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Krieg und Frieden
"GAZA – MENSCH BLEIBEN" - Von Vittorio Arrigoni
Kriegstagebuch eines Aktivisten
Von Taris Ahmad

Er wurde von einer salafitischen Gruppe in Gaza entführt und ermordet, so ein Entführungsvideo. Zurückgeblieben ist sein Tagebuch. Emotional, ehrlich, unzensiert und vor allem ausdrücklich menschlich. Es ist das Kriegstagebuch eines Zeitzeugen im Herzen des Guernica des 21.Jahrhunderts – im Herzen des Gaza-Massakers.
 
Dem mit dem Konflikt Unvertrauten ist das Massaker nur als "Krieg" in Erinnerung, der wohl gar in "Selbstverteidigung" gegen "Fundamentalisten" durch die "moralischste Armee der Welt" durchgeführt wurde. Das Tagebuch schildert in persönlicher Reflektion die Folgen des Krieges für die zivile Bevölkerung eindringlicher und bis in die Details. Es ist ein Tagebuch – ehrlich, ohne politisch korrekt zu wirken. „Was auch immer die Spitzen des israelischen Militärs in ihren Kommuniqués wiederholen werden, von den europäischen Massenmedien auf allen Kanälen ausgestrahlt (...)" - und gerade deshalb ist auch dieses Buch so wertvoll.
 
Vittorio, aus Europa stammend, hätte es einfach haben können. Er wählte jedoch den harten Weg, den Weg der Idealisten. Zusammen mit anderen Europäern lebte er in Gaza. Ausgerechnet in Gaza. Ausgerechnet unter Blockade und Beschuss, ohne Ausweg. Gaza ist nicht der Libanon mit seinen Fluchtwegen in den Norden oder nach Syrien. Vittorio weigerte sich evakuiert zu werden, auch wenn sich sogar katholische Nonnen auf den Weg zum Notausgang machten. Er überlebte das Gaza-Massaker (27.12.2008 - 21.01.2009), erlebte die Blockade (seit Januar 2009) und starb in Gaza am 14.April 2011.
 
Von Palästinensern geliebt und von Zionisten gehasst lebte er das Leben vieler europäischer Aktivisten, ob Muslime oder Nichtmuslime. In der klassischen Kombination von Rechtsextremismus und jüdischem Zionismus wurde im Internet zu seiner Ermordung aufgerufen. Sechs Stunden vor der gewünschten Frist wurde Vittorio getötet und drei Stunden nach seinem Tod entdeckt – nicht gerade die Handschrift einer salafitischen Gruppe, welche die Freilassung salafitischer Gefangene erzwingen will, behauptet sein Verlag. Der Fanatismus zum Töten kennzeichnet den sogenannten "Gazakrieg".
 
Avigdor Lieberman parolte während des Wahlkampfes, noch bevor er Außenminister wurde, auf dem Rücken der Palästinenser: „Gaza sollte mit einer Atombombe von den Landkarten weggesprengt werden, so wie es die Amerikaner mit Hiroschima und Nagasaki getan haben." Der israelische Autor Abraham Yehoshua habe, schreibt Vittorio, zur Ha’aretz gesagt: „Wir töten heute ihre Kinder, um morgen viele zu retten". Das ist der israelische Mainstream. Einen Friedenspartner haben die Palästinenser seit langem nicht mehr. Israel wiegt sich in aller Selbstgerechtigkeit und bringt sich in Kriegsstimmung mit dem Verkauf von T-Shirts mit Aufdrucken wie „Better use Durex" (Nimm lieber ein Kondom) als Überschrift zum Foto eines ermordeten palästinensischen Kindes im Arm seiner weinenden Mutter, oder mit „One shot, two kills" (Ein Schuss, zwei Tote) und darunter die Zeichnung einer schwangeren Palästinenserin mit einem Fadenkreuz auf ihrem Bauch.
 
Während die üblichen Journalisten mit Pro-Israel-Einstellung den Mythos verbreiten, die Hamas hätte einen Waffenstillstand gebrochen, stellt Vittorio dies in Frage: „...tatsächlich war es Israel, das den Waffenstillstand brach, als es im November in aller Ruhe siebzehn Palästinenser umbrachte. Im Monat November wurden null israelische Opfer registriert, so wie auch im Monat vorher und im September. Daran erinnerte auch kürzlich der Ex-Präsident der USA und Nobelpreisträger Jimmy Carter."
 
