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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Medien
Nachrichten und Neuigkeiten aus der Propaganda-Republik
Gewalt im Jobcenter
Von Markus Omar Braun

Am 19. Mai kam es in einer Filiale des Jobcenter Frankfurt am Main zu einer Szene physischer Gewalt, die für die betroffene Bedürftige, die dort ursprünglich in ihrer Sozialangelegenheit vorgesprochen hatte, mit dem Tod endete. Mitarbeiter der Behörde hatten nämlich, nachdem es mit der jungen Frau zu einem lautstarken Streit gekommen war, die Polizei zur Hilfe gerufen.


Rainer Wendt, Vorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft
Quelle: www.tagesschau.de
  
Als zwei Beamte eintrafen und der eine die Mitbürgerin um Ausweisung ihrer Identität bat, zog diese statt eines Ausweispapiers ein Messer, stach auf den Beamten ein und traf ihn in Bauch und Oberarm. Die zweite Polizeibeamtin, alarmiert durch das Schreien ihres verletzten Kollegen, schoss und traf die Kundin des Jobcenters in den Bauch. Beide Verletzten wurden ins Krankenhaus gebracht, wo die schwer getroffene Bürgerin starb. Der Zustand des ebenfalls schwerverletzten Polizeibeamten wird nach Pressemeldungen und wohl den Aussagen der verantwortlichen Ärzte als "stabil" beschrieben.
 
Traurige Spitze eines traurigen Eisberges
 
So weit, so hart die heutige soziale Realität. Wie man von der Website der Deutschen Polizeigewerkschaft DPolG (1) erfahren konnte, seien Angriffe auf Mitarbeiter der Jobcenter bundesweit häufiger zu verzeichnen. So wird an der angegebenen Stelle jedenfalls der Vize-Vorsitzende der Komba-Gewerkschaft, Fachgewerkschaft im Deutschen Beamtenbund (2), Ulrich Silberbach, wiedergegeben. Als Unterstützung dieser Einschätzung wird im selben Artikel eine Untersuchung zitiert, nach der von 500 befragten Mitarbeitern ein gutes Viertel stattgehabte An- und Übergriffe und ein Zehntel andauernde psychische Folgen beklagten. Allerdings – und so wird auch in der Frankfurter Rundschau zurecht auf die DPolG verwiesen (3) – ist der Darstellung des Falles durch Silberstein und Rainer Wendt, den Vorsitzenden der DPolG, hoch anzurechnen, dass nicht das Symptom, sondern die Krankheit von diesen zuerst angesprochen wird; in den Worten des letzteren: „Rund 180.000 Klagen gegen Entscheidungen zeigen doch deutlich, dass da dringender Handlungsbedarf besteht. Wenn die Menschen das Handeln der öffentlichen Verwaltung nicht verstehen können und es gleichzeitig um ihre Existenz geht, dann sind Kurzschlusshandlungen aus Wut und Verzweiflung eben alles andere als unvorhersehbar.“ (1) (3)
 
Manche lügen, auch wenn sie die Wahrheit zu sagen scheinen
 
Die Bild-Zeitung, wie immer besonders eifrig in ihrem Geschäft, macht ein "Blutbad" (5) zum Thema: „Es ging nur um 50 Euro!“ Allewetter, möchte man fast denken, vielleicht merkt ja auch diese Hetz-Expertin endlich, dass das Amt die im Hartz-IV-Niedriglohn-Komplex gefangen gehaltenen Mitbürger am langen Arm verhungern lässt, bis auch im reichen Deutschland 50 rechtzeitig ausgezahlte Euro eine Überlebensfrage sein können. Weit gefehlt! Das Revolver-Blatt, das Volksnähe vorgaukelt, dabei aber das Lied der Reichen und Mächtigen herauf und herunter singt, hat zwar so viel Verständnis für professionelle Geldsäcke, Verzeihung: Finanz- und sonstige -manager, dass sie deren tagtägliche Vergehen, an denen auch schon mal eine ganze Stadt eingeht (6), geflissentlich übersieht, praktisch nie davon berichtet und in der Mehrzahl auch gar nicht für Verbrechen hält. Wenn es um Millionen Euro geht, dürfen ein paar Opfer, auch ein gerüttelt Maß Lügen, Betrügen und Gesetzesbruch sein – aber für 50 Euro das Messer ziehen, da hört es für saubere Bild-Reporter und -Redakteure auf. Dabei verhält es sich gerade umgekehrt, worauf auch Rainer Wendt hinweist (1) (3).
 
