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Medien
Neuigkeiten und Nachrichten aus der Propaganda-Republik
Die Stummelbeine des Thilo Sarrazin
Von Markus Omar Braun

Als Guttenberg des Lügens überführt war, musste er auf des Volkes Gunst nicht etwa verzichten, nein, seine Beliebtheit stieg gemäß einigen Umfragen sogar. Leider ging insofern auch Günter Wallraffs mutiger Versuch, die Bild-Zeitung im Selbstversuch als Lokalredakteur der dreisten Form der Lüge zu überführen, bei der Mehrheit unserer Mitbürger bis heute ins Leere: Lügen, das tun wir doch alle! so jedenfalls tönte es kürzlich in der Guttenberg-Affäre offensiv aus jeder Richtung. Wer hätte denn nie abgeschrieben? lautete diese Frage zum ans Licht gekommenen Plagiat des aktuellen Lieblings der Bild-Zeitung auch manchmal irreführend. Wenn nun seit Monaten zum scheinbar unplagiierten Werk des anderen Bild-Lieblings weit und breit der Kommentar, jetzt sage endlich einer die Wahrheit, dazu gesenft wird, so ist das in gleichem Zusammenhange zu sehen.
 
Elegantes Lügen und Betrügen
 

Sozialwissenschaftlerin
Dr. Naika Foroutan –
stellte Sarrazin auf den
Prüfstand
Münchhausens Erfolg liegt nicht in der Wahrhaftigkeit seiner Erzählungen, nicht einmal einer Art von Glaubhaftigkeit, seine fragwürdige Glaubwürdigkeit (in Neusprech) verdankte sich der Beliebtheit seiner Lügen, der Tatsache, dass sein Publikum sie glauben wollte, weil sie ihm schön erschienen. Wenn doch nicht wahr, so doch schön erfunden – das mag für Romane angehen, doch dort wird fiction immerhin als Fiktion bezeichnet. Wenn das Prinzip der schönen, deshalb glaubwürdigen Erfindung den Rahmen der Literatur verlässt, so wird aus Fiktion eben Lüge, so haben das geistig gesunde menschliche Gemeinschaften immer gehalten.
 
Meinung kommt von "mein"
 
Das Wort "Idiot" bedeutet im Griechischen ursprünglich "Privatmann" und gibt also Selbstbezüglichkeit als Grund mangelnder Intelligenz, auch der sozialen, an. Für die meisten Menschen unserer angeblich durch Rationalismus geprägten Epoche und Zivilisation trägt das gewichtige Wort "Wahrheit" nämlich zu häufig die Last eines besitzanzeigenden Fürworts: Wahrheit ist immer schon als "meine" Wahrheit, "unsere" Wahrheit innerlich vorformuliert. Abzulehnen ist dieses aus zwei Gründen: Erstens ginge es noch an, von "meiner Wahrheit" zu sprechen, wenn damit "meine Wahrnehmung" gemeint wäre; häufig wird jedoch letztere von "meinen Wünschen", "meinen Vorurteilen", also "meiner Selbstwahrnehmung" nur unzureichend geschieden. Zweitens liegt in der ehrlichen Verwendung des Besitzanzeigers eine Bescheidenheit, die nicht unterschlagen werden darf: Wenn ich "meine" Wahrheit kundgebe, muss ich akzeptieren, dass ich höchstens noch auf einem Teilgebiet "der" Wahrheit operiere, die eben auch divergierende Wahrnehmungen anderer umfasst.
 
Freie Fahrt für freie Bürger
 
Wenn jedoch "meine" oder "unsere" Wahrheit schlicht und einfach sich Interessen und Vorurteilen verdankt und zugleich "die" Wahrheit sein soll, dann möchte der Einzelne oder eine Gruppe dem Rest der betroffenen Menschheit die Daumenschrauben ansetzen, dann sollen Partikularinteresse nicht nur durchgesetzt werden, sondern abweichende Meinungen und konkurrierende Interessen zum Kuschen und Schweigen verdonnert werden. Es mutet deshalb auch eigenartig an, wenn schneidige Zeitgenossen wie Professor Norbert Bolz und andere "Medienexperten" Meinungsfreiheit für Sarrazin einklagen. Nicht zuletzt deshalb, weil Blockwart Thilo S. für Ausländer keine kennt, noch nicht einmal bei der Wahl des bevorzugten Fernsehkanals: „Wer lieber türkisches Fernsehen sieht als deutsches, weil er mit unserer Sprache auf Kriegsfuß steht, hat in Deutschland nichts zu suchen.“ (1) Man sollte meinen, dass dieser lupenreine Eintrittsausweis für die NPD das Ausschlussverfahren Sarrazins in der SPD doch hätte erleichtern müssen – aber wahrscheinlich hat hier der Entsozifizierungsprozess als Widerpart der an sich nötigen Entnazifizierung zugeschlagen.


