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Literatur
Ein neuer Gesellschaftsroman von Wolfgang Bittner
Identität und Liebe
Von Marc Weidemann

Ein Roman, der in der Kur spielt, löst natürlich sofort Assoziationen zu Thomas Manns "Zauberberg“ oder Hermann Hesses "Kurgast“ aus. Aber zum einen haben sich die Verhältnisse seither gewandelt, und zum anderen handelt Wolfgang Bittners Roman "Schattenriss oder Die Kur in Bad Schönenborn" primär von einer depressiven Lebensphase, die durch eine intensive Liebesbeziehung kuriert wird.
 

Wolfgang Bittner
Foto: Archiv W. Bittner
Alles beginnt mit einem ärztlichen "Kunstfehler“, der die Hauptperson, Ludwig Mahler, an den Rand des Todes bringt. Es folgt eine Kur in Bad Schönenborn, einem Fantasieort im deutschen Mittelgebirge. Dort lernt Mahler, der in einer Krise steckt, eine Mitpatientin kennen, zu der er sich mehr und mehr hingezogen fühlt, und obwohl er seiner Ehefrau liebevoll verbunden ist, lässt er sich auf eine Affäre ein, die er nach Beendigung der Kur in aller Heimlichkeit fortsetzt.
 
Françoise Dubois, die Geliebte, ist Anwältin für internationales Recht in einer Kanzlei in Zürich, eine emanzipierte Frau Mitte Vierzig, sehr attraktiv, gebildet, weltgewandt. Mahler vermag sich ihrem Charme nicht zu entziehen, wenngleich er es zunächst versucht. Die beiden lernen sich am Mittagstisch kennen, wo sich zum gemeinsamen Mahl jeweils mehrere Rehabilitanden zusammenfinden, die sich – mehr oder weniger – sympathisch sind. Das sind neben den beiden Hauptpersonen noch der in Deutschland lebende Äthiopier Joseph Sahavi, die Studienrätin Marianne Wisotzki und ein alter Herr namens Hilbinger.
 
Nun geht es selbstverständlich nicht um die verschiedenen Krankheiten, das wäre dann wohl doch zu nervtötend, sondern um durchaus existenzielle Fragen und auch um die Beschädigungen, die das Leben den einzelnen Personen zugefügt hat. So berichtet der alte Herr Hilbinger, der noch an einer Verletzung aus dem Zweiten Weltkrieg leidet, von der Familie seiner verstorbenen Frau, die aus Schlesien stammte. Und er vertritt Ansichten, die zu heftigen Diskussionen Anlass geben – eine fesselnde Lektüre.
 
 
Die Handlung setzt sich später fort in Zürich und in New York, wohin Mahler seine Geliebte begleitet, die dort beruflich wegen eines Plagiatfalls zu tun hat. Aber Ludwig Mahler kehrt zwischenzeitlich immer wieder nach Hause zurück; er bemüht sich – wenn auch zwiegespalten – sein bisheriges Leben aufrecht zu erhalten, feiert sogar das Weihnachtsfest in der Familie.
 
Schon in Zürich, mehr noch in New York, wird die Verschiedenheit Mahlers und seiner Geliebten deutlich. Sie lieben sich zwar bis zur Selbstaufgabe, sind aber in vielerlei Hinsicht vollkommen unterschiedlicher Auffassung, was das Leben, die Gesellschaft und die Politik angeht. Ebenso wie es Bittner überzeugend gelingt, die nahezu ausweglose Annäherung der beiden Hauptpersonen darzustellen, vermag er den Lesern auch sehr behutsam die sich allmählich vollziehende Entfremdung der Liebenden nahezubringen.
 
