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Inland
Verfolgung nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland
§ 129b-Verfahren gegen Kurden
Von Martin Dolzer

Seit dem 12. Oktober 2011 sitzt der kurdische Politiker Ali Ihsan Kitay in Hamburg wegen des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung“ gemäß § 129b in Isolationshaft. Konkrete Straftaten oder Anschläge in Deutschland werden ihm, wie mittlerweile vier weiteren seit 2011 aufgrund § 129b inhaftierten KurdInnen, nicht vorgeworfen. Bei den weiteren Inhaftierten handelt es sich Vezir T., Mehmet A., Ridvan Ö. und Abdullah S.. Für einen weiteren in der Schweiz lebenden Kurden wurde die Auslieferung beantragt, gegen eine bisher unbekannte Zahl Ermittlungsverfahren eröffnet.
 

Solidaritätskundgebung für Ali Ihsan Kitay vor
dem Untersuchungsgefängnis in Hamburg
Quelle: yeniozgurpolitika.org
Zur Last gelegt wird den Gefangenen, jeweils leitende Funktionen innerhalb verschiedener PKK-Strukturen eingenommen zu haben. Am 13. August beginnt nun der Prozess gegen Ali Ihsan Kitay vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Hamburg, darauf folgend ab Mitte September Verfahren gegen zwei weitere Inhaftierte vor dem OLG in Stuttgart-Stamm- heim und später gegen einen vor dem OLG Düsseldorf.
 
14 Selbstmorde seit 2010
 
Ali Ihsan Kitay sitzt seit seiner Verhaftung in Isolationshaft. Die Gespräche mit BesucherInnen finden hinter einer Trennscheibe im Beisein von Beamten des LKA statt und werden filmisch aufgezeichnet. Seine Post einschließlich der Verteidigerpost wird überwacht. Seit Haftbeginn hatte Kitay, der kein Deutsch spricht, keinen Zugang zu türkischsprachigen Büchern. Diese werden ihm, trotz Genehmigung durch den Haftrichter, von der Gefängnisleitung vorenthalten. Außerdem werden ihm Deutsch- und Englischkurse verwehrt. Das Hamburger Untersuchungsgefängnis ist für seine besonders rigide Praxis, insbesondere im Umgang mit migrantischen Gefangenen, bekannt. Seit 2010 nahmen sich dort 14 Menschen das Leben. Die Haftbedingungen für sämtliche Insassen kritisiert Kitay in einem Brief aus dem Gefängnis.
 
Der Bundesgerichtshof entschied am 28. Oktober 2010, dass zukünftig der Paragraph 129b des Strafgesetzbuches "Mitgliedschaft in einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung im Ausland" gegen die PKK und deren Nachfolgeorganisationen angewandt werden soll. Als eine solche Nachfolgeorganisation ist nach Ansicht der Bundesanwaltschaft (BAW) auch die KCK (Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) zu betrachten. Bisher erfolgten Verurteilungen nach Paragraf 129 (Mitglied einer kriminellen Vereinigung) oder dem Vereinsgesetz.
 
"Verfassungsrechtlich bedenklich"
 
„Das Vorgehen im Zusammenhang mit dem § 129b ist verfassungsrechtlich bedenklich. Es wird der Exekutive - dem Justizministerium - überlassen, zu entscheiden, ob eine ausländische Vereinigung terroristisch ist - oder ob sie legitimen Widerstand gegen eine Diktatur leistet oder als legitime Befreiungsbewegung gelten darf“, kritisiert u.a. Rechtsanwältin Britta Eder. Diese Entscheidung sei von politischen und geostrategischen Interessenlagen abhängig, so Eder. Zudem hätten die bisherigen 129b-Verfahren gezeigt, dass oftmals auch Aktionen zivilen Ungehorsams oder Aufklärungsarbeit über Menschenrechtsverletzungen als Mitgliedschaft oder Unterstützung angesehen werden.
 