Nicht alle SPDler sind glücklich über Sarrazins Heimkehr
Cartoon: Kostas Koufogiorgos
 
90 Jahre Kampfverdummung
 
Wenn die Wahrheit erfolgreich vergewaltigt wird, sind bald auch die Menschen, ihr Leben, ihre Würde an der Reihe. Deshalb darf man zu Sarrazin nicht schweigen. Die Maxime des PR-Experten Joseph Goebbels, man müsse die Lügen nur häufig genug wiederholen, bis die Masse sie glaube – unser Bundesbanker handelt gerne danach und hat dies in einer schwachen Minute der Süddeutschen sogar zu Protokoll gegeben (2): „Wenn man aber keine Zahl hat, erklärte Sarrazin [...], muss 'man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch'.“. Was interessiert ihn auch "sein Jeschwätz von morjen“! Mit entwaffnender Offenheit teilt uns Baron de Munchhouse das Erfolgsprinzip mit, nach welchem er nur die Statistiken glaubt, die beweisen, was die Bürger seiner Ansicht nach zu meinen haben.
 
Demagoge, Volksverächter
 
Darin steckt übrigens ein gerüttelt Maß an manipulativer Gesinnung und Verachtung seiner Adressaten: Sarrazin, der "seine" Wahrheit nicht durch Wissenschaft, sondern auf anderen, nur ihm erklärlichen Wege ermittelt hat, weiß sofort, dass das Volk ihm zu folgen habe, jedenfalls die "guten" Deutschen und biegt es dann einfach so, wie er es braucht – und das Volk zu schlucken habe. Abgewürzt wird dann noch kräftig mit "brauner Soze" (Oliver Welke von der "heute show"), damit es besser rutscht. In Wahrheit hält er also nicht nur die Muslime für Kretins, sondern sein eigenes Publikum für Deppen, welche nur richtig verführt werden wollen. Auch ein Grund, bewusst nicht zu diesen dazu gehören zu wollen. Fakten sind für Thilo S. kein Problem, da er die wirkliche Welt für sein böses Weltbild längst besetzt und instrumentalisiert hat, und an sich sollte man auch zuerst seinen Umgang mit Fakten kritisieren, statt über einzelne Zahlen zu streiten. Auf der anderen Seite entlarvt sich die Sarrazinsche Methode auch durch (fehlende) Faktizität, und es ist erfreulich, wenn fleißige Menschen sich daranmachen, in mühevoller Kleinarbeit den tausend Lügen des neuen Barons nachzugehen, um diese am von ihm behaupteten Maßstab der statistischen Wissenschaften zu messen.
 
Sarrazin: "Lügen mit Zahlen"?
 
Dr. Naika Foroutan von der HU Berlin hat dieses mit Mitgliedern ihrer Arbeitsgruppe unternommen, und sie stellen ihre Ergebnisse in einer Publikation im Internet zur Verfügung: "Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand" (3). Eine solche Arbeit verdient eine in jeder Beziehung kritische Prüfung. Die Experten von "Lügen mit Zahlen" (4), Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff haben nach ihrer Prüfung beschlossen, Foroutan et al. im wesentlichen Recht zu geben (5). Jürgen Kaube von der FAZ sieht das anders (6), und führt zwei Dinge ins Feld: Ein Argument, das seine Unfähigkeit in der Prozentrechnung zeigt – bedenklich für einen Diplom-Volkswirt (und was gerade Bosbach/Korff demontieren, s.d.) - und zweitens seine fragwürdige Autorität, gute von schlechter Soziologie zu unterscheiden (7). Foroutan et al. weisen übrigens schon in ihrer Einleitung der aktuellen Auflage auf Kritiker, unter anderem auf Kaube und seinen Artikel hin und gehen auch auf einige der dort vorgebrachten Schein-Argumente ein.
 
Kritik mit Samthandschuhen –
 
Mit anscheinend voller Absicht der Autoren der Studie bleibt diese auch an denjenigen Stellen in argumentativer Hinsicht zurückhaltend, wo offensichtlich mehr ginge und einfach gelänge. Am deutlichsten wird dies im Vorwort, in dem das bereits erwähnte Bekenntnis Sarrazins zum Fälschen ebenfalls zitiert, aber nicht kommentiert wird. Vermutlich haben Foroutan et al. auf die Fähigkeit Sarrazins vertraut, sich selber zu entlarven. Es ist zu befürchten, dass sie hier nicht in Sarrazins Talent zur Selbstwiderlegung, sondern der Kritikfähigkeit der deutschen Öffentlichkeit irren, was einige Antworten auf die Sarrazin-kritische Untersuchungen seiner Statistiken auch zeigen. Dieser Mangel entwaffnet bisweilen die ansonsten saubere Fleißarbeit der Berliner ForscherInnen, denn diese sind im Unterschied zum plakativen Sarrazin manchmal zu höflich, die Konsequenzen ihrer Zahlenpräsentation deutlich auszusprechen.
 
