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Lokales
Eine sehenswerte Ausstellung im Kölner "EL-DE-Haus"
Die Mörder leben nebenan
Von Georg Biemann

Die Ausstellung im Kölner NS-Dokumentationszentrum "Ich erinnere mich an diesen Deutschen ganz genau" ruft einen bedeutsamen Gerichtsprozess aus dem Jahr 1979 ins Gedächtnis.

Der ältere Herr, der auf der stummen Film-Endlosschleife immer wieder zu sehen ist, trägt Hornbrille, Hut und Wintermantel. Ab und zu zieht er an einer Zigarette, überquert eine Kölner Straße, kommt näher. Dann entdeckt er die Filmkamera, die an jenem Morgen des Karnevalsdienstag 1971 auf ihn gerichtet ist. Er wechselt den Bürgersteig, überlegt, macht kehrt, läuft schneller. Harry Dreifuss, der Kameramann, holt auf, will das Gesicht des Mannes ins Bild kriegen. Der beginnt zu rennen, hebt seine Aktentasche, die ihn täglich ins Büro eines Kölner Getreidehandels begleitet, und verdeckt damit sein Konterfei. Schließlich erreicht der Mann die Straßenbahn. Kurt Lischka, 61 Jahre alt, fährt davon. Vorerst.

Kurt Lischka versucht, der Filmkamera zu entkommen
Kurt Lischka versucht, der Filmkamera zu entkommen
Filmbild: Copyright Harry Z. Dreifuss


Warum warteten an jenem nass-kalten Morgen des Jahres 1971 der Kameramann, der Pariser Anwalt Serge Klarsfeld und seine Frau Beate auf diesen Mann mit Hut? Warum versuchte die Journalistin Beate Klarsfeld einen Monat später, Lischka zu entführen? Woran erinnert sich heute der damalige Kölner Kriminalbeamte Vollmer, der "Beate" (wie er heute sagt) festnahm und verhörte, nachdem sie sich wegen der missglückten Entführung der Polizei gestellt hatte? Wer war dieser Lischka?

In einem Saal im 2.Stock des sog. "EL?DE-Hauses" in Köln, nicht weit vom Dom und vis-à-vis vom Gerichtsgebäude am Appellhofplatz, hat eine Arbeitsgruppe junger Leute eine Ausstellung geschaffen - mit wenig Geld, mit Sorgfalt, historischer Detailkenntnis, mit Sinn für multimediale Gestaltung. Und - besonders wichtig - mit Feingefühl. Ausgangspunkt war ein Seminar an der Universität Köln, geleitet von der Historikerin Anne Klein und ihrem Kollegen Thomas Horstmann. Was als Lehrveranstaltung begonnen hatte, wurde zu einem Projekt beim "Jugendclub Courage", wo willkommen war, wer mitzuarbeiten wünschte.

Die Projektgruppe schuf eine Ausstellung, in deren Zentrum ein Gerichtsverfahren steht. Schreiner bauten in der Mitte jenes Saales im "EL?DE-Haus" eine Kulisse: ein Gerichtssaal, scheinbar soeben verlassen. Die Akten, das Urteil, die Biographien der Täter - all das liegt auf den Tischen und wird durch Bild und Text an den Kulissenwänden ergänzt. Die Robe des Richters hängt auf dem Kleiderbügel hinter seinem Platz. Daneben ein Bildschirm mit einem laufenden Interview mit Richter Faßbender. Viele kleine Hocker bieten Ruhe für das ausführliche Lesen der Dokumente, etwa der Anklageschrift des Staatsanwaltes Holtfort, für das Abhören der (nach-) gesprochenen Zeugenaussagen. "Ich erinnere mich an diesen Deutschen ganz genau", sagte eine der Zeuginnen, eine Aussage, mit der diese Ausstellung betitelt ist.

Die Aktentasche soll ihn unkenntlich machen: Kurt Lischka
Die Aktentasche soll ihn unkenntlich machen: Kurt Lischka
Filmbild: Copyright Harry Z. Dreifuss


Um den Gerichtssaal herum werden Vor- und Nachgeschichte dieses Prozesses gezeigt. Karteikästen und Schreibtische lassen sich öffnen, um mehr zu erfahren aus Dokumenten und Hintergrundtexten. Auf einem Tisch liegt ein Strauß roter Rosen: Heinrich Böll hatte sie Beate Klarsfeld geschickt, nachdem sie für den Entführungsversuch zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt worden war.