Derweil wütet das israelische Heer im dichtest besiedelten Fleck der Welt. Vittorio ist dort als Ambulanzfahrer, Journalist und Helfer unterwegs. Trotz Beschuss und trotz Lebensgefahr. Die Helden des ISM (International Solidarity Movement) sterben mit ihren Schützlingen wie einst Pfarrer Georg Häfner. Das Al-Quds-Krankenhaus im Stadtteil Tal El-Hawa steht in Flammen, darin eingeschlossen 40 Ärzte und Pfleger, etwa 100 Patienten und Leila, ebenfalls eine ISM-Aktivistin. „Vor dem Krankenhaus ein Panzer und überall Heckenschützen, die auf alles schießen, was sich bewegt.. In der Nacht sahen sie von ihren Fenstern aus ein Haus in Flammen, das von einer Bombe getroffen worden war und hörten die entsetzlichen Schreie ganzer Familien, von Kindern, die um Hilfe riefen. Sie konnten sich nicht bewegen, waren machtlos, konnten nur die brennenden Körper sehen, die sich auf der Straße rollten und in Asche verwandelten.“ hält Vittorio fest. Ein Tagebuch, das verfilmt werden sollte – als Antikriegsfilm.
 
Der Angriffe auf Krankenhäuser und Ambulanzen nicht genug, werden obendrein Leichen und Verletzte in Karren von Eseln durch die Strassen gezogen. „Eines der Kinder lag dort mit zerschmettertem Schädel, die Augen, die buchstäblich aus den Höhlen getreten waren, pendelten im Gesicht wie die Stiele einer Krabbe, es atmete noch, als wir es entgegennahmen. Sein Bruder hingegen hatte einen offenen Brustkorb, zwischen den Streifen zerrissenen Fleisches sah man deutlich die einzelnen weißen Rippen. Die Mutter deckte mit ihren Händen den Brustkorb zu, als ob sie reparieren wollte, was die Frucht ihrer Liebe hervorgebracht hatte – und was der Hass eines anonymen Soldaten, der seinen Befehlen gehorchte, für immer zerstört hatte." Die entmenschlichte Ideologie des "Befehl ist Befehl" hatte hier trotz Judentum und Glauben an einen Gott keinen Einhalt gefunden. Der Teufel tanzt und wütet auch in der israelischen Armee.
 
Der Gebrauch illegaler Waffen führt zur Einlieferung von unheimlichen Leichen. Unerklärlich bleibt „das absolute Fehlen der Augäpfel (...) als wenn jemand sie vor der Ablieferung beim Gerichtsmediziner chirurgisch entfernt hätte". Die israelische "Demokratie“ funktioniert in Israel für Juden tadellos weiter, denn dort „stellen die Bürger von Sderot und Ashkelon eine formelle Anfrage an ihre Regierung, um Aufklärung über die in den vorherigen drei Wochen verwendeten Waffen zu erlangen. Abgereichertes Uran und weißer Phosphor machen keinen Unterschied zwischen Juden und Muslimen, wenn es darum geht, genetische Schäden zu verursachen“. Um die Araber aber kümmern sie sich nicht sonderlich, denn das Töten lässt sich wie eine Touristenattraktion vom Hügel aus besonders gut bewundern. Welch ein Feuerwerk! Man wisse von nichts, behauptet hier ehrlicherweise keiner. Des Wütens nicht genug muss mit Grausamkeiten gegen Muslime immer auch ihre Religion angegriffen werden: So bleibt keine Moschee unberührt, und Vittorio beschreibt das Gelächter und die Hohngesänge der israelischen Wehrmacht: „Alì, Mohammed, this is a message to your Allah Akbar!".
 
