heute. Aber in Wirklichkeit? … war er eines der mörderischsten Ungeheuer der Geschichte. Er ließ ermorden: seinen Schwiegervater, seine Schwäger, seinen Neffen, seinen eigenen Sohn, seine Gattin Fausta, die Mutter seiner fünf Kinder … (1,264) Was liest man von diesem Mann in frommer Darstellung?: „…führte ein christliches Familienleben“ (ebd.).
 
Der Verfasser des stupenden Mammutwerks, „Kriminalgeschichte des Christentums“ – in siebenundzwanzig Jahren erschienen zehn Bände, mit zusammen fast 6000 Seiten – kann wie einer seiner Vorfahren im Geiste für sich in Anspruch nehmen: „Ich gehe durch die Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende, heiße sie ‚Christentum’, ‚christlicher Glaube’, ‚christliche Kirche’.“ Flanierend wirft er scharfe Blicke auf das, was sich seinen Augen darbietet. Am meisten auf das erstgenannte, das Christentum. Was ist das aber, das Christentum, das seine Aufmerksamkeit erregt? Dessen Konterfei er zu Papier bringt, wenn er wieder zuhause ist?
Herbert Vorgrimler äußerte: insofern es drei „in ihrer Art nie erschöpfend beschreibbare Komponenten“ aufweise, könne „es keine Definition des Ch.[ristentums]“ geben; als diese Komponenten nominiert er: die „konkrete Person“ Jesus, „das unbegreifliche Gott-Geheimnis“ sowie „die Menschen in ihrer Vieldimensionalität zusammen mit ihrer Welt“.(11)
 
Darüber hinaus will er das Christentum in zweierlei Dimensionen verankert sehen:
„als Summe der Glaubensinhalte“
sowie „als auf ethischen Prinzipien beruhende praktische Lebensführung“.(12)
Sprich: als christliche Theologie wie als christliche Praxis.
Deschners Vorhaben läßt sich nun in der Ausdrucksweise dieses Neuen Theologischen Wörterbuchs skizzieren:
> er durchforscht jene „auf ethischen Prinzipien beruhende praktische Lebensführung“ der Christenheit;
> als Christenheit betrachtet er die Gesamtheit der (Christen-)Menschen „in ihrer Vieldimensionalität zusammen mit ihrer Welt“.
Was wäre ihre Welt? Wohl die von ihnen vorgefundenen und von ihnen hergestellten Lebensverhältnisse in ihrer jeweiligen Gegenwart.
Im Zentrum des historischen Interesses des Autors steht also jenes menschliche Kollektiv, genannt „Christentum“, wie es zwei Jahrtausende lang durch die Geschichte wanderte(13) : nicht die (Amts-)Kirche allein, nicht einzelne ihrer Institutionen und Institute (z. B. der ‚Heilige Stuhl’), sondern die Völker, Nationen, Klassen, Schichten, Gruppen, Individuen christlichen Bekenntnisses, im modernen Jargon: die auf ihre christliche Identität pochen und darauf, daß man ihr Tun und Lassen als eine „auf ethischen Prinzipien beruhende praktische Lebensführung“ werte.
 
Dabei verzichtet Deschner mit Vorbedacht darauf, Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen zu statuieren. Es bleibt dabei, im Brennpunkt seiner kritischen Historiographie in zehn Bänden steht das Christentum, stehen sie alle. Ja, Unterschiede statuiert er, gewiß. Sie aber unter den Individuen. Er läßt Unterschiedliches nicht außer Acht, markiert auch immer seine Präferenzen: unter den Geistlichen, die agieren, beipielsweise John Wiclif (8,149), Jan Hus (8,187-191 u. 204), unter den weltlichen Amtsträgern etwa die Kaiser Karl IV. (8,15) und Joseph II. (10,200-209) und den mutigen Kanzler Kaspar Schlick (8,205), der sich der Verurteilung des Jan Hus heftig widersetzte.
 
Allerdings flossen in die „praktische Lebensführung“ der christlichen Völker und Individuen stets reichlich immaterielle Bestandteile des Systems Christentum / Kirche / Theologie ein, Elemente der Glaubenslehre, speziell der christlichen Ethik. Auch kann christliche Praxis ja niemals abgetrennt von den Institutionen – im Katholizismus vorab dem Papsttum und seinem Regime – gedacht werden. Zwar bezweckte Deschner keineswegs eine Geschichte der römischen Päpste, so wie sie im 19. Jahrhundert Ranke und Ludwig von Pastor abfaßten; und keineswegs die Geschichte des christlichen Glaubens oder diverser seiner Glaubenslehren.
Indessen verzichtet er nie darauf, Papstgeschichte und Theologiegeschichte in seine Ausführungen hineinspielen zu lassen, wo es ihm notwendig erscheint.
 
