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Literatur
Fortsetzungsroman in der NRhZ - Folge 24
Max - Jahrgang 27
Von Lutz Köhlert

maxMai 1945 - Der zweite Weltkrieg ist zu Ende. Zu den ziel- und richtungslosen deutschen Soldaten gehört auch Max, siebzehnjähriger Kadett der Deutschen Kriegsmarine, den es nach Norwegen verschlagen hat. Er wird von den Engländern interniert, von den Amerikanern abtransportiert und den Franzosen übergeben. Die stecken ihn in eine Antimonmine in den Cevennen. Dort arbeitet er bis Ende 1947, meist unter Tage. Die Arbeit ist schwer und nicht ungefährlich. Eine gewisse Entschädigung dafür ist das sanfte Mittelmeerklima, seine schöne Vegetation und reiche Fruchtbarkeit. Noch Jahrzehnte später wird er von den sonnigen Felsterrassen über dem Gardon träumen, vom „Garten Frankreichs“, wo er das „Dornröschenschloß“ findet und seine erste Liebe, Marie-Paule.

Max ist übermüdet und aufgeregt, aber nicht schläfrig. So schlendert er weiter durch das schlafende Dorf in der Hoffnung, die frische klare Luft werde ihn beruhigen. Er bummelt bis zum Rande des Dorfes, wo Mausers Haus steht.
Als er unregelmäßig tappende Schritte hört, drückt er sich hinter ein Gebüsch. Skroszny kommt schwankend die Straße entlang und brabbelt Unverständliches vor sich hin. Max läßt ihn vorbeigehen und folgt ihm in einigem Abstand. Er bemerkt, daß Skroszny zu Mausers Haus geht, aber was will er dort um zwei Uhr früh?
Skroszny geht bis ans Haus und bleibt dort stehen. Anscheinend überlegt er, was er tun soll. Dann klettert er, nicht ohne Mühe, auf die Feldsteinmauer, die bis zum Haus führt und den Garten zum Flußbett hin abgrenzt.
Er balanciert auf der Mauer entlang, um ans Haus zu kommen. Bedenklich schwankt er auf der Mauer hin und her. Max drückt ihm die Daumen, daß er die Balance behält.
Aber Max’ Daumen müssen wohl zu klein sein oder nicht ordentlich gedrückt, denn Skroszny verliert das Gleichge-wicht und rutscht zum Fluß hin ab. Steine poltern hinterher. Noch kann er sich an der Mauerkante halten, aber dann lösen sich auch dort ein paar Steine, und er stürzt inmitten von Steinen und Geröll den Hang hinab.
Max hört entsetzt, wie er unten im Buschwerk aufschlägt, abrutscht und weiter fällt, gefolgt von der Steinlawine. Er hofft, daß die Büsche den Aufprall gedämpft haben!
In Mausers Haus wird ein Fensterladen aufgestoßen, man sieht schemenhaft eine Gestalt, dann blitzt es auf, der Donner eines Schusses zerreißt die Stille, eine Schrotladung zerfetzt das Gesträuch im Garten. Im Gefolge des Schusses schlagen im Dorf Hunde an, Stimmen erheben sich, allgemeine Un­ruhe entsteht und ebbt erst langsam wieder ab.
Eine schimpfende Frauenstimme ertönt: „Est-ce que tu es fou? Qui est-ce que tu crois qu’il soit là? Je suis mariée avec un bouffon ... un saboche!“ – „Bist du verrückt? Ich bin verheiratet mit einem Trottel.“
Mauser kräht dagegen: „Halt dein Maul, du Schlampe!“ Dann hört man das Klatschen von Schlägen und weiteres Gezänk, das sich im Hause verliert.
