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Aktueller Online-Flyer vom 14. Dezember 2024  

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Globales
Wie die Protestierer in Israel dem Volk die Selbstachtung zurückbringen (könnten)
„Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit!“
Von Werner Rügemer

„Doch dann kam das Erstaunen: Wo waren wir die ganze Zeit? Wie konnte das alles passieren? Wie konnten wir zulassen, dass unsere Regierung Gesundheit und Bildung zu Luxusgütern gemacht hat?“ - Aber hallo, wo sind wir? In Großbritannien? In Deutschland? In Frankreich? In Ägypten? In den USA? Nein, wir sind diesmal in einem anderen Staat, der in den genannten Staaten immer ganz besonders gelobt wird und über den „wir“ eigentlich gar nichts wissen: Wir sind in der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“!


David Grossmann und seine Frau Michal bei der Friedenspreisverleihung
Quelle: http://newshopper.sulekha.com/
 
Und da wird nun aber echt demokratisch gefragt, und zwar gegen die Regierung: „Warum haben wir nicht laut protestiert, als das Finanzministerium die streikenden Sozialarbeiter bestrafte und davor die Behinderten, die Holocaust-Überlebenden, die Alten und Rentner? Wie kann es sein, dass wir die Armen und Hungrigen jahrelang in ein Dasein unsagbarer Demütigung abgedrängt haben, in Suppenküchen und andere Wohlfahrtseinrichtungen. Warum haben wir die ausländischen Arbeiter vergessen, gedemütigt, gejagt und in Sklaverei unterschiedlichster Art (auch sexueller) verkauft? Wie kommt es, dass wir uns mit den Schändlichkeiten der Privatisierung abgefunden haben, die zu einem Verlust an Solidarität, Verantwortungsbewußtsein und Gemeinsinn führte?“(1)
 
Dies schreibt David Grossmann, israelischer Schriftsteller, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2010. Ein gut gewählter Preisträger, der übrigens nicht nur stolz seinen Preis herumträgt und herumzeigt und seine Preisgeber lobt. Sondern der uns über seinen Staat etwas mitteilt, das für die deutschen friedlichen Fernsehzuschauer und die mehr oder weniger lustlosen, nostalgischen Spiegel- und Süddeutsche Zeitung-Konsumenten ziemlich neu ist.
 
David Grossmann schildert uns, nachdem er zunächst am Rand die lärmenden Demonstrationen auf Jerusalems Prachtstraßen beobachtete - und dabei ging es nicht nur um die Zeltstädte, die von tausenden Jugendlichen aufgestellt wurden, die keine eigene Wohnung bezahlen können und über die „unsere“ Medien uns ein bißchen informiert haben: David Grossmann schildert, dass er wie viele andere israelische Bürger staunte: So etwas war in diesem Staat bisher noch nicht geschehen, schien unmöglich. Die meist jugendlichen Demonstranten protestierten gegen die „eigene“ Regierung, die sie nicht mehr als ihre Regierung anerkennen. Die älteren Beobachter waren skeptisch, schreibt Grossmann, wohl auch für sich selbst, und sie assoziierten die Demonstranten zunächst mit dem „Mob“, den sie im Fernsehen „mit wütend erhobenen Fäusten“ gesehen hatten, in Griechenland, Tunesien, Ägypten, Syrien. Einige Demonstranten in Jerusalem skandierten sogar „Re-vo-lu-tion!“ Würde das nicht in Anarchie münden?
 
Doch dann marschierten skeptische Beobachter mit, auch Grossmann. „Doch nachdem wir eine Weile marschiert waren, steckte uns etwas an: der Rhythmus, die Energie, das Zusammengehörigkeitsgefühl..., familiär und improvisiert, das uns signalisierte: Wir tun das Richtige. Endlich.“
 
Endlich das Richtige tun, das solange nicht zu tun möglich schien. Warum zum Beispiel war es gerade in Israel möglich, dass die noch lebenden Holocaustopfer, ehemalige KZ-Häftlinge und andere, so mit kümmerlichsten Renten dahinsiechen, seit vielen Jahren, trotz aller Kritik? Warum wurde über die sklavenartig gehaltenen thailändischen Niedrigstlöhner geschwiegen, die für ausländische reiche Juden Luxusappartments in Jerusalem hochziehen und in Containern auf dem Baugelände eingesperrt dahinleben?
 