Geschichtsschreibung „in aufklärerisch-emanzipativer Absicht“
 
Deschners wissenschaftliche Maxime lautet: „Ich schreibe also politisch motiviert, das heißt in aufklärerisch-emanzipativer Absicht.“ (1,60)
Damit grenzt er sich schroff von der Mehrzahl der Historiker ab, früherer und zeitgenössischer, vor allem, soweit sie die Behauptung aufstellten, „reine“ Wissenschaft zu treiben, ohne irgend politische Intentionen. Die Regel sei, „daß politische Geschichte auf Macht, Gewalt, Verbrechen beruht; die Regel leider auch, daß dies das Gros der Historiker noch immer nicht beim Namen nennt, vielmehr rühmt – nach wie vor Potentaten und Zeitgeist zu Diensten. … Denn wie man Politik zwar für die (Masse der) Menschen machen könnte, gewöhnlich aber gegen sie macht, so wird gegen sie gewöhnlich auch die Geschichtsschreibung geschrieben.“ (1,61 f.) Vor den Werken der Geschichtsschreibung noch entstehen die Quellen. Aber es gilt nicht anders für sie: „Durch den weitaus größten Teil unseres Zeitraumes hofiert die Quellentradition die unterdrückenden und ignoriert die unterdrückten Schichten, präsentiert sie meist glanzvoll die Akteure der Historie, die kleine Despotenmeute derer, die sie machte, und selten oder nie den Buckel derer, die sie ausgetragen.“ (1,62 f.) Was Deschner plant, ist dagegen eine fundamentale Inversion oder die Verkehrung der Perspektive.
 
Darin hat er eine wichtige Bundesgenossin. Das ist die Sozialgeschichte. Sie sieht als einzige nicht ab von der „Verschränkung politischer und gesellschaftlicher Vorgänge“, und es ist sie, kündigt Deschner in seiner „Einleitung zum Gesamtwerk“ an, die in der „Kriminalgeschichte“ „eine beträchtliche Rolle spielen wird“ (1,65).
 
Aus diesem Gesichtspunkt gelangt er zur Verwerfung ganzer Bücherwände oder Bibliotheken mit Produkten der konventionellen Geschichtsschreibung, mit den Klitterungen von Historikern, die sich zu ihren Lebzeiten gern als Präzeptoren der Nation aufgespielt hatten: „Es ist klar, haben ganze Generationen solche Präzeptoren, werden sie auch von jedem welthistorischen Schandkerl mißbraucht. Stünde es nicht anders um Menschheit und Geschichte, würden diese von der Geschichtsschreibung – und Schule! – ethisch durchleuchtet und geformt? … Die meisten Historiker aber breiten den Dreck der Vergangenheit aus, als wäre er der Humus für künftige Paradiese. Und gerade die deutsche Geschichtswissenschaft hat die tradierte Form der Geschichte, der Gesellschaft, die überlieferte ‚Ordnung’ – in Wirklichkeit ein soziales Chaos, ein fortgesetzter innerer und äußerer Krieg – gestützt statt zu ihrem Sturz beizutragen.“ (65)
 
„Aufklärerisch-emanzipativ“ bedeutet bei dem Verfasser demnach nicht die Aufklärung um der Aufklärung willen, eine Art l’art-pour-l’art-Prinzip fortschrittlich gemeinter Historiographie, sondern exakt: Aufklärung einer bestimmten Zielgruppe: der Massen, und das historische Werk selber: das Mittel der Aufklärung. „Aufklärerisch-emanzipativ“ bedeutet für ihn auch nirgends, eine Haßkampagne gegen einzelne Menschen, Angehörige christlicher Glaubensgemeinschaften zu führen. Er hält es mit Lichtenberg: „Es gibt viele rechtschaffene Christlichen, das ist gar keine Frage, so wie es überall und in allen Ständen gute Menschen gibt, allein so viel ist gewiß, in corpore und was sie als solche unternommen haben, ist nie viel wert gewesen.“ (Zit. in 1, S.35) Und er hält es mit Hebbel, der das Christentum „das Blatterngift der Menschheit“ nannte und eine einfache Frage stellte: „Woher kommt’s doch wohl, daß alles, was auf Erden jemals bedeutend war, über das Christentum dachte wie ich?“ (Zit. in 1, S. 36)
 