Hauptsache, wir konstruieren Ausländerkriminalität
 
Genau diesen Hinweis, dass seiner Ansicht nach die Gesetzeslage die Bedürftigen in existenzbedrohliche Situationen bringe, in denen mancher Betroffene ausraste und keinen anderen Ausweg aus seiner Ohnmacht als Gewalt sehe, strich die Frankfurter Allgemeine vornehm (7) – indem sie in ihrem Artikel zwar erwähnt, dass Wendt „unterdessen am Donnerstag die Hartz-IV-Regelungen scharf kritisiert [hat]“, aber dem Leser nicht vollständig mitteilt, warum. Der im Netz verfügbare Artikel der FAZ (8) vom Vortag enthält sich zwar zwangsläufig noch dieser Sottise, bezeichnet die betroffene Mitbürgerin aber unzutreffend als "Nigerianerin" statt richtig als "Deutsch-Nigerianerin", wie sie im bereits zitierten Artikel (7) ebenso wie N24-online schon am 19.5. zu berichten wusste (9). Bei der Bild-Zeitung wird dieses Spiel umgekehrt getrieben: Wenn in deren Bericht vom 19. Mai (5) noch korrekt darauf hingewiesen wird, dass die Betroffene aus Nigeria stamme, aber mittlerweile eingebürgert sei, verzeichnet man in diesem Blatt am Folgetag (10) – bei der Ausrichtung dieser Zeitung wohl kaum unbewusst – einen Rückschritt auf die Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Vorschub leistende Erwähnung bloß ihrer Herkunft, nicht ihrer Nationalität. Über Nacht war die nunmehr Verstorbene in der Bild-Darstellung ihrer deutschen Staatsbürgerschaft beraubt und zur "Nigerianerin" erklärt worden.
 
BILD-Zeitung – ein Medium ohne Verantwortung
 
Kein Wunder, ist die "Bild" doch allgemein als ein Medium ohne Verantwortung bekannt (4). Da aber im aufgeklärten Deutschland viel zu wenig – gerade in sich für kritisch haltenden Medien wie bspw. dem "Spiegel" – über die Mechanismen manipulativer Berichterstattung gesprochen wird, hier die dringende Empfehlung an die Leser, die hervorragende Arbeit des IMV (Institut für Medienverantwortung) Erlangen und seiner Leiterin, Dr. Sabine Schiffer, genauer in Augenschein zu nehmen (11). Was Dr. Schiffer nämlich immer wieder aufzeigt: Die Wirkung eines Berichtes verdankt sich nicht nur den vermittelten Inhalten im juristischen Sinne, wichtig sind auch die beim Leser erzeugten Bilder und Eindrücke; Presseberichterstattung sollte also auch auf ihre versteckten Werbebotschaften (auch negativer Art) analysiert werden. Die korrekte Bezeichnung "Deutsch-Nigerianerin" wird im Bild-Artikel (10) offensichtlich vermieden, weil dadurch die Betroffene als Mitbürgerin, eben auch als Eingebürgerte, als deutsche Staatsbürgerin mit gleichen Rechten bezeichnet würde – was der Bild-Zeitung offensichtlich nicht gefällt, und was auch ihren Lesern nach dem Willen der Redaktion nicht als Realität präsentiert werden soll. Die FAZ hat hier vom 19. auf den 20. Mai gerade noch die Kurve bekommen, aber peinlich genug für ihre Journalisten bleibt es dennoch.
 