Max rennt los und sucht den nächsten Abstieg ins Flußbett. Er findet einen steilen Trampelpfad, der in unregelmäßigen Absätzen abwärtsführt, und springt ihn, mehr als er läuft, hinab, wenig auf hinabpolternde Steine achtend. Am Fuße des Hanges schlägt er sich durch die Büsche und ruft ver­halten: „Hein! Hein!“ Niemand antwortet, die Nacht bleibt still, und in der Dunkelheit ist keiner zu sehen. Max hofft, daß Skroszny sich vielleicht aufgerappelt hat und schon weggegangen ist. Zögernd und sich immer noch umsehend macht er sich auf den Heimweg.
*

Abgehetzt kommt Max in die Rattenburg. Das Fest ist zu Ende. Robert sitzt noch, volltrunken und brabbelnd, vor einem Becher Wein, die anderen schlafen und schnarchen in allgemeiner Unordnung. Skroszny ist nicht in seinem Bett.
Max versucht möglichst unauffällig, Schmude zu wecken, und schüttelt ihn: „He, Bodo!“ Der brummt unwillig und dreht sich auf die andere Seite. Max rüttelt ihn kräftiger, aber Schmude schüttelt ihn ab, ohne aufzuwachen. Max holt aus der Küche einen nassen Lappen und klatscht ihn Schmude ins Gesicht.
Der fährt hoch: „Hilfe! Was ist? Was ist los?“ Dann erkennt er Max: „Bis du völlig besengt?“
Max versucht, ihn zu dämpfen: „Pst! Nicht so laut! Ich muß dir was erzählen!“
Schmude will sich wieder hinlegen: „Du hast sie wohl nicht alle? Mitten in der Nacht ...“
Max hindert ihn daran und redet leise und eindringlich auf ihn ein: „Hör doch mal zu! Ich war unten im Dorf bei Mausers Haus ...“
Schmude bleibt unwillig: „Was haste denn da gewollt?“
„Ist doch jetzt scheißegal! Jedenfalls, als ich da war, kam Skroszny, voll besoffen, und hat versucht, bei Mauser einzusteigen.“
„Ja und?“
„Und dabei ist er abgerutscht und den Hang runtergefallen, den zum Fluß hin.“
Schmude: „Meine Fresse!“
„Ich bin runter und hab’ ihn gesucht, ob er sich was gebrochen hat, aber ich habe ihn nicht gefunden.“
Schmude ist wenig beeindruckt: „Na und? Sollte er da liegenbleiben? Hat er sich eben nischt jebrochen und ist abgehauen. Oder er pennt irgendwo im Gebüsch.“
Max sieht ein, daß seine Panik vielleicht übertrieben ist: „Man konnte auch nicht viel sehen ...“
Schmude: „Na eben. Was willste also? ’ne große Suchaktion starten?“
Max: „Aber was können wir machen?“
„Warum willste unbedingt wat machen? Hast du ’n da runterjeschubst? Jeh schlafen! Morjen erfährste mehr.“ Er dreht Max den Rücken zu und schläft sofort wieder ein.
Max zerrt Schmelzer von seinem Bett, der maulend in seine Stube kriecht. Er rückt sich zurecht und schläft auch bald, trotz des Kaleidoskops in seinem Kopf.
*

Noch ist es nicht hell, als Tünnes in der Küche Feuer macht.
Die Gewohnheit treibt ihn trotz des Feiertages so früh aus dem Bett, auch muß die Frühschicht am Ofen, werk- wie feiertags, um sechs Uhr ihre Arbeit beginnen, und die will ihren Kaffee haben, und Tünnes läßt keinen anderen in der Küche herumwirtschaften, sondern steht lieber selber so früh auf.