Im Verein mit diesen beiden Autoren umreißt der Verfasser, was er mit seinem eigenen Buch beabsichtigt: „Daß die Christen, um auf Lichtenberg zurückzukommen, in corpore und was sie als solche unternommen, nie viel wert gewesen, daß man mit Hebbel allen Grund hat, das Christentum zu verachten, diesen historischen Nachweis zu liefern ist die Aufgabe meiner ‚Kriminalgeschichte’.“ (1,36)
Seine Historiographie, verspricht er, wird grundsätzlich eine wertende sein. Die gegenteilige, tatsächlich oder scheinbar nicht wertende, verurteilt er: „Denn eine Wissenschaft, die nicht wertet, unterstützt, ob sie will oder nicht, den Status quo, sie stützt die Herrschenden und schadet den Beherrschten.“ (1,47)
 
Nun darf der Historiker jedoch nicht umstandslos das Werten anfangen. Um es zu können, muß seine Erforschung der Fakten vorangehen. Aber besteht die Sicherheit, daß diese sich alle, und vornehmlich die gravierenden, ausreichend ermitteln lassen? Können verläßliche Aussagen über den Verlauf der Geschichte in sämtlichen Epochen getroffen werden, und ist demgemäß Historiographie überhaupt ein Ding der Möglichkeit?
Hier antwortet Deschner mit einem klaren Ja, sich gegen die Geschichts- und Erkenntnisskepsis wendend: „Davon gehe ich ebenso aus wie von der Überzeugung, daß man, bei aller Komplexität, allem Chaos und Wirrwarr der Geschichte, allgemeine Aussagen treffen, daß man das Wesentliche, Typische, Entscheidende, herausstellen, kurz, daß man historisch generalisieren kann …“ (1,52)
In den Zusammenhang der Bewertung und Generalisierung gehört für ihn eine seiner Hauptmethoden, die Quantifizierung: „Um diese Verallgemeinerungen aber möglichst schlüssig zu machen, ist eine meiner Hauptmethoden die der Quantifizierung, der Zusammenstellung vergleichbarer Fälle, Varianten, Daten, soweit sie relevant, repräsentativ sind:. Geschichte schreiben heißt die Hauptzüge herausstellen. Ich betreibe also die Summierung des Informationsmaterials. Beides, Generalisierung und Quantifizierung, gehört zusammen.“ (Ebd.)
 
Legendenzerstörung und Aufdeckung von Manipulationen
 
Der bedeutendste sozialdemokratische Publizist der Kaiserzeit, Franz Mehring (1846-1919), erkannte und kritisierte die konventionelle Geschichtsschreibung seiner Zeit, die vielfach aus Legendenbildung bestand oder ihr ähnelte. Wie er nachwies, verfuhr sie mit dem vorliegenden Quellenmaterial in vielen Fällen unredlich, ja, ihr Umgang damit war allzu oft schlechterdings nichts anderes als Manipulation. Daraus ergab sich ihm als eine wesentliche Aufgabe sozialgeschichtlicher Forschung die Legendenzerstörung und Aufdeckung der Manipulationen. Das war eine Aufgabe im Vorfeld. Doch Mehring verkannte es nicht: Sollte eine wahrheitsgemäße, den Massen nützliche Geschichtsschreibung realisiert werden, konnte diese nicht gedeihen, wenn nicht zuvor das Vorfeld planiert worden war. Und so machte sich Mehring unverdrossen daran, die notwendige Aufgabe zu erfüllen.
 
Es ist beklagenswert, jedoch ein Faktum: zu weiten Teilen liegt die Aufgabe der Legendenzerstörung und Aufdeckung von Manipulationen immer noch vor der Geschichtswissenschaft. Zumal unverkennbar ist, daß interessierte Kreise stetig neue Legenden fabrizieren und in die Welt setzen (etwa: die nach 1945 vom „Spiegel“-Herausgeber bei dem ‚Verfassungsschützer’ Fritz Tobias, einem späterem Holocaust-Leugner, in Auftrag gegebene ‚Reichstagsbrand-Lüge’, wonach das Verbrechen einem Einzeltäter zugeschrieben wurde, Marinus van der Lubbe)(14). Legendenauflösung ist keine Kleinigkeit. Deschner unterzieht sich verdienstlich der Mühe, hier anzupacken und manche äußerst fatale, trotzdem heutzutage immer noch verbreitete und deshalb von vielen geglaubte Legende zu widerlegen. (Luther hatte seine Gründe, als er den Terminus „Legende“ variierte und in „Lügende“ umänderte.)