An der Außenwand des Gerichtssaales, noch bevor man die Filmkamera des Harry Dreifuss in einem Glaskasten und den laufenden Film von 1971 sieht, hängen zwei Tafeln mit Fotos. Gesichter von Menschen, wie wir sie aus unseren Fotoalben kennen. Liebende, die sich umarmen, Kinder mit Spielzeug in den Händen, Großeltern mit Spuren des Lebens im Gesicht, Passfotos. Es sind die Bilder von Juden, die in Frankreich lebten, von Geburt an oder weil sie dorthin geheiratet hatten. Juden, die aus Nazi-Deutschland geflohen oder von diesem Regime nach Frankreich abgeschoben worden waren. Diese wenigen Fotos geben jenen 80.000 Juden ein Gesicht, die ermordet wurden von den Nazi-Schergen der deutschen Besatzungsmacht in Frankreich - deportiert in das KZ Auschwitz oder noch in Frankreich erschossen zur Abschreckung des Widerstands. Auch der Vater von Serge Klarsfeld wurde in Auschwitz umgebracht.

Scheinbar soeben verlassen: ein 'Gerichtssaal' in der Ausstellung
Scheinbar soeben verlassen: ein "Gerichtssaal" in der Ausstellung
Foto: Georg Biemann


In jenen Räumen des Kölner "EL?DE-Hauses", wo heute die Ausstellung zu sehen ist, in jenem Haus, das 1988 in ein NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln umgewandelt wurde, residierte bis 1945 die Gestapo. Ihr Chef hieß im Jahr 1940 Kurt Lischka. Ab November desselben Jahres warteten auf Lischka "höhere Aufgaben": im deutsch besetzten Frankreich wurde ein Befehlshaber für Sipo/SD und Gestapo gesucht. Lischkas Hauptaufgabe: die verantwortliche Mitwirkung beim Organisieren des Massenmordes an den Juden in Frankreich. Und dieser Aufgabe widmeten sich alle Stäbe der deutschen Besatzung mit Effizienz und Hingabe. Allen voran die SS?Verbrecher vom Schlage des Kurt Lischka, des Herbert-Martin Hagen, des Ernst Heinrichsohn und vieler, vieler anderer.

Wie konnte es sein, dass diese Mörder noch in den 70er Jahren unbehelligt ihrem Alltag nachgehen konnten? Warum interessierte es offenbar kaum jemanden hierzulande, dass die Mörder nebenan in unserer Nachbarschaft lebten (und leben), als sei es bloß ein Ladendiebstahl gewesen, der ihnen vorzuwerfen wäre? Was tat unsere Justiz, wie verhielt sich die Presse?

Diese hervorragende Ausstellung bietet die Möglichkeit, Antworten auf all diese Fragen zu finden. Und damit es kein Missverständnis gibt: der Gerichtsprozess (hier anschaulich nachvollziehbar) galt nicht etwa Beate Klarsfeld und den ihren. Vor einer Strafkammer des Landgerichts am Appellhofplatz standen 1979/80 drei leitende SS-Schergen, die den Massenmord an den Juden in Frankreich maßgeblich mitorganisiert hatten: Lischka, Hagen und Heinrichsohn. 3 von mindestens 250. Staatsanwalt Holtfort und Richter Faßbender haben - bei aller Kritik an dem sonstigen Verhalten der Justiz - ein Beispiel gegeben, entgegen der üblichen Rechtsprechung gegenüber sog. "Schreibtischtätern". Letztlich aber verdanken wir das Aufrütteln der Öffentlichkeit, das Anschieben der Prozesse und die Einsicht in die Halbherzigkeit unseres eigenen Rechtsempfindens jenem Ehepaar Klarsfeld, dem Kameramann Dreifuss und den vielen Ungenannten. Ihnen gebühren die Rosen.


Die Ausstellung ist zu sehen vom 12. Mai bis 16. September 2006 im NS?Dokumentationszentrum der Stadt Köln (EL?DE-Haus), Appellhofplatz 23-25, 50667 Köln; Telefon (0221) 470-6618 (Kontakt zur Projektgruppe)

Öffnungszeiten: Dienstag - Freitag 10:00 - 16:00 und Samstag - Sonntag 11:00 - 16:00 - Eintritt: 3,60 Euro, ermäßigt 1,50 Euro

Vorträge und eine Filmreihe im Filmhaus Kino Köln ergänzen die Ausstellung. Das Begleitprogramm kann von der Website der Ausstellung als PDF-Datei geladen werden unter www.lischka-prozess.de.

Siehe auch die Fotogalerie in dieser Ausgabe.


Online-Flyer Nr. 53  vom 18.07.2006



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