Der Eimer klappert, als er hinausgeht, und die Pumpe quietscht wie immer, obwohl er sie erst vor wenigen Tagen geschmiert hat. Der Schwengel ist ausgeleiert. Als er sich mit dem vollen Eimer wieder dem Haus zuwendet, sieht er im grauen Morgendunst in der Straßenbiegung hinter dem Haus des Schweinehändlers blaue Uniformen nahen, Gendarmen! Nun hat man zwar ein recht gutes Verhältnis zu den Gendarmen des Dorfes, weil in der letzten Zeit keine Diebereien mehr vorgekommen sind, jedenfalls keine erwähnenswerten, aber man liebt die Ordnungsmacht nun auch nicht gerade. Alle vier Ortsgendarmen sieht Tünnes die Straße herankommen. Noch ist nicht ganz klar, wohin sie wollen, aber sie scheinen geradewegs auf die Rattenburg zuzusteuern. Tünnes beeilt sich, ins Haus zu kommen. Halblaut ruft er in die Gute Stube: „Aufwachen! Aufstehen! Los, raus. Die Gendarmen kommen!“ Und eilt dann nach nebenan, um den gleichen Warnruf auch in die Große Stube auszustoßen.
Die Männer drehen sich unwillig auf die andere Seite oder kommen schlaftrunken hoch: „Was ist los? Mach doch nicht solch Geschrei ... Laß kommen, wer will.“
Aber Tünnes läßt nicht locker: „Lüftet die Ärsche und packt zusammen, was sie nicht unbedingt sehen müssen! Emil! Die Käse ...!“
Jetzt kommt doch etwas Leben in die Bude, die Männer raffen Sachen zusammen und werfen sie in ihre Rucksäcke oder Taschen, mancher wirft Auffälliges auch einfach unters Bett oder stopft es unter den Strohsack.
Max schaut sich um: Skroszny und Frömmich sind nicht da!
Die Männer sind noch nicht fertig mit dem Räumen, als zwei der Gendarmen schon in der Tür stehen. Schmude will hinaus, wird aber zurückgeschoben: „Restez là dedans!“
Tünnes versucht herauszubekommen, worum es geht: „Bonjour, messieurs! Was ist denn los? Qu’est-ce que vous cherchez?“
Die Gendarmen machen sich daran, die Stube zu durchsuchen, das heißt, sie schauen sich so um, wie man sich in einer fremden Wohnung umsieht. Der Sergent fragt nur, mit einem winzigen Lächeln: „Vous avez fêté hier, le Nouvel An?“
„Oh ja, ja. Nouvelle Année, monsieur le sergent! Vielleicht war ’n wir ein bißchen laut ...“
Einer der Gendarmen sieht den bekleckerten Milcheimer mit einem Rest Rotwein, und Max hält den Atem an, aber der Gendarm wendet den Blick wieder ab.
Schmude sagt leise zu Max: „Der Schweinehändler hat uns angeschissen!“
„Kein Wunder, wenn Frieda und Reinhard versuchen, das ganze Faß durch die Kellerluke zu wuchten, und ihm in seinem eigenen Keller Prügel androhen?!“
„Aber den Wein müssen sie doch gesehen haben!“
„Die können den Schweinehändler auch nicht leiden.“
Der andere Gendarm öffnet Emils Wandschrank, in dem ganz vorne ein halbes Dutzend Ziegenkäse auf­ein­an­der­ge­schichtet liegen. Emil ringt schon um eine Erklärung, aber die Obrigkeit zieht die Nase kraus und schließt den Schrank wieder.
Mit einer Handbewegung wird Max aufgefordert, den Inhalt seines Brotbeutels aufs Bett zu kippen. Zum Vorschein kommen ein Taschenmesser, das der Gendarm flüchtig betrachtet, eine mit Filz bezogene leere Feldflasche, das kleine Wörterbuch und ein Schal. Der Gendarm blättert flüchtig in dem Wörterbuch und wirft es dann wieder aufs Bett. Er wendet sich ab.
Auch die Taschen der anderen werden oberflächlich durchsucht, die Gendarmen finden aber anscheinend nicht das, wonach sie suchen – oder sie wollen gar nichts finden! Der Sergent fragt Tünnes: „Sont tous ici? Alles ... hier?“
Tünnes schaut sich scheinbar suchend um, obwohl er schon bemerkt hat, daß Skroszny und Frömmich fehlen: „Tja, ich weiß nicht, ... ich glaube ...“
„Skroszny fehlt!“ sagt Max.