Die BAW bewertet die PKK als terroristische Vereinigung im Ausland, da sie über militärisch strukturierte Guerillaeinheiten verfüge, die Attentate auf türkische Polizisten und Soldaten verübe. Die BAW verkennt zudem, dass die PKK seit einigen Jahren eine basisnahe kommunale Selbstverwaltung und kulturelle Rechte für die Kurden innerhalb der Staaten Türkei, Syrien, Iran und Irak anstrebt und keinen eigenen Staat. Die AnwältInnen der Kurden kritisieren erhebliche Lücken in der Argumentation der Behörde. Die Guerilla der PKK, die HPG (Volksverteidigungskräfte), ist eine in militärischen Formationen gegen überwiegend militärische Ziele auf türkischer Seite vorgehende Organisation. Damit ist sie eine Konfliktpartei in einem bewaffneten Konflikt im Sinne des Völkerrechts. „Der bewaffnete Kampf der HPG ist gemäß dem 1. Zusatzprotokoll der Genfer Konventionen nicht illegal, da er sich gegen lang anhaltende rassistische oder koloniale Unterdrückung richtet und für das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes im Rahmen des humanitären Völkerrechts geführt wird“, so Anwälte der AktivistInnen. Diese Kriterien sind in Anbetracht der dokumentierten kontinuierlichen, gravierenden Menschenrechtsverletzungen, extralegalen Hinrichtungen und nachgewiesenen Kriegsverbrechen, bis hin zu Chemiewaffeneinsätzen, seitens des türkischen Militärs sowie der Sicherheitskräfte erfüllt.
 
Hauptfeindbilder
 
Der politische Hintergrund der Kriminalisierung ist deutlich. Eurpopaweit wird unter bundesdeutscher Führung im Zusammenhang mit einer aggressiven neokolonialen Außenpolitik die Sicherheitspolitik auf allen Ebenen verschärft. Zu den Hauptfeindbildern wurden in Strategiepapieren die Tamil Tigers auf Sri Lanka (Liberation Tigers of Tamil Eelam, kurz: LTTE), die baskische ETA sowie die kurdische PKK erklärt. Es geht der EU wie auch der Bundesregierung zudem im gesamten Mittleren Osten um den Zugang zu Öl und Gasressourcen und die Absicherung der Transportwege. Die Türkei mit der zweitgrößten NATO-Armee wird als Bündnispartner und zukünftige Energiedrehscheibe gesehen, die feudalistisch-autoritäre AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdogan als demokratisch orientiert verklärt und als bestes Rollenmodell für die gesamte Region definiert. Emanzipatorische und vor allem gut organisierte basisdemokratische Kräfte, die in der Bevölkerung verankert sind, wie die kurdische Bewegung und die PKK, sollen in einer strategisch wichtigen Region gerade im Hinblick auf die neokoloniale Neuaufteilung des Mittleren Ostens offenbar nicht geduldet werden.
 

Einladung zur Informationsveranstaltung im
Hamburger Centro Sociale
Seit 2009 hat die türkische Regierung die Repression gegen die kurdische Bewegung auf allen Ebenen verstärkt. Folter und extralegale Hinrich-tungen gegen Zivilpersonen haben zugenommen; fast jeden Tag finden Militäroperationen in der Türkei und sogar völker-rechtswidrig im Nordirak statt. Seit den Kommunalwahlen 2009 ließ die AKP 7.000 kurdische Politiker und Aktivisten im Rahmen der "KCK Verfahren“ inhaftieren. Darunter 6 Parlamentarier der pro-kurdischen BDP, 33 Bürgermeister, über 1.000 Frauenaktivistinnen und mehr als 100 Journalisten. Das Anklagekonstrukt ähnelt nicht zufällig dem der "Antiterrorprozesse“ in den 70er Jahren in der Bundesrepublik.
 
Ein breit verankertes Solidaritätsbündnis veranstaltet jeden Monat Kundgebungen vor dem Untersuchungsgefängnis in Hamburg. Gefordert werden u.a. die sofortige Freilassung der politischen Gefangenen und die Aufhebung des PKK-Verbots. Am 1. August findet eine Informationsveranstaltung u.a. mit Anwälten im Hamburger Centro Sociale statt. Der Prozess gegen Ali Ihsan Kitay beginnt am 13. August vor dem OLG Hamburg. (PK)
 
Infos des Solibündnisses: www.freealiihsan.tk


Online-Flyer Nr. 365  vom 01.08.2012



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