Aber es gibt tatsächlich immer noch Stimmen, die vom „Recht Israels auf Selbstverteidigung" reden. Verhältnismässigkeit ist ja eigentlich ein alttestamentarisches Prinzip: Aug um Aug, Zahn und Zahn, nicht etwa: 1000 Augen für ein Auge. Jedoch nach 20 Tagen wurden 1.075 palästinensische Opfer gezählt, mehr als 5.000 Verletzte, von denen mehr als die Hälfte Minderjährige waren, und „glücklicherweise nur vier israelische Zivilopfer." Glücklicherweise. Die europäische Kommissarin für den Wiederaufbau, Benita Ferrero-Waldner, ließ durchblicken: „Hilfen für den Wiederaufbau des Gazastreifens können nur dann ankommen, wenn es dem palästinensischen Präsidenten Abu Mazen gelingt, seinen Herrschaftsanspruch auf das Gebiet erneut durchzusetzen." Für die Palästinenser eine klare Einladung von Außen zu einem Bürgerkrieg oder zu einem Staatsstreich. Einmischung von Außen, Blockade und Kriegsverbrechen a la EU. Israel, USA und die EU als Kontrolletis der Araber machen gemeinsame Sache.
 
„Die EU übernimmt kommentarlos die von Israel entworfene kriminelle Politik der kollektiven Bestrafung", schreibt Vittorio, ein Europäer. Hoffnung auf den "Westen" gibt es nicht mehr. Statt zu helfen, wurde „von Reuters bestätigt, [dass] die USA dabei [sind], Israel mit 300 Tonnen Waffen zu versorgen, die auf zwei Containerschiffen von Griechenland abgehen sollen." Ilan Pappe bringt es auf den Punkt: „Fast ein Jahr nach dem Massaker haben sich diese Hoffnungen leider noch immer nicht bestätigt. Sogar die Tötung hunderter unschuldiger Palästinenser reichte nicht aus, irgendeinen entscheidenden Wandel in der westlichen öffentlichen Meinung zu bewirken, ganz zu schweigen von der Position der westlichen Regierungen."
 
Das internationale Rechtssystem ist kaputt, der Sicherheitsrat ein Komplize und unsere eigenen Regierungen schweigen. Folglich reagiert die Zivilbevölkerung - ein menschlicher Impuls. Schiffe mit Medikamenten und medizinisches Personal werden organisiert, doch das erste Schiff wird auf offenem Meer von elf Kriegsschiffen gerammt. Zu beobachten ist ein Trend von Westlern, die nach Palästina fahren und dort durch zivilen Ungehorsam Menschenleben retten wollen. Vittorio reiht sich in die Kette der ausländischen Märtyrer ein wie Rachel Corrie, Tom Hurndall, Juliano Mer-Khamis, Ibrahim Bilgen, Fulkan Dogan und zahllose andere.
 
Für Vittorio ist die Lösung klar: gewaltfreier Widerstand und Massenboykott. Die südafrikanischen Führer des Kampfes gegen das Apartheidregime, Nelson Mandela, Ronnie Kasrils und Desmond Tutu bekräftigen, dass die israelische Unterdrückung der Palästinenser um Längen schlimmer sei als jene in Südafrika, schreibt Vittorio. Er geht noch weiter und stellt fest, etliche Juden in Israel haben sich dem Boykott angeschlossen, ca. 500 bislang, unter ihnen Ilan Pappe, Aharon Shabtai und Neta Golan, Überlebende des Holocaust, die „Nie wieder!" schreien. Der erste Erfolg sei: der venezolanische Präsident Chavez hatte den israelischen Konsul des Landes verwiesen und jede Beziehung mit dem Staat abgebrochen „Er sollte allen unseren Politikern ein Vorbild sein“, hofft er insgeheim und empfiehlt israelische Produkte zu boykottieren: „Wenn Du auch nur ein Glas Wasser aus Israel kaufst, kaufst Du tatsächlich auch eine Kugel, die früher oder später im Herzen eines unserer Söhne stecken wird." Dies ist sein Aufruf an die junge europäische Generation. (PK)
 
"GAZA – MENSCH BLEIBEN", Vittorio Arrigoni, Zambon Verlag, 2012, ISBN 978 3 88975 194 2, 168 Seiten, 12 Euro,
 


Online-Flyer Nr. 368  vom 22.08.2012



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