Das bahnt sich bereits in der zweiten Hälfte des Romans in einer Szene an, in der zum Missfallen von Mahlers Geliebter auf die Amerika-Kritik des heute hauptsächlich noch wegen seiner Indianerromane bekannten Schriftstellers James Fenimore Cooper (1789-1851) eingegangen wird: „Cooper beschreibt, wie die sogenannten Pioniere die Natur verwüsteten, wie sie mit Kanonen auf die Taubenschwärme feuerten, Seen trockenlegten, um sämtliche Fische auf einmal zu fangen und wie sie auf alles schossen, was sich in der Prärie und im Wald bewegte. Die puritanischen Yankees nannte er Heuschrecken des Westens, und später schrieb er, dass diese Heuschrecken ihre Schiffe in alle Welt schicken, um für ihre Ziele Krieg zu führen.“
 
Es geht dabei um die „Wahlverwandtschaft zwischen Kapitalismus und Puritanismus, diese ökonomische Prädestinationslehre“, die zu seinem Nachteil auch der berühmte Schriftsteller Herman Melville (1819-1891) zum Thema hatte, dessen Roman „Moby Dick“ als ein Höhepunkt der amerikanischen Literatur gilt (später musste er als Zollinspektor im New Yorker Hafen arbeiten, weil niemand mehr seine Bücher kaufte). Melville wird wie folgt zitiert: „… Bei den Entrechteten sind sie verhasst, / Indianern, Indern –Ost und West. / Piraten sind’s, der Erdball ihre Beute, / Grau und verlogen, Mammons Leute …“ Mahlers Geliebte, Françoise, hält das für „plumpen, primitiven Antiamerikanismus“. Ärgerlich vertritt sie die Auffassung: „Wir können doch froh sein, wenn die Amerikaner für uns die Ordnungsmacht spielen.“
 
Solche Passagen flicht Bittner sehr geschickt in den Verlauf seiner Romanhandlung ein, die dadurch zusätzlich an Tiefe und Spannung gewinnt. Das trifft auch auf die Gespräche am Mittagstisch und auf ein längeres Gespräch mit dem Chefarzt der Klinik über den Gottesbegriff, wie auch über Moral und Christentum zu. Diese Diskurse sind zwar geistreich und teilweise philosophisch unterlegt, aber keineswegs abgehoben.
 
Mahler kommt ein wenig ernüchtert und im Widerstreit der Gefühle aus New York zurück. Inzwischen hat seine Ehefrau, die von der Affäre ihres Mannes erfahren hat, Rat bei einem Freund der Familie gesucht. Dadurch ergeben sich völlig neue Konstellationen, so dass eine Klärung der Verhältnisse für Mahler noch schwieriger wird. Ihm stellt sich immer dringender die Frage, ob zwei Menschen vollkommen unterschiedlichen Welt- und Politikverständnisses auf die Dauer ihre Liebe erhalten und leben können.
 
Wolfgang Bittner ist ein erfahrener Romancier und er lässt diese Frage die Leserinnen und Leser beantworten. Seine Sprache ist meisterhaft, sein humaner Ansatz imponierend. Dass er politische und philosophische Diskurse oder Zitate von Franz Werfel, Max Frisch, James Fenimore Cooper oder Herman Melville einbezieht, ist eine zusätzliche Bereicherung. Ein gelungener Roman, gut zu lesen, spannend, unterhaltend und dennoch mit Tiefgang. (PK)
 
Wolfgang Bittner, "Schattenriss oder Die Kur in Bad Schönenborn", VAT Verlag, Mainz 2011, 240 Seiten, gebunden, 18,90 Euro.
 
Wolfgang Bittner, geb. 1941 in Gleiwitz, lebt als Schriftsteller in Göttingen. Der promovierte Jurist ist freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen. Bis 1974 ging er verschiedenen Berufstätigkeiten nach, u.a. als Fürsorgeangestellter, Verwaltungsbeamter und Rechtsanwalt. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004/05 und 2006 nach Polen. Er erhielt mehrere Preise und Auszeichnungen (2010 den Kölner Karls-Preis der NRhZ), ist Mitglied im P.E.N. und hat über 60 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder veröffentlicht, unter anderem 15 Romane, den Erzählband "Das andere Leben" und das Sachbuch "Beruf: Schriftsteller". – Weitere Informationen unter www.wolfgangbittner.de


Online-Flyer Nr. 314  vom 10.08.2011



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