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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Arbeit und Soziales
Eine Polemik gegen falsche Polemiken unter Marxisten:
Linke Heideggerei und Talmi-Widersprüche
Von Holdger Platta

Es gibt so Genossen - den Mund voller Theorie (aber meist mit sehr leeren Händen) -, die betreiben eigentlich Heideggerei von links her. Ich hoffe, man hat da noch Adornos deftige Auseinandersetzung mit "Sein und Zeit" in Erinnerung, im "Jargon der Eigentlichkeit". Was ich damit meine? Nun, daß alles, was für diese Genossen böse ist (und für mich natürlich auch), für diese Genossen gesetzmäßigerweise unvermeidlich in genau diesem Grade böse ist, wie es gerade böse ist: weil doch der böse Kapitalismus so böse ist. Recht haben die Genossen, was den Kapitalismus betrifft, aber...
 

Fundamentalontologe Martin Heidegger
Quelle:
http://financialphilosopher.typepad.com
Übersehen sie nicht permanent, diese Genossen, daß unter kapitalistischen Bedingungen, je nachdem, wie gerade in ihm die Machtverhältnisse sind und was gerade ökonomisch angesagt ist (Krise z.B. oder Konjunktur), durchaus verschiedene konkrete Lebensverhältnisse für die Menschen existieren können und erkämpft werden können? Konkret: daß ein SGB-II-Regelsatz unter kapitalistischen Bedingungen sowohl 364,- Euro betragen kann wie auch 600,- Euro - und letzteres dito unter kapitalistischen Bedingungen! Soll ich sagen: leider? Oder Gottseidank? Doch was kritisiere ich an dieser - sorry, wenn ich's nun mal ein bißchen "gebüldet" ausdrücke - Ontologi-sierung dessen, was gerade eben so ist, wie es ist?
 
Na, vielleicht sollte ich’s an dieser Stelle doch lieber mal auf Normaldeutsch versuchen! Also: „Ontologisierung“, das ist ungefähr so, als ob ich von einem Sachverhalt nicht nur meine, daß es ihn gibt, sondern auch meine, daß es ihn zwangsläufig gibt und daß es ihn zwangsläufig nur so geben kann, wie es ihn gibt. Philosophen sagen da gern: dieses betreffende „Sein“ sei untrennbar verknüpft mit einem bestimmten „Wesen“, und Heidegger zufolge geht es uns „geworfenen“ Menschen „wesenshaft“ „seinsmäßig“ so schlecht, nicht etwa deswegen, weil es Geschichte und Gesellschaft und Wirtschaftsmächtige gibt, die uns immer wieder aufs kräftigste in die Suppe spucken. Nein, deswegen nicht. Wir müssen in unserer „Geworfenheit“ diese menschengemachte Suppen halt auslöffeln, weil’s halt existiert, diese Suppen, deswegen müssen wir’s halt hinnehmen, all dieses Unglück, hinnehmen wie etwa die Wiese, auf die ich blicke, wenn ich zum Fenster hinaussehe, und hinnehmen auch, daß diese Wiese halt wesenhaft bzw. wiesenhaft grün ist und das Leben halt wesenhaft/wiesenhaft seinsmäßig/geworfenerweise schlecht.
 
Tja, und machen kann man halt gar nix dagegen, gegen diese ‚Schicksalsgegebenheiten’ - höchstens daran herumphilosophieren, am besten mit Professorengehalt, wie’s eben der Heideggern gemacht hat. „Kapitalismus“ gibt es in solchem durchgeheideggerten Denken – weit, weit oberhalb angesiedelt von jeder Wirklichkeit – nicht, nichtmal als Begriff, geschweige denn als Kategorie oder Realität. Und kommt noch, wie bei Maestro Heideggern, dieser quasireligiöse Orgelton hinzu, dieser verquast-theologisierende Echohall-Sound (eben das hat Adorno als „Jargon der Eigentlichkeit“ verspottet), dann liegt das Denken der Heidegger-Jünger natürlich sehr schnell auf den Knien und betet nur noch – mit gefaltetem Nacken in Richtung Schwarzwald, dorthin, wo dieser Fundamentalontologe Heidegger seinen Lebensabend verbrachte, gern in der Lederjoppe übrigens, gleichsam so, als ob der Philosoph eben ganz volksnah aus einer Kuckucksuhr gesprungen sei. Doch was hat dieses mit den von mir kritisierten Genossen zu tun?
 