Tünnes bestätigt: „Ja. Sieht so aus. Hein Skroszny ist non ici. Vielleicht ist er mal urinieren? Pipi?“ Er macht die Geste des Pinkelns.
Der Sergent geht darauf nicht ein. Er betrachtet der Reihe nach die Betten. Er weist auf ein leeres Bett: „Wer schlaf dort?“
Tünnes meldet sich: „Ich!“ Der Sergent zeigt auf Friedas Bett, Frieda steht am Tisch und versucht, den Ziegenschinken zu verdecken: „Hier! Ich.“ Die anderen stellen sich jetzt auch an ihre Betten. Das Bett von Frömmich bleibt leer: „Wer das?“ Zunächst antwortet keiner, dann blickt er die Männer der Reihe nach an, und schließlich sagt Frieda: „Heinz Frömmich.“
Der Sergent: „Frömmich? Wo Frömmich?“
Frieda zuckt die Schultern: „Weiß ich nicht.“
Noch ein leeres Bett: „Wer das?“
„Hein Skroszny ...“
Der Sergent nickt: „Il faut mettre ensemble tout son avoir. All sein Sach zusamm. Un paquet.“ Zu Max: „Tu es responsable, compris?“
Max schreckt zurück: „Warum ich?“
„Weil du verantwortlich!“ erklärt der Sergent seine Ent-scheidung.
Max nickt verständnislos: „Oui, monsieur.“
Tünnes: „Was ist denn los?“
In diesem Moment kommt Frömmich übermüdet und heiter herein und blickt überrascht in die Runde. Er hört noch, was der Sergent sagt: „Man aben gefunden monsieur Skroszny, bei Fluß. Il est mort. Tott. Gefallt von Berg.“
Frieda reißt entsetzt die Augen auf: „Ein Mord?“
Emil weist ihn zurecht: „Red kein’ Quatsch! Der war doch stinkbesoffen!“
Der Sergent sieht Frömmich und fragt: „Du Frömmich?“
Frömmich nimmt lässig so etwas wie eine militärische Hal­tung an und schnurrt herunter: „Obergefreiter Heinz Fröm­mich, 263. Infanteriedivision, Grenadierregiment ‚Hein­rich von Zieten‘, 2. Bataillon, 1. Kompanie, jetzt ‚pri­son­nier de guerre‘, mon sergent!“
Der Sergent schaut ihn einen Augenblick lang an, dann winkt er dem anderen Gendarmen: „Allons! Ça suffit.“ Er legt grüßend die Hand an die Mütze: „Au revoir! Et un Bon Nouvel An!“, und geht hinaus.
Die Gefangenen antworten halbherzig: „Au revoir. Bon An! Sa­lut ...“
Einige Augenblicke herrscht Stille. Tünnes schaut zu Frömmich, die anderen folgen nacheinander seinem Blick.
Frömmich sagt unbehaglich: „Was glotzt ihr so?“
Max will etwas sagen, aber Frömmich wendet sich schon ab und seinen Sachen zu, und Bodo Schmude knufft ihn in die Rippen: „Halt die Schnauze, Mensch! Halt dich da raus.“
Die gedrückte Stimmung lockert sich nur langsam, all­ge­meines Gerede setzt ein, Erstaunen, Unverständnis, Spe­ku­lationen. Man ist erleichtert, so davongekommen zu sein, andererseits aber auch verunsichert über das Auftreten der Gendarmen, die nichts gefunden, offenbar aber auch gar nichts gesucht haben. Schließlich einigt man sich auf die Erklärung, sie wären wegen Skrosznys Tod gekommen und hätten sich bloß so ein bißchen umgesehen.
Frieda und Balke legen sich wieder ins Bett, die anderen ziehen sich an, gehen sich waschen oder rasieren und machen sich ans Frühstück.
Max fühlt sich sehr unbehaglich.