Auch die FAZ kann hetzen – auf feinere Art und hinten herum
 
Dafür demonstriert uns die Berichterstattung dieser bürgerlichen, aber auch nicht immer anständigen Zeitung ein anderes Mittel der Beeinflussung: Kontextualisierung, kombiniert mit Themawechsel und Fokussierung. Indem nämlich beide FAZ-Artikel im Wesentlichen an besagtem Vorfall den Aspekt der Sicherheitsproblematik thematisieren und Rainer Wendts Kommentare im Zitat in unsachlicher Weise in diese Richtung kürzen, lenken sie die Aufmerksamkeit von der vom Amt ausgehenden strukturellen Gewalt allein auf die ohnmächtige Gewalt der Betroffenen. Wann Polizei schießen darf, wofür die Jobcenter-Mitarbeiter Pfeifen mit sich tragen sollen, welche Bewachung das betreffende Haus genoss – all das erfahren wir von der FAZ in voller Länge und Breite. Vom SGB 2 – dem Hartz-IV-Machwerk der Juristen und Politiker – und dem darin angelegten Labyrinth für Notleidende, von der absichtlich schleppenden Bearbeitung vieler Fälle im Jobcenter, von Abschussquoten, Verzeihung: Sanktionsquoten, die Jobcenterabteilungen intern gesetzt werden, und ihrer vernichtenden Wirkung auf die Betroffenen erfährt der Leser der FAZ nicht nur in diesem Artikel nichts. Selbst die – gemessen an der offen rechtswidrigen Praxis der meisten Jobcenter – zahme Bemerkung von Herrn Wendt von der DPolG zur Existenznot der Jobcenter-Kunden als Hintergrund von Gewalttätigkeit kann dem FAZ-Leser und seinem Informationsbedürfnis offenbar nicht zugemutet werden. Objektivität à la altkonservativ oder neoliberal, eben.
 
Gewalt der Jobcenter gegenüber den Kunden: Legal, illegal, sch...
 
Mag er auch etwas zu zurückhaltend im Ausdruck sein, so sei dies Herrn Wendt an dieser Stelle gern verziehen. Zeigt er den Bedürftigen gegenüber doch etwas, was viele vom deutschen Sozialsystem Betroffene – auch dank der negativen Werbung durch Presseorgane wie Bild und FAZ – selten erleben, besonders selten in der Öffentlichkeit: Empathie, Mitgefühl, Anteilnahme, Wahrnehmung als Menschen, nicht "Fälle". In dieser Beziehung trägt leider die erwähnte N24-Meldung nicht zur Information der Leser bei (9); sie zitiert nämlich aus einer Erklärung des Sozialdezernats der Stadt Frankfurt die Einschätzung: „Andererseits wisse jeder mit Kundenkontakt, der auch für die Betroffenen unangenehme Entscheidungen mitteilen müsse, dass Situationen entgleisen könnten.“
 
Um zu wissen, wovon hier die Rede ist, muss man in den Internet-Auftritten der deutschen Presse schon wühlen, um dann folgende Nachricht der FR zu finden: „Hartz-IV-Empfänger haut Job-Center-Mann“. Im Text erfahren wir, dass es genauso umgekehrt „Jobcenter schlägt Hartz-IV-Empfänger, der schlägt zurück“ hätte lauten können, alldieweil der gute Mann wohl nicht ganz zu Unrecht darüber erbost war, dass man ihm ca. 250 Euro gestrichen hatte, weil er eine "Maßnahme" nicht besucht habe – was er laut eigener Angabe auch gar nicht konnte, da er nämlich zu gleicher (Voll-)Zeit schon an einer anderen, einem 1-Euro-Job, teilnahm. Kein statistisches Amt zählt in Deutschland die tagtäglichen Fehlentscheidungen der Jobcenter, welche viele Menschen damit in Not bringen und auf entsprechenden Hinweis auf ihre Fehler normalerweise erst einmal gar nicht reagieren, sondern hübsch weiter "sanktionieren". Das alleine hat noch nie eine Nachricht produziert, auch nicht für die FR, da muss der Betroffene schon mit dem Kopf unter dem Arm in der Redaktion erscheinen – wenn ihm das überhaupt etwas bringt.
 