Der heilige Paulus
Quelle: http://kirchensite.de/
 
Eine solche Lügende lautet, es wäre die Kirche gewesen, der die Menschheit – jedenfalls im Bereich des Christentums – die Abschaffung der Sklaverei verdankte. Nein, widerspricht Deschner, die Kirche befand sich „stets auf der Seite der Unterdrücker“: „Paulus, Augustinus, Thomas von Aquin und tausend weitere ‚Heilige’, sie alle verteidigen die Unfreiheit. Noch in der Neuzeit vertritt die katholische Theologie ganz allgemein das Recht auf Sklaverei. … Und nicht zufällig hielt unter allen Hauptstädten Europas das päpstliche Rom am längsten an der Sklaverei fest.“ (9,398)
 
Eine andere, frequent aufgetischte Lügende besagt, von der Kirche seien im Verlauf der Jahrhunderte im Abendland die bewundernswertesten „Kulturwerte“ geschaffen worden. Deschner argumentiert: „Gewiß entstanden durch die Kirchen, zumal die römische Kirche, bedeutende Kulturwerte, besonders Bauten, was gewöhnlich höchst eigensüchtige Gründe hatte (Repräsentation der Macht), sowie auf dem Gebiet der Malerei, was gleichfalls ideologisch bedingt war (nicht endende Illustrationen von Bibelszenen und Heiligenlegenden). Doch beiseite, daß die vielgerühmte Kulturfreudigkeit im Gegensatz zum kulturellen Desinteresse des gesamten Urchristentums steht, das ‚nicht von dieser Welt’, das voller eschatologischer Geringschätzung derselben war und ihr unmittelbares Ende erwartete, eine fundamentale Täuschung, auch Jesu: die meisten Kulturleistungen der Kirche wurden durch rücksichtsloses Schröpfen der Massen ermöglicht, durch ihr Versklaven und Auspowern von Jahrhundert zu Jahrhundert. Und dieser Kulturförderung steht viel mehr Kulturhemmendes, Kulturvergiftendes und -vernichtendes gegenüber.“ (1,26)
 
Für die Manipulationen, die Deschner aufdeckt, hier nur ein einziges Beispiel (1,86 f.). Eine Fälschung ist vorgenommen worden, ein Verbrechen gegen den Geist, im Vergleich zu der Unzahl an Verbrechen, die im Christentum gegen Leib und Leben von Menschen begangen wurden, ein eher geringfügig erscheinendes. Hinwiederum doch kein ganz geringfügiges, weil die Fälschung an genau jenem Text begangen wurde, der unter der Bezeichnung ‚Heilige Schrift’ zu den immateriellen Grundlagen des Christentums zählt: an der Bibel.
Im Christentum, wie vorher bereits im Judentum, ist es üblich, einem der blutrünstigsten Schlagetots in der älteren orientalischen Geschichte, dem König David, Ehrenkränze zu winden.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden – autorisiert vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland – Verse aus dem Alten Testament (2. Samuel 12,31 sowie 1. Chronik, 20,3), verdolmetscht gedruckt, in denen von der Weise der Behandlung die Rede ist, die den Bewohnern der von David eroberten Städte Ammons widerfuhr. Die Fassung dieser Stellen richtet sich angeblich (so steht es höchst offiziös verzeichnet) „Nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers“. Deschner zitiert diese Verse, wie sie in der neueren Bibeledition zu lesen sind:
„Aber das Volk darin führte er heraus und ließ sie mit Sägen und eisernen Hacken und Äxten Frondienste leisten.“
„Aber das Volk darin führte er heraus und stellte sie als Fronarbeiter an die Sägen, die eisernen Pickel und an die eisernen Äxte und ließ sie an den Ziegelöfen arbeiten.“
 
Wem hier etwas Ungutes schwant, der kann nach der Lektüre in älteren Bibeln nachschlagen, und ihm steht sein blaues Wunder bevor. Oder er schlägt noch besser gleich in Luthers Version nach, so wie Deschner es tut, und was findet sich? Dies:
„Aber das volck drinnen füret er eraus / vnd teilet sie mit Segen / vnd eisern Hacken vnd keilen / Also thet David allen Stedten der kinder Ammons …“ Völlig ausgeschlossen hier, daß dem Verbum „teilen“ der Sinn zukäme: ‚Frondienste leisten’. Die Bedeutung ist keine andere als ‚zerteilen’ (wie etwa in der Bezeichnung einer älteren Strafe, dem „Vierteilen“).
„Aber das Volck drinnen füret er eraus / vnd legt sie vnter eisern segen vnd zacken / vnd eisern keile / und verbrand sie in Zigelöfen. / So thet er allen Stedten der kinder Ammons.“
Was immer das Motiv der Textverhunzer gewesen sein mag – Deschner erwägt, ob vielleicht Davids Vorgehensweise verschwiegen bleiben sollte, da „an Methoden Hitlers erinnernd“ – es liegt eine gravierende Textveränderung vor, mit welcher Betrug an der Leserschaft verübt wird. Die Fälschung betrifft sowohl das Original als auch Luthers Version.
Im übrigen wäre überhaupt einmal die Überlegung am Platze, inwieweit die Bibel – das Alte wie das Neue Testament – gemäß einer von Deschner an anderer Stelle gestellten Forderung es verdiente, „ethisch durchleuchtet“ zu werden. Das Ergebnis läßt sich problemlos vorhersagen. Es läßt sich nicht leicht ein anderes Buch der Weltliteratur auftreiben, aus dessen Blättern in solcher Menge Blut herausträufelt wie aus der Bibel, am stärksten aber aus dem Alten Testament.
 