Die Stimmung ist in den letzten Wochen immer gereizter geworden, und besonders Frömmich hat aus unerfindlichen Gründen immer wieder gegen ihn gestänkert. Der Gedanke, daß Frömmichs Eifersucht ihn zu seinen Bosheiten treiben könnte, erscheint ihm zu abwegig. Vielleicht hat die Witwe sich auch Frömmich gegenüber zu freundlich über Max ge-äußert, und Frömmich kann sich nicht vorstellen, daß Max bei der Witwe kein Gedanke an Sex kommt. Vielleicht war Max aber auch ein bißchen zu hochnäsig, und Frömmich rea-giert sehr empfindlich, wenn er annehmen kann, man unter-schätze seine Bildung. Jedenfalls fühlt sich Max als Zielscheibe der kleinen Gemeinheiten zunehmend verunsichert. Hinzu kommt, daß die zärtliche Beziehung zu Paule immer enger ge­worden ist und Max immer stärker das Gefühl hat, er sei Paule gegenüber in der Pflicht, und die gegenseitige An­zie­hung verwandle sich immer mehr in eine dauerhafte Bin­dung, die er nicht will. Überhaupt noch nicht, aber im be­sonderen auch nicht mit Paule, weil er in seinem tiefsten Innern, uneingestanden, ihre körperliche Mißbildung nicht zu übersehen vermag. Er wird noch viele Jahre brauchen, bis er bei der Beurteilung von Menschen und Dingen von solchen Äußerlichkeiten absehen kann.
*

Max flüchtet sich aus der gespannten Atmosphäre der Rattenburg in Paules Sanftmut.
Sie erwartet ihn im Dornröschenschloß, wohin er den Weg inzwischen auch im Dunkeln findet. Als sie die Arme um ihn legt, beruhigt sich sein Herz. Er möchte am liebsten den Kopf in ihren Schoß legen und schlafen. Seine Hände folgen den sanften Hügeln und Tälern ihres Körpers und übersetzen sie in zärtliche Empfindungen. Seine Lippen suchen ihren Nacken, ihre Schläfen, ihre Lider und werden eingefangen von ihrem Mund, der sich ihnen erwartungsvoll in den Weg stellt.
Paule ist hingebungsvoll und zärtlich auf eine neue Weise, die Max anrührt, aber auch irritiert zurückzucken läßt. Paule spürt seine Hemmungen und schickt ihm einen fragenden Blick, findet aber gleich zu ihrem zärtlichen Bemühen zurück. Max erwidert ihr Entgegenkommen nur mit winzigen, zöger­lichen Gesten.
Ein sanfter Regen setzt ein, ein kleines kühles Lüftchen treibt sie in den unzureichenden Schutz der alten Pinie. Zuerst schützen die dichten Nadelbüschel, dann aber durchdringen die Tropfen mehr und mehr das Nadeldach. Paule unter-bricht das zärtliche Tête-à-tête und steht auf: „Komm!“
Etwas verwundert erhebt er sich, läßt sich von ihr an die Hand nehmen, schlägt den Kragen hoch und folgt ihr zum Dorf hinab. Paule kümmert die Nässe nicht. „Wohin gehen wir?“ will er wissen, aber Paule legt den Finger auf die Lippen, „Pst! C’est une surprise! Nicht fragen.“
Max vertraut sich Paule an, bis sie schließlich vor ihrem Haus stehen. Als sie die Gartentür öffnet und ihn hineinziehen will, sträubt er sich: „Was wird deine Mutter sagen?“
Sie schüttelt den Kopf und lacht leise: „Mein Mutter in Alès, bei sa sœur, mein Tant. Für zwei Tag! Wir haben Haus ganz allein.“
Max ist die Sache unheimlich, er geht nur zögernd mit ihr. Der Hund kommt angerannt, ohne anzuschlagen, und Max bleibt reflexhaft stehen, aber das Tier begrüßt sie nur schweifwedelnd und versucht, ihnen das Gesicht zu lecken. „Tais-toi, Hector! Et va t’en!“ weist ihn Paule leise zurecht.