Nun, selbstverständlich müssen wir bei diesen Genossen schon den Begriff „Geworfenheit“ austauschen gegen den Begriff „Kapitalismus“. Und mit Sprachorgeleien haben diese Genossen schon gar nichts am Hut! Gott und Marx und Engels sei Dank! Aber, dieses ist fast auch schon alles. Denn ansonsten folgen diese Genossen dieser existentialisierenden Heideggerei durchaus ein ganzes Stück weit.. Konkret: diese Genossen theoretisieren völlig ahistorisch in die jeweilige Gegenwart hinein: nur so, genau so, wie es ist, kann es kapitalistischerweise sein, kein bißchen anders. Und dieses ist wirklich ontologisierender Unfug, wie ihn Adorno an dem "Geworfenheitsgequatsche" eines Heidegger so vergnüglich in Grund und Boden analysiert hat. Anders: von diesen Genossen wird das durchaus zeit-, nicht nur kapitalismusbedingte Elend – und zwar in all seinen Einzelerscheinungen! –  mit dem Glorienschein einer Unveränderbarkeits-Aura versehen, solange es einen bösen Kapitalismus gibt. Das ist zwar durchaus sehr kritisch gedacht, das ist zwar irgendwie auch mächtig links, es wirkt aber zugleich wie ein Betäubungsmittel für jeden kritischen Impuls heute und hier, und es schwächt noch jeden linken Impuls in der Praxis. Schärfster Antikapitalismus ist das, selbstverständlich, aber schärfster Antikapitalismus mit dem fatalen Charakter eines Vertröstungspessimismus’ auf den Sankt-Nimmerleinstag. Man kann ja eh nix tun als warten auf den ganz großen Umbruch! Und wie kommen wir zu dem?
 
Nun, interessant ist: auch in dieser Hinsicht stürzen uns dieselben Genossen gern in Verzweiflung - in Tatenlosigkeit aus einem zweiten theoretischen Grund (wenn es denn tatsächlich ein theoretischer ist und nicht nur ein sehr konkreter Grund sehr psychologischer Natur...):
 
Dieselben Genossen warten nämlich permanent mit einer Denke auf, die permanent nur ein "Entweder-Oder" sieht, wo in Wirklichkeit vielleicht ein "Sowohl-Als auch" eher angesagt wäre, mit einer Denke, die lediglich wechselseitig sich ausschließende Alternativen erkennen kann statt einander ergänzende Alternativen - und entsprechend heftig wird dann auch miteinander und gegeneinander gekämpft. Dabei existieren diese angeblich einander ausschließenden Strategien bereits von der Logik her nicht als Gegensatz oder Widerspruch, und sie existieren schon gar nicht so in der Realität. Wieder konkret:
 
Da wird zum Beispiel dem Kampf gegen Hartz-IV an der juristischen Front der Kampf angesagt. Aber wieso eigentlich? Wieso nicht Kampf an der juristischen Front gegen Hartz-IV und gleichzeitig Kampf gegen Hartz-IV an zig anderen Fronten? Welch Nichtbegreifen kapitalistischer Realität verbirgt sich hinter diesem polarisierenden Entweder-Oder-Gedenke! Ist das Folgende so schwer zu verstehen? Die Front Kapitalismus besteht nicht nur aus einem Frontabschnitt, sondern aus sehr vielen Abschnitten, und überall sollten wir die Feldherrenhügel den Armleuchtern von rechts streitig machen. Folgen wir diesem pseudolinken "Entweder-Oder"-Heruntermachen der jeweils anderen durch die jeweils eigene Mißverständnisgruppe (statt mal das "Sowohl-Als auch" zu prüfen), bleibt am Ende dieser famosen Debatten nämlich gar nichts mehr übrig:
 
Bücher schreiben oder in klugen wissenschaftlichen Zeitschriften kluge Aufsätze veröffentlichen: Scheiße!
 