Zur Theorie und Praxis der ‚Religion der Liebe’
 
Gleich zu Beginn schon ein schwerwiegender Diebstahl. Stichwort „Altes Testament“: wie kam es in die Hände der Christen? Die Wahrheit ist, sie entrissen es den Juden, und man „gebrauchte es als Waffe gegen sie: ein ungeheures Betrugsverfahren, interpretatio Christiana genannt; ein beispielloser, in der gesamten Religionsgeschichte singulärer Vorgang und nahezu der einzige originelle Zug christlicher Glaubenshistorie überhaupt.“ (1,121)
Dies literarische Werk aber, das Alte Testament, vermittelt eine Vorstellung von Gott, deren barbarischer Grundzug kaum überbietbar ist: „Dieser Gott aber, von Absolutheit besessen wie keine Ausgeburt der Religionsgeschichte zuvor und von einer Grausamkeit, die auch keine danach übertrifft, steht hinter der ganzen Geschichte des Christentums! … Dieser Gott genießt nichts so sehr wie Rache und Ruin. Er geht auf im Blutrausch.“ (1,75)
Auch sind die kirchengeschichtlichen Abläufe im Christentum, wie sie die Doktrin konstruiert, ein makabres Phantasma. Es entspricht mitnichten der realhistorischen Entwicklung des Christentums: „… erst ‚Rechtgläubigkeit’, dann ‚Ketzerei’“, ein „Schema“, „das die Kirche schon zur Aufrechterhaltung ihrer Fiktion einer angeblich ununterbrochenen apostolischen Überlieferung braucht, ist nichts als eine nachträgliche Konstruktion und offenkundig falsch …“ Dies Konstrukt will am Anfang die „reine, unverdorbene Lehre“ sehen. „die im Lauf der Zeit durch Häretiker und Schismatiker beschmutzt worden“ wäre. Eine solche Entwicklung hat es nicht geben können, weshalb? Weil „nirgends anfangs ein homogenes Christentum“ existiert hatte (1,145).
 
Man benötigte also das Phantasma, um die ‚Häresien’, die Abfallbewegungen zu unterdrücken. Aber was war man selber? Was war man durch die Jahrhunderte hindurch? War man nicht selber die Abfallbewegung vom Urchristentum, und dies schon davor, in noch älterer Spanne, im Moment seiner Entstehung die Abfallbewegung von der spätjüdischen Eschatologie?
Christentum in seiner Geschichte insgesamt: die Abfallbewegung vom Urchristentum, wenn es denn rekonstruierbar wäre; oder: die große Geschichte des Abfalls von der Lehre Jesu, soweit diese verläßlich rekonstruierbar ist?
 