Sie findet den Hausschlüssel in der Nische eines kleinen Fensters und schließt auf. Sie kommen in eine winzige Diele, wo Max als erstes der Duft nach Lavendel und Äpfeln auffällt, der auch Paules Duft ist, wie Max jetzt bewußt wird.
„Aber wenn deine Mutter früher zurückkommt?“ Max fühlt sich unsicher. Was soll er tun, wenn sie ihn als ungebetenen Gast vorfindet?
Paule schüttelt den Kopf: „Ich sicher! Wenn sie besuch ma tante, sie bleib immer zwei Tag und zwei Nächte. Ein Nacht davon ist für uns!“ Sie verschließt die Haustür von innen und schaltet eine schwache Lampe über der schmalen, steilen Treppe ein, deren Stufen ausgetreten sind und laut knarren, so daß Max zusammenschrickt, als sie ihn bei der Hand nimmt. Sie lacht wieder leise: „Du hab keine Angst! Niemand hört. Wir gehen in meine Zimmer.“
Ihre Kammer liegt unter dem Dach, hat eine abgeschrägte Wand und ein Mansardenfenster, vor das Paule einen ge­blümten Vorhang zieht, bevor sie eine kleine Tischlampe ein­schaltet, ebenfalls mit geblümtem Schirm. Das Zimmer ist klein und einfach eingerichtet, aber schon durch seine Enge gemütlich. Unter dem Fenster steht ein kleiner quadratischer Tisch, darauf in einer Vase ein paar Stechpalmenzweige mit einem Rauschgoldengel, davor ein Stuhl, daneben, unter der Schräge, ein Kastenbett, gegenüber, an der geraden Wand, ein kleiner Kleiderschrank. Neben dem Schrank eine Kommode mit einer Wasserkaraffe und einer Schüssel. Auf dem weni­gen freien Platz der Wand hängen ein Marienbild und ein Wochenkalender mit einer kleinen Karte Frankreichs.
In einem kleinen eisernen Ofen neben der Tür ist noch Glut, Paule schürt sie auf und legt ein paar Scheite Kastanienholz nach, so daß die Flammen bald gemütlich prasseln. Paule deutet auf den Stuhl: „Du sitz hier!“
Max setzt sich gehorsam und steif: „Und du?“
„Ich mir sitz auf dir“, sagt sie und setzt sich auf seinen Schoß.
Sie ist leicht, findet Max und drückt sie an sich. „Es ist schön bei dir“, sagt er, „aber auf unserem Platz war es auch schön.“
„Auf unser Platz kein Bett, aber Regen!“ erklärt Paule schlicht, und in Max wallt Verlegenheit auf und Verklem-mung läßt ihn verkrampfen, weil er sich in eine Lage manövriert hat, die ihm keinen Ausweg offen läßt.
Paule spürt das und rutscht von seinem Schoß: „Ce n’est pas commode. Nicht bequem“, sagt sie, „wart auf mir! Der Engel paß auf dir auf.“ Sie läuft die Treppe hinab.
Max atmet tief durch und sieht sich im Zimmer um. Eigentlich hat Paule recht: Warum macht er sich ver­rückt? Sie wird schon wissen, ob ihre Mutter plötzlich zurück­kommen kann, und schließlich bekommt sie dann mindestens genausoviel Ärger wie er. Und will er nicht schon viele Wo­chen lang wissen, wie es ist, mit einem Mädchen zu schlafen? Sie hat ganz sicher keine anderen Kerle, die sie krank machen konnten. Denn das war ihm in den ganzen Jahren beim Arbeitsdienst, als Luftwaffenhelfer und als Soldat eingebleut worden, daß man sich vor Geschlechtskrankheiten hüten muß. Scheußlicher Gedanke, der einem alle zärtlichen Ge­fühle versauen kann! Aber er selber ist noch nie in Gefahr ge­raten und Paules Außenseiterdasein sollte sie auch davor bewahrt haben. Außerdem vertraut er ihr wirklich.