In die Medien gehen: Scheiße!
 
 In die Parlamente gehen: Scheiße!
 
Zu Latschdemos gehen: Scheiße!
 
Stände auf dem Marktplatz errichten: Scheiße!
 
Vorträge halten oder Rede: Scheiße!
 
Flugblättter schreiben: Scheiße!
 
Vors Gericht ziehen: Scheiße!
 
 Ja, was denn dann bitte? Den Revolver ziehen? Aha, und wo sind unsere Kampfeinheiten? Wann und wie haben wir sie überzeugt und rekrutiert? Wie stark sind unsere Truppen? Wird dieser Staat dann stillhalten? Verfügt plötzlich über keine Polizei mehr? Über keine Bundeswehr mehr? Über keine Mainstream-Medien mehr? Über keine Justiz mehr? Undundund?
 
Meine Güte, da war schon Rosa Luxemburg in ihrer Rede am 31. Dezember 1918 weiter, als der Spartakus bzw. die KPD gegründet wurde, mit ihrem Plädoyer, es brauche den politischen Kampf und den ökonomischen Kampf, es gehe ums Lernen der Massen wie um den Straßenkampf, ja, man müsse sogar, trotz aller Zweifel, mitmachen beim Kampf um die Plätze in der Nationalversammlung, um die Vormacht in jenem Gremium mithin, das den neuen Staat, die sogenannte "Weimarer Republik", aus der Taufe heben sollte, ganz brav parlamentarisch, ganz brav nach den Wünschen der SPD. Jawohl, das aus dem Mund einer Rosa Luxemburg, die den Parlamentarismusweg der Sozialdemokratie als "Ersatz-Marxismus" bezeichnet hatte, in ebenderselben Rede vom Silvestertag 1918 in Berlin; das aus dem Mund einer Rosa Luxemburg, die wie keine andere den Verrat der SPD seit dem 4. August unaufhörlich mit den heftigsten Worten gegeißelt hatte, die Zustimmung der wahlerfolgsbesoffenen SPD zu den Kriegskrediten an diesem Augusttag und zum "Burgfrieden" mit dem Klassenfeind, solange der nationale Krieg im Gange war (und bis weit darüberhinaus!)
 
Doch abschließend nochmal zum Thema Kampf gegen Hartz IV: jawohl, ich bin für einen neuerlichen Gang nach Karlsruhe wegen der von mir an dieser Stelle analysierten Kleinrechnerei als Großbetrug, wegen dieses neuerlichen Herunterrechnens des Existenzminimums für ALG-II-BezieherInnen bis tief in den Abgrund hinein. Aber heißt das, ich sähe darin den einzigen Weg? Und heißt das: ich rechnete mir bei den Bundesverfassungsrichtern große Chancen aus? Keineswegs! Und wieso bin ich dann trotzdem dafür?
 
Im wesentlichen aus zwei Gründen: im Gegensatz zu gewissen Obergenossen halte ich mich nicht für einen Hellseher - trotz meines Mangels an Zuversicht kann diese Sache ja dennoch positiv ausgehen. Heißt also konkret: ích ziehe Realitätsprüfung stets der bloßen Spekulation vor! Erstens. Und zweitens: ein zweites Scheitern dort wäre eine weitere Lernchance für uns. So mancher, der diese Sache jetzt noch anders einschätzen mag, würde dann erkennen: aha, dort, in Karlsruhe, bei diesen angeblichen und vorgeblichen Wahrern unserer Verfassung, ist auch nix mehr zu holen.
 
Selbstverständlich: traurig wäre das. Aber: sollte die marxistische Bewegung zur Vermeidung von Mißempfindungen aufhören, eine lernende Bewegung zu sein? Und hat Lernen nicht immer auch mit Realitätsprüfung zu tun, und Lernen ist etwas ganz anderes als nur ein Mund voller Theorie? (By the way: gern wird übersehen, daß Marxismus mindestens ebensosehr empirisch wie theoretisch orientiert ist!)
 
Natürlich:
 
