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Lokales
Hartz IV – "Optionskommune Essen" - Jubel in der NRZ
Was vom Jubel übrig blieb
Von Heinz-W. Hammer

Am 31.03.2011 jubelte die Essener NRZ: "Essen hat den Zuschlag als so genannte Optionskommune bekommen. (…) Oberbürgermeister Reinhard Paß (SPD) freute sich: „Die Stadt Essen trägt derzeit die Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit, ohne kurzfristig direkt gegensteuern zu können.“ Künftig könnten die Angebote besser, schneller und flexibler auf die Bedürfnisse der Menschen und die Bedarfe des Arbeitsmarktes ausgerichtet werden. (…)
 

Essens Oberbürgermeister Reinhard Paß
(SPD) freut sich
Quelle: nrwspd.de
„Wir freuen uns über die Empfehlung des Landes, wissen aber um die Verantwortung“, sagte Peter Renzel, der die Federführung für den jetzt erfolgreichen Antrag übernommen hatte. (…) Positive Stimmung bei allen Parteien - „Sehr erfreut“ gaben sich gestern die Fraktionen von SPD, CDU, Grünen und FDP nach der positiven Mitteilung des Landesarbeitsministers Guntram Schneider. „Damit kann Essen die gute Arbeit des Jobcenters fortsetzen und noch stärker als bisher die Akzente der Arbeitsmarktpolitik vor Ort mitbestimmen“, sagte die SPD- Landtagsabgeordnete Britta Altenkamp. „Wir haben die Strukturen, wir haben das Know how, um dieser Aufgabe gerecht zu werden“, meinte Jutta Eckenbach, sozialpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion." – So weit die begeisterte NRZ.
 
Und heute – alles gut?
 
Fachleute und Selbsthilfegruppen hatten dagegen bereits früh davor gewarnt, dass mit diesem Modell vor allem die Kosten der Unterkunft zu einem Spielball der Kämmerer, die Gewährung von grundlegenden Leistungen also von der jeweiligen Kassenlage abhängig gemacht werden könnte. Die sogenennten Jobcenter unterlagen vorher der Kontrolle der Bundes-Arbeitsagentur. Das ist mit dem Modell "Optionskommune" entfallen. Wer würde das neue Amt kontrollieren?
 
Was sagen die Betroffenen, in Essen immerhin insgesamt rund 80.000 Menschen, nach drei Monaten "Optionskommune"? Wurde "schneller und flexibler auf die Bedürfnisse der Menschen" eingegangen, wie Essens OB Paß angekündigt hatte? Das darf bezweifelt werden. In online-Foren wie dem der örtlichen Selbsthilfeorganisation "BG45 – Hartz4-Netzwerk-Essen e.V." ist bspw. von einem "Abenteuer Optionskommune" die Rede, bei dem die Sorgen und Nöte der Hartz IV-Betroffenen noch weniger Berücksichtigung fänden als vorher.
 
Skandal durch die Hintertür
 
Kürzlich wurde sogar ein handfester Skandal bekannt, der im schlechtesten Falle zur massenhaften Verzögerung der Auszahlung des Alg II führen könnte: Seit Einführung von Hartz IV werden diese Leistungen jeweils für 6 Monate gewährt. Vor Ablauf dieses Zeitraums muss ein "Weiterbewilligungsantrag" eingereicht werden. Das entsprechende mehrseitige Formular nebst Anlagen und Rechtsvorschriften wurden den Betroffenen vom Job-Center frühzeitig per Post zugestellt. Dieses Verfahren wurde nun eingestellt – und zwar ganz stickum, ohne die Betroffenen zu informieren!
 
In einigen städtischen Schaukästen gibt es einen Aushang mit dem Text "Wichtige Info an alle Bezieher von ALG II-Leistungen / Hartz 4 - Es gab einige Veränderungen im Bereich des Jobcenters, bitte berücksichtigen Sie diese Änderung dringend. Ab sofort werden Fortsetzungsanträge auf Leistungsgewährung nicht mehr per Post versandt. Die Leistungsempfänger müssen diese Anträge rechtzeitig eigenständig stellen. Verspätete Antragstellung führt zu entsprechender Leistungskürzung. Denken Sie daran, rechtzeitig einen entsprechenden Antrag zu stellen!" (Hervorhebung im Original)
 
Noch mal: Es wurde und wird nicht für nötig gehalten, die Betroffenen über diese gravierende Änderung direkt zu informieren; dafür aber in sehr anonymisierter Form (Schaukasten) direkt Sanktionen (Leistungskürzungen) in Aussicht gestellt! Welchen rechtlichen Bestand dies hat, mögen versierte Anwälte klären. Für die Betroffenen, die darüber nicht informiert wurden, geht es jedenfalls um ihre materielle Existenz. Eine unverschuldete Leistungskürzung oder -sperrung bedeutet für diese zumeist eine individuelle Katastrophe.
 
Nur "einige technische Änderungen"?
 
Einer von ihnen, der durch Zufall von dieser neuen Lage erfuhr und in einem Brief an das Job-Center mit Verweis auf die notwendige Rechtssicherheit um Aufklärung bat, erhielt folgende Antwort: "(…) Zum 01.01.2012 wurde das JobCenter zum kommunalen JobCenter Essen. Durch den Wechsel zur Optionskommune haben sich einige technische Änderungen in der Verwaltung ergeben. Das JobCenter Essen arbeitet seit dem 01.01.2012 mit einem neuen System. In diesem System ist eine automatische Versendung des Weiterbewilligungsantrages leider nicht möglich. Das heißt für Sie, dass Sie auf Ihrem Bewilligungsbescheid das Enddatum beachten müssen und sich rechtzeitig einen Antrag beim JobCenter (…) abholen müssen."
 
Keine Entschuldigung für fehlende Aufklärung, keine Ankündigung, dass die Tausenden anderen Betroffenen in Essen nun informiert würden – Rechtssicherheit sieht tatsächlich anders aus. Was wohl sonst noch in der "Wundertüte Optionskommune" stecken mag?
 
P.S.: Wer sich eventuelles stundenlanges Warten bei der Abholung eines Alg II – "Weiterbewilligungsantrags" ersparen will, sei darauf hingewiesen, dass dieser auch stressfrei im Internet abgerufen werden kann: http://www.arbeitsagentur.de/zentraler-Content/Vordrucke/A07-Geldleistung/Publikation/Weiterbewilligungsantrag-Arbeitslosengeld-II.pdf
 
Auch diese Information wurde übrigens seitens des "kommunalen JobCenters Essen" ausdrücklich nicht erteilt. Das ist an dieser Stelle ein ganz spezieller und kostenloser Service der NRhZ für alle Betroffenen. (PK)

Heinz-W. Hammer ist Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft BRD-Kuba e.V., Regionalgruppe Essen


Online-Flyer Nr. 350  vom 18.04.2012



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