Aber noch einmal zurück zu den ‚Häresien’. „Unterdrückung“ ist der dominante Ausdruck, wenn man die Theorie und Praxis des Christentums historisch durchleuchtet, zu allererst das Schlüsselwort. Unterdrückung der ‚Häresien’. Wieder nur ein einziges Beispiel: „Der von Gregor(15) ernannte Dominikanerinquisitor Robert, der auch in Cambrai, Douai, Lille viele Menschen zu Asche machte, ließ allein am 29. Mai 1239 zu Mont-Aime in der Champagne 183 ‚Ketzer’ verbrennen – ein ‚großes und dem Herrn wohlgefälliges Brandopfer’ (maximum holocaustum [!] et placabile Domino), wie der Bericht meldet.“ (7,259) Solche Menschenverbrennungen, nicht selten mit Opfern in vierstelliger Höhe, durchziehen seit dem Mittelalter die Geschichte der Christenheit, vor allem in Europa, und selbst zu Lebzeiten Goethes und Schillers hören die Scheiterhaufen nicht auf zu rauchen: „Die Verbrennung, meist an einem Feiertag, machte die Kirche zu einer Demonstration ihrer faktischen Allmacht, zu einer pompösen rituellen Opferung, attraktiver als jedes andere Kirchenfest. Die Sache hieß mit einem portugiesischen Ausdruck Autodafé, lateinisch actus fidei, war also ein Glaubensakt, fraglos der feurigste der Religionsgeschichte.“ (7,260) Voran ging in der Regel die Folter. „Die Folter hatte schon der hl. Bischof und Kirchenlehrer Augustinus, das Urbild aller mittelalterlichen ‚Ketzer’-Jäger, gegen die Donatisten gestattet, die Folter quasi als Bagatelle gegenüber der Hölle verteidigt, geradezu als eine ‚Kur’, emendatio.“ (7,266)
Die Hölle, was war sie? Wo war sie? – Deschner gibt eine Antwort, die vielleicht alle – oder keinen – überrascht, aber – bei genauerem Nachdenken – sich als die alleinig richtige erweist: das Christentum war die Hölle, „eine Hölle, die Generation um Generation ins Elend stürzt, eine der Grundlagen der Geschichte, die wir haben.“ (7,272 f.)
 
Unterdrückung anderer Religionen und ihrer Bekenner. Der Prototyp des Verfolgers ist Paulus gewesen, derselbe, aus dessen Feder die ältesten Teile des Neuen Testaments stammen. Deschner: „Ein besonderes Vorbild aber für das alle Andersgläubigen verteufelnde Rom wurde der Fanatiker Paulus, der Klassiker der Intoleranz …“ (1,148) Ein Vorbild, das leider zahllose Nachfolger gefunden hat. Beispiel: „Der führende Mann des spanischen Katholizismus, Kirchenlehrer Erzbischof Isidor von Sevilla (um 560 – 636) … hat zu den Judenpogromen aufgereizt und sie gerechtfertigt.“ (7,406) Deschner resümiert: „Die Intensität der altchristlichen Judenfeindschaft läßt sich kaum groß genug denken.“ (1,138)
Unterdrückung der Frauen. Am konkretesten greifbar in den Hexenverfolgungen, denen mindestens eine Million Frauen in Europa zum Opfer fielen. „Und wie auch immer die verschiedenen Faktoren des Problems bewertet werden mögen, hinter all den horrenden Massakern steht unbezweifelbar als Basis und immerwährender Anschub die Moral, besonders die Sexualmoral der Kirche.“ (8,317)

Hexenverbrennung im Jahr 1555
Quelle: wikimedia.org
 
Diffamierung der Ehe, der Familie, der Liebe der Eltern zu ihren Kindern und umgekehrt: hier gingen die Verfasser der Evangelien voran. „Wie oft schlug jenes Schwert auch zu, das schon Jesus schärfte, indem er den Sohn wider den Vater, die Tochter wider die Mutter trieb … Wie haben Engstirnige, verpfaffte Bigotte, die Familien vergiftet, gegen Eltern, Ehemänner, Ehefrauen gehetzt, zur Unmenschlichkeit verleitet, zur Preisgabe fast aller sozialen Beziehungen …“ (1,152)
„Kann man irgendwo Haß lernen, schänden lernen, schamlos lästern, lügen. verleumden, dann bei den Heiligen, den größten Heiligen des Christentums!“ (1, 167)
Unterdrückung der Natur: „Hier, wo die Erde getreten, mit Füßen getreten wird, dröhnt geradezu … das Echo des alttestamentlichen ‚Machet sie euch untertan!’ Hier bricht etwas mehr und mehr Verheerendes, in seinen Folgen kaum zu Überschätzendes ein. Hier tritt an die Stelle des ‚natürlichen Kosmos’ ein ‚kirchlicher Kosmos’ …“ (1,197)
 