Was ist ein Übergriff im Jobcenter im Vergleich zu dessen Gründung?
 
Das wäre die wirkliche zu berichtende Nachricht, nicht Neuigkeit, aus unserem schönen, wiedervereinten, zusammenwachsenden, reichen, verkommenen Land: Mitbürger werden planmäßig, sogar am miesen Hartz-IV-Recht gemessen auf unrechtmäßige Art und Weise, um ihre Existenz, ihre Wohnung, und in der Folge sogar um ihr Leben gebracht, und keinen interessiert es, außer die Betroffenen. Im Gegenteil: Bild, Sarrazin, FAZ und Wutbürger klatschen sogar zum bösen Schauspiel, während die Gutbürger weggucken und schweigen. Dreht dann einmal ein/e Hartzler/in durch und schlägt zu – wird bloß das Letztere zur Meldung. Die Dreigroschenoper von Brecht erfährt so in unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit alltägliche Neuaufführungen, morgen auch in Ihrem Jobcenter. (13) -
(PK)
 
 
(1) http://www.dpolg.de/front_content.php?idcatart=1095&lang=1&client=1
(2) http://de.wikipedia.org/wiki/Komba ; ferner: http://www.komba.de/
(3) http://www.fr-online.de/frankfurt/schiesserei-im-jobcenter/-/1472798/8466348/-/
(4) Vgl. die relativ neue Studie:
http://www.otto-brenner-shop.de/uploads/tx_mplightshop/2011_04_06_Bildstudie_Otto_Brenner_Stiftung.pdf
(5) http://www.bild.de/news/inland/schiesserei/toedlicher-streit-um-weniger-als-50-euro-17990700.bild.html
(6) wie Bhopal, vgl. z.B. http://de.wikipedia.org/wiki/Katastrophe_von_Bhopal
(7) http://www.faz.net/s/RubFAE83B7DDEFD4F2882ED5B3C15AC43E2/Doc~ED3E66A8014DB4C14AAE8C03C6861050C~ATpl~Ecommon~Scontent.html
(8) http://www.faz.net/s/Rub77CAECAE94D7431F9EACD163751D4CFD/Doc~EA7930E8B1ADD406B9AE1DD6F3EB2E7BE~ATpl~Ecommon~Scontent.html
(9) http://wap.n24.de/op/n24/de/ct/-X/home/6907284/Tödliche+Schüsse+Frankfurter+Jobcenter+Hartz-IV-Streit/
(10) http://www.bild.de/news/inland/schiesserei/jobcenter-toedliche-schuesse-polizist-lebensgefahr-17975450.bild.html
(11) Dr. Sabine Schiffer hat im Bezug auf Islamophobie einige der angesprochenen Mechanismen in ihren beiden Untersuchungen zur "Darstellung des Islams in der Presse" und "Antisemitismus und Islamophobie" (letztere zusammen mit Co-Autor Constantin Wagner verfasst) dargestellt. Berichterstattung über zugewanderte Mitbürger, Nachkommen von Zuwanderern, Fremde und rassistisch oder Feindbild-geprägte Darstellungen ganz allgemein funktionieren aber genauso, weshalb Dr. Schiffer ihr persönliches Augenmerk nicht auf die eine Opfergruppe von Rassismus – in ihrer Arbeit zuerst die Muslime – sondern rassistische Diskursformen insgesamt lenkt. Vgl. auch den Webauftritt: http://www.medienverantwortung.de/.
(12) http://www.fr-online.de/rhein-main/hartz-iv-empfaenger-haut-job-center-mann/-/1472796/3380858/-/index.html
(13) Interessante Informationen zum Thema Hartz IV kann z.B. auf http://www.harald-thome.de/  oder http://www.hartz4-plattform.de/  finden.
 
 
Der Autor, Jahrgang '67, seit 1999 Muslim (praktizierend), Diplom-Mathematiker, lebt zur Zeit in Frankfurt am Main.


Online-Flyer Nr. 303  vom 25.05.2011



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