Max sieht jetzt erst richtig den Kalender an der Wand, mit der Karte Frankreichs. Er sucht darauf Collet-de-Dèze, wohl wissend, daß der Maßstab viel zu groß ist, als daß so kleine Orte darauf Platz finden könnten. Aber die Gegend in den Cevennen läßt sich ungefähr bestimmen, auch die möglichen Wege nach Deutschland: nach Osten durchs Rhonetal oder nach Norden über Paris.
 Paule kommt zurück mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern. Sie stellt alles auf den Tisch, schenkt ein, gibt Max eines der Gläser und nimmt sich selbst das zweite, um mit Max anzustoßen: „Auf le Nouvel An, die Neue Jahr, und dein’ retour in dein Heimat!“
Sie trinken und sie küssen sich, und der Kuß schmeckt nach Wein und nach Liebe und alle Bedenken haben sich verflüchtigt.
Eine Woge von Zärtlichkeit, Wärme, Sanftheit und Leiden­schaft schwemmt Max mit sich fort. Als er zwischen Nacht und Morgen durch leere Straßen und das dunst­verschleierte Flußbett wieder den Weg zur Rattenburg geht, erfüllt ihn das ganze große, unbeschreibliche Gefühl dieser Nacht. Doch schon beginnt sein Verstand mit lästigen Fragen das Erlebnis der Nacht zu sezieren.
Was sollte nach dieser Erfüllung kommen? Wie wird er Paule begegnen? Wird sich ihre Zuneigung in Wiederholungen erschöpfen? Werden die Kameraden ihm nicht seine Ver-wirrung ansehen und ihn erbarmungslos damit hänseln? Wie sollte er sein Leben zwischen den Stänkereien im Camp und den Stunden der Liebe einrichten?
Er findet keine Antwort darauf.  (PK)

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max - jahrgang 27Max, Jahrgang 1927, 16jähriger Luftwaffenhelfer, später Kadett der Kriegsmarine auf dem Zerstörer „Hans Lody“, schildert seine Erlebnisse während des Krieges und in französischer Kriegsgefangenschaft. Seine Erinnerungen kreisen um die Arbeit im Bergwerk, um die erste Liebe zu der Französin Marie-Paule, die vergeblichen Fluchten und die endliche Heimkehr in das besetzte Deutschland. Reflexionen über die Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges haben angesichts weltweiter kriegerischer Aktivitäten nichts von ihrer Aktualität verloren.
ISBN 978-3-942693-50-9  € 11,90
© 2010 edition winterwork alle Rechte vorbehalten

Lutz Köhlert, geboren 1927 in Falkensee, lebt in Kleinmachnow. Er war von 1943 bis 1945 Luftwaffenhelfer und Kadett der deutschen Kriegsmarine in Norwegen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geriet er in französische Kriegsgefangenschaft und arbeitete in einem Bergwerk in den Cevennen bis Januar 1948. Er versuchte mehrfach von dort zu fliehen.
Nach seiner Rückkehr 1948 legte er in Falkensee das Abitur ab und studierte an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin und an der Universität Greifswald Bühnenbild und Kunstwissenschaft.
Nach seiner Promotion wandte er sich dem Film, später dem neuen Medium Fernsehen zu. Bei der DEFA führte er Regie, u. a. bei den Spielfilmen „Ärzte“, 1961, und „Tiefe Furchen“, 1965. Für das Fernsehen entstanden szenische Dokumentationen wie „Schließt mir nicht die Augen“ und „Die letzten Stunden von Radio Magellanes“. Ab 1967  bis zu seiner Emeritierung 1991 war er an der Hochschule für Film- und Fernsehen „Konrad Wolf“ als Dozent, Rektor und Professor für Regie tätig.


Online-Flyer Nr. 317  vom 31.08.2011



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