Für diese „Apathie“, so Grossmann, gebe es viele Gründe, aber der wesentliche Grund sei die Besatzung der übrigen Gebiete Palästinas. Das habe zum „Niedergang der gesellschaftlichen Warnmechanismen“ beigetragen. Deshalb „haben wir uns“, so der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, „vielleicht aus Angst, der Realität ins Auge zu sehen, uns mit dem größten Vergnügen allen möglichen Dingen hingegeben, die uns abstumpften und unseren Blick für die Realität trübten... Hinzu kommt das kommerzielle Fernsehen, das die Leere in unserem kollektiven Bewußtsein füllt, sodass wir, beherrscht von Überlebenskampf und Gier, übereinander herfallen und jeden verachten, der schwächer oder anders oder unattraktiver oder ärmer oder nicht so clever ist... Jeder steht für sich allein.“
 
Aber hallo, wo sind wir hier eigentlich? Kommt uns das nicht ziemlich bekannt vor? Das medial und politisch organisierte Schweigen und Verdrängen kennen wir in allen „unseren“ neoliberal geprägten, demokratisch betitelten Staaten, in den USA, in Deutschland, in England undsoweiter. Je mehr die Realität geleugnet wurde, desto mehr ließen „wir“, schreibt Grossmann, „Unterdrückung, Manipulation und Abstumpfung zu... So kam eines zum andern, und die ernsthafte Auseinandersetzung mit schicksalhaften Fragen verkümmerte zu einem zänkischen 'Wer ist ein Freund Israels, wer ein Feind?', 'Wer ist loyal, wer ein Verräter?' und 'Wer ist ein guter Jude' statt 'Wer hat vergessen, dass er Jude ist?'."
 
So zeigt sich an einem der brennendsten, gefährlichsten, scheinbar unlösbaren Konfliktorte der gegenwärtigen Welt: Soziale Gerechtigkeit und Frieden hängen ursächlich zusammen! Ach ja, auch könnten zum Beispiel besonders wir Deutschen doch fragen: Hat uns nicht die Erhebung des „Existenzrechts“ Israels - wozu bekanntlich auch die Besetzung des übrigen Palästina und jeder Terrorakt israelischer Regierungen, Geheimdienste, Militärs und Siedler gehören - als Staatsdoktrin dazu geführt, dass wir die soziale und moralische Wirklichkeit des neoliberalen Vorbildstaates im Nahen Osten verdrängen, verleugnen? Und folgendes könnte uns auch in Deutschland bekannt vorkommen: „Jede rationale Diskussion“, stellt Grossmann fest, „ist nun überzogen mit einer Schicht von sentimentalem Kitsch, dem patriotischen, nationalistischen Kitsch larmoyanter Selbstgerechtigkeit.“
 
Und nun die Demonstrationen, die scheinbar wie aus dem Nichts kamen. Die jedenfalls für diejenigen wie aus dem Nichts kamen, die sich und auch eine Menge deutscher selbstgerechter Apathen durch den sentimentalen Kitsch mit der deutschen Staatsdoktrin erblindet, zermürbt, moralisch versaut und apathisch gemacht haben.
 
„Doch plötzlich geschieht etwas, gegen alle Erwartungen“, schreibt der Beobachter und Mitdemonstrant David Grossmann, „die Leute reiben sich die Augen und registrieren dieses Etwas, das noch nicht definierbar, nicht übersehbar, nicht einmal in Worte zu fassen ist, aber Gestalt annimmt in Parolen wie 'Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit!' und 'Wir wollen Gerechtigkeit, nicht Almosen!' und anderen Forderungen, die aus früheren Zeiten übernommen werden. Es liegt so etwas wie Heilung in der Luft, und zum ersten Mal seit langer Zeit ist unsere Selbstachtung wieder da, für den Einzelnen und für uns als Volk.“
 