– aber hartem Ergebnis
 
Denn jedem, der die ca. 60 Seiten Text und Zahlenmaterial durcharbeitet, muss klarwerden, dass Sarrrazin das Münchhausen-Prinzip für sein Buch nicht nur formuliert, sondern es auch durchgängig angewendet hat. Gerd Bosbach erklärte einmal im Fernsehen, wie das geht, wenn Politiker wie Sarrazin Statistiken "auswerten" (8). Die Berliner Arbeitsgruppe versorgt uns nun mit Zahlen, die für wirkliche soziologische Forschung maßgeblich wären. Dabei erweist sich Sarrazin als Panikmacher, der wild die Positionen und Gesichtspunkte wechselt, auch die mathematischen, um auf unzulässige Weise aus Zustandsdaten Entwicklungen abzuleiten und umgekehrt, während relativ verlässliche Untersuchungen – Foroutan et al. zitieren z.B. den Mikrozensus 2009 – nicht nur viele Anteilszahlen aus Sarrazins Darstellung halbieren oder noch mehr relativieren, sondern vor allem das katastrophale Bild der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung, das er zeichnet, vollkommen in Frage stellen. Durchgehend werden dabei von den Berliner Forschern die Quellen mit Internet-Adresse und Download-Möglichkeit angegeben, was unter anderem auch das Literaturverzeichnis auf sehr informative 20 Seiten aufbläst.
 
Und Thilo ist noch dümmer...
 
Leider haben Foroutan et coll. das Beispiel, welches Bosbach/Korff herausstellen (5), verschenkt: Sarrazin errechnet aus 44 Deutschtürken, die Arbeitslosengeld beziehen, gegenüber 100 der gleichen Gruppe, die ordentlich arbeiten, einen Anteil der ALG-Bezieher von 40 Prozent. So weit, so falsch - da muss der kleine Thilo die Quinta noch einmal wiederholen, Abitur und Dipl.-Vw., der Doktor gar, sollten vorher unehrenhalber in den Orkus wandern. Denn die Grundgesamtheit wird hier nicht von den 100, sondern von beiden Gruppen, also 144 gebildet. 44 Arbeitslose nun von 144 entspricht schlicht und einfach 31 Prozent – nicht 40 und nicht 44. Mit der Zahl vierzig geht unser blitzgescheiter Ex-Oberbanker aber landauf, landab hausieren. Er hat uns damit einen tiefen Einblick in die Intelligenz unserer Eliten gegeben, deren Schlauheiten er gegen türkisches Karnickeln geschützt auch für die nächste Generation fortzusetzen wünscht. Wer Sonderbegabte wie Sarrazin zum Freunde oder als Führung hat, der braucht gewiss keine Feinde mehr.
 
Wenn die Rassisten nicht lesen – soll das ihr Dünnbier sein
 
Dem Leser sei die eigene Lektüre der Arbeit von Foroutan empfohlen, damit er auch aus erster Hand den Unterschied im Arbeitsstil zwischen gesellschaftswissenschaftlicher Forschung und der Publikation des "Hetzers" (auch Oliver Welke) studieren kann. Hierbei soll es nicht um ein schwaches Dementi à la „Die armen Türken sind gar nicht so dumm, wie Sarrazin sagt!“ gehen, sondern um den im Einzelfall konkret begründeten Nachweis, dass zur Dreistigkeit des rassistischen Hetzens eben nicht nur Ignoranz, sondern regelrechte Dummheit als notwendiger Hintergrund mit dazu gehört. Dies gehört wohl nicht zur Publikationsabsicht von Foroutan et al., ihr Datenmaterial belegt es aber. (PK)
 
 
(1) Der Bild-Zeitung hat er diesen tiefbraunen verbalen Durchfall bezeichnenderweise anvertraut: http://www.bild.de/politik/2010/politik/woher-nehmen-sie-so-viel-zorn-herr-sarrazin-14482796.bild.html
(2)
http://www.sueddeutsche.de/politik/sarrazin-neues-buch-zu-kurz-gedacht-zu-kurz-gesprungen-1.992993-2
(3) Download unter: http://www.heymat.hu-berlin.de/sarrazin2010
(4) http://www.luegen-mit-zahlen.de
(5) http://www.luegen-mit-zahlen.de/blog/sarrazins-unserioeser-umgang-mit-zahlen
(6) http://www.faz.net/s/Rub31A20177863E45B189A541403543256D/Doc~EF897E027BC584342B0613A4AF4D3D64C~ATpl~Ecommon~Scontent.html
(7) Kaube behauptet Soziologe zu sein, hat dieses Fach aber nicht studiert, darin keinen Diplom- oder Magistergrad erworben, noch promoviert, geschweige denn habilitiert, oder gelehrt oder nennenswert publiziert.
(8) http://www.youtube.com/watch?v=-P-3Ck2mjXY
 
 
Der Autor, Jahrgang '67, seit 1999 Muslim (praktizierend), Diplom-Mathematiker, lebt zur Zeit in Frankfurt am Main


Online-Flyer Nr. 302  vom 18.05.2011



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