In alledem zeigt sich – oder zu alledem kommt – als extremes vom Christentum begangenes oder inspiriertes Verbrechen das jahrtausendelange gegen das Leben, diese unaufhörliche Mörderei, diese kontinuierliche Menschenschlächterei, wodurch die Menschenwelt zum Menschenschlachthaus geriet – der Krieg. „Die ganze Geschichte des Christentums war in ihren hervorstechendsten Zügen eine Geschichte des Krieges, eines einzigen Krieges nach außen und innen, des Angriffskriegs, des Bürgerkriegs, der Unterdrückung der eigenen Untertanen und Gläubigen.“ (1,17) Dürfte man sich diesen Sachverhalt so zurechtlegen: Krieg wäre in den Anfängen und noch bis in die ältere Neuzeit hinein nicht als das Fürchterliche empfunden worden, was es denn in Wirklichkeit ist, wurde empfunden eher als Bestandteil des Alltags, der Normalität, der realen Historie der Menschengattung? – Deschner konterkariert entschieden: „Doch hat man stets, wenigstens in den letzten 2000 Jahren, Raub, Mord, Ausbeutung, Krieg für das gehalten, was sie waren und sind.“ (1,57)
Religionskriege: Bereits der Kirchengeschichtsschreiber Eusebius und der Kirchenvater Laktanz „machen – mit Hilfe einander widersprechender Legenden (das heißt: ‚frommer’ Lügen) –“ den militärischen Sieg Konstantins über Maxentius „zu einem Sieg ihrer Religion über die alte. Sie begründen damit eine im Christentum völlig neue, über Karolinger, Ottonen, bis in den Ersten und Zweiten Weltkrieg buchstäblich verheerend fortwirkende politisch-militante Religiosität, die sogenannte Kaisertheologie.“ (1,223)
 

Konstantin I. besiegt Maxentius 312 in der Schlacht
an der Milvischen Brücke in Rom
Quelle: wikipedia.org
Der hl. Leo I. (440-461) „führte als erster Papst im Namen der Kirche Krieg“ (6,198), zugleich der erste Papst, „der grundsätzlich seine Kriege aus der Religion herleitete“ (C. Erd- mann, zit. von Deschner, ebd.).
„Spätestens im 10. Jahrhundert zogen Bischöfe oder Priester den tötenden Haufen mit Kreuzen, Fahnen, Reliquien voran.“ (6,39). Neben dem Krieg nach außen, außer Kreuzzügen: Kriege nach innen, Kreuzzüge im Innern, Kriege von Christen gegen Christen. „Noch ehe man die Heiden massakrierte, kam es zur ersten, im Namen der Kirche geführten Christenverfolgung, zu Martyrien von Christen durch Christen, zu einem blutigen Bauernkrieg auch …“ (1,276)
 
Als die Kreuzzüge nach außen schwieriger wurden oder ohne Erfolge blieben, fand man sogleich den Ausweg. „Als sie, infolge der Rückschläge, zunächst nach außen verebbten, führte man sie nach innen, gegen Christen, ‚Ketzer’, ‚Rebellen’ und schließlich gegen alle möglichen Feinde von ‚Ordnung’ und ‚Recht’, bis hin zu dem scheußlichsten Religionsgemetzel aller Zeiten, dem der katholischen Kroaten gegen die serbischen Orthodoxen (1941-1943) …“ (6,344)
 
Der Begriff: Heiliger Krieg. Deschner erläutert: „In Wahrheit geht es hier um Mord, ein jahrtausendlanges Schlachten, das nun, da im Namen der ‚Frohen Botschaft’, der ‚Religion der Liebe’, Gottes selbst, getätigt, auch noch als gerecht, gut erklärt, das verklärt, ja, das ‚heilig’ wird – Gipfelpunkt des Kriminellen: ‚heiliger Krieg!’ Es war, neben Inquisition und Hexenverbrennung, das einzig halbwegs Neue im Christentum.“ (1,256 f.)
Was lehrt das Verhältnis des Christentums zum Krieg?
Deschner zieht das vernichtende Fazit: „Denn einmal beiseite die notorische Volksverblödung, Ausbeutung und systemimmanente Heuchelei, lebten diese christlichen Reiche und Reichen von nichts mehr als von Eroberung und Raub: der alles – vom kulturellen Klingklang bis zum klerikalen Singsang – tragende Grund, die scheinbar gottgewollte Daseinsbasis.“ (6,437)
„Denn gewiß ist militärische Macht, das heißt die Gewalt, der Krieg, nicht nur, wie man schrieb, ein Grundanliegen staufischer Reichsideologie, sondern des ganzen – doch so christlichen! – Mittelalters, ja, das beherrschende Geschichtsprinzip überhaupt. Das Verbrechen des Krieges, von den mehr oder weniger kaschierten Verbrechen des Friedens jeweils vorbereitet, das ist der kriminelle Kreislauf dessen, was wir Historie, politische Geschichte nennen, im wesentlichen jedenfalls, in Antrieb wie in Zielsetzung …“ (6,502 f.)
 
Anmerkung der Redaktion: Die in Klammern gestellten Zahlen wie z.B. (6,437)verweisen auf die jeweiligen Bandnummern und Seitenzahlen aus Deschners "Kriminalgeschichte des Christentums" (PK)

[1] 10 Bde., Reinbek bei Hamburg 1986-2013 (zitiert im Text nur mit Band- und Seitenzahl).
[2] Zit. in: Hans Wolffheim, Hans Henny Jahnn (1894-1959), in: Karlheinz Deschner, Das Christentum im Urteil seiner Gegner, 2. Bd., Wiesbaden 1971, S. 252
[3] dtv-Gesamtausg., Bd. 4, Sämtliche Gedichte Vierter Teil (Gedichte aus dem Nachlaß, Zweite Abtlg.), München 1961, S. 71
[4] Zitate in: Wolfgang Beutin, Ludwig Feuerbach (1804-1872), in: Deschner, wie Anm. 2, 1, S. 247, 246 u. 249
[5] UT: Historische Denkmale des Fanatismus in der römisch=katholischen Kirche, 43Berlin=Schöneberg o. J., S. 67
[6] Zit. in: Wolfgang Beutin, Friedrich Nietzsche (1844-1900), in: Deschner, wie Anm. 2,1,389
[7] Studies in Church History (Reprint der 2. Aufl. 1883), Badenweiler 2009, S. 288
[8] In seinem Buch „Rom“ (1906/07). Neuaufl. der Übers. von Emil Saudek, mit Kommentar von Heidi und Wolfgang Beutin, Badenweiler 2010, passim.
[9] Unglaube im „Zeitalter des Glaubens“. Atheismus und Skeptizismus im Mittelalter, Badenweiler2009, S. 147
[10] Zit. in: Hans Heinrich, Jahrhundert-Roman. Aus dem langen Leben des Eustachius G., Weilheim 2009, S. 154
[11] Neues Theologisches Wörterbuch, Freiburg / B. 2000, S. 114
[12] Ebd.
[13] Oder doch nur 1800 Jahre hindurch, weil die Darstellung im 10. Band lediglich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts reicht. – Jedoch hatte Deschner dreißig Jahre vor diesem Buch ein zweibändiges Werk erscheinen lassen: Ein Jahrhundert Heilsgeschichte (Köln 1982/83). Daraus stellte der Rowohlt Verlag später ein einbändiges Werk her, Titel: Die Politik der Päpste im 20. Jahrhundert (Reinbek 1991; fast 1400 S.). – Wie Deschner jetzt betont, läßt sich die zuletzt genannte Schrift als Fortsetzung der Kriminalgeschichte lesen, sozusagen als deren Bd. 11 (10,227).
[14] Alexander Bahar / Wilfried Kugel, Der Reichstagsbrand. Geschichte einer Provokation, Köln 2013
[15] Gregor IX., Papst 1227-1241; organisierte 1231 die Inquisition.
 
Biografie:
Karlheinz Deschner, geb. 1924 in Bamberg. Im Krieg Soldat; studierte Jura, Theologie, Philosophie, Literaturwissenschaft und Geschichte. Sein Roman "Die Nacht steht um mein Haus" (1956) erregte Aufsehen, das sich ein Jahr später bei Erscheinen seiner Streitschrift "Kitsch, Konvention und Kunst" zum Skandal steigerte. Seit 1958 veröffentlicht Deschner seine entlarvenden und provozierenden Geschichtswerke zur Religions- und Kirchenkritik. Der forschende Schriftsteller lebt in Haßfurt am Main. 1988 wurde er mit dem Arno-Schmidt-Preis ausgezeichnet.
 
Bücher und Verlage:
Karlheinz Deschner: "Kriminalgeschichte des Christentums" - Band X: 18tes Jahrhundert und Ausblick auf die Folgezeit / Könige von Gottes Gnaden und Niedergang des Papsttums,
Rowohlt, Reinbek 2013, 320 Seiten, 22,95 Euro
 
„Die Politik der Päpste – Vom Niedergang kurialer Macht im 19. Jahrhundert bis zu deren Wiedererstarken im Zeitalter der Weltkriege“,
Karlheinz Deschners voluminöse Geschichte päpstlicher Machtpolitik in der Moderne. Der Band - eine um ein Nachwort von Michael Schmidt-Salomon erweiterte Neuausgabe - wird im Buchhandel 59 Euro kosten, kann jedoch ab sofort bis zum 31. März zum günstigeren Subskriptionspreis von 49 Euro direkt beim Alibri Verlag bestellt werden.
 
Wolfgang Beutin, Jg. 1934, ist Literaturwissenschaftler und Privatdozent an der Universität Bremen. Wir danken ihm, dass er uns diesen Vortrag zur Veröffentlichung in der NRhZ zur Verfügung gestellt hat.  


Online-Flyer Nr. 397  vom 13.03.2013



Startseite           nach oben