Zum ersten Mal wieder Selbstachtung! Wir könnten unseren Gewährsmann des Wunschdenkens zeihen, wenn wir nur die Berichte im deutschen Fernsehen kennen. Aber das Aufbegehren, das sich nach jahrzehntelangem Schweigen Bahn bricht, wie in anderen neoliberal orientierten Staaten in der Nähe, entlädt sich nicht nur in der okkupierten Hauptstadt Jerusalem, sondern auch auf dem Rothschild-Boulevard in Tel Aviv, auch in ärmeren Vororten und in Aschdod, Haifa, Beit Schean und vielen kleineren Orten. Wenn jetzt dreihundertfünfzigtausend zusammen demonstrieren und noch mehr mit ihnen sympathisieren, dann ist das in dem kleinen Staat sehr viel. Es ist der mögliche Beginn einer „Umkehr“, schreibt der israelische Schriftsteller. Die neue Sprache der Demonstranten erlaube, ermögliche den „Dialog zwischen Religiösen und Säkularen, zwischen Arabern und Juden, zwischen Angehörigen verschiedener Schichten“.
 
Natürlich herrscht in Israel auch Skepsis und harsche Kritik an den Demonstranten, ihrem Stil und ihren Forderungen. „Es ist leicht, diese junge Bewegung zu kritisieren und Zweifel zu äußern. Gründe, warum man etwas Kühnes und Entschiedenes nicht tun soll, finden sich ja immer sehr leicht. Wer aber den klopfenden Herzen der Protestierer lauscht, der wird spüren, dass ein Fenster aufgestoßen wurde, das in eine andere Zukunft weist..., zu jedermanns großer Überraschung ist endlich ein wahres Engagement zu beobachten. Vielleicht hat das die junge Frau gemeint, die beim Protestzug in Jerusalem zu mir sagte: 'Die Politiker haben keine Werte mehr, aber wir schon'.“
 
Man könnte hinzufügen, dass „unsere“ regierenden Politiker, in Israel wie auch in Deutschland zum Beispiel, durchaus Werte haben, die sie aber möglichst verschleiern und verschwiemeln, weil die nichts mit Demokratie, Gerechtigkeit, Solidarität und Selbstachtung zu tun haben.
 
Und man könnte hinzufügen, auch nach den Prostesten in den benachbarten arabischen Staaten, dass die jungen und auch die älteren neuen Protestierer und Protestiererinnen, auch die etwa in Spanien, erst dabei sind, ihre Gegner zu erkennen, sie nicht nur von vorne zu sehen, sondern auch von hinten und von der Seite.
 
Wir beglückwünschen die Demonstranten in Israel, wir danken David Grossmann und werden neue Brücken von Deutschland nach Israel und zu anderen Ländern bauen. Endlich Selbstachtung... (PK)
 
(1) Der Artikel Grossmanns wurde u.a. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 6.8.2011 abgedruckt, allerdings in Überschrift und Vorspann tendenziös verfälscht präsentiert; Haupttitel „Alle für alle, jeder für sich“; und im Vorspann heißt es: „Aber in unserer Euphorie sollten wir nicht alles niederreißen“ - insbesondere dieser Satz ist schleichend infam, denn er wird als Aussage Grossmanns insinuiert, die sich weder wörtlich noch dem Sinne nach bei ihm
wiederfindet.

Eine andere Haltung als Werner Rügemer zu den Demonstranten und zu David Grossmann vertritt Evelyn Hecht-Galinski in ihrem Kurzkommentar  "Die Unbelehrbaren implodieren" in dieser NRhZ-Ausgabe.

Achtung: Seit Juni 2011 gibt es die 2. erweiterte und aktualisierte Auflage:
Werner Rügemer: »Heuschrecken« im öffentlichen Raum. Public Private Partnership - Anatomie eines globalen Finanzinstruments, transcript, Bielefeld 2011. Mit drei neuen Kapiteln: Bankenrettung und PPP, Gescheiterte Projekte, Die gefährlichste Straße Deutschlands.


Online-Flyer Nr. 314  vom 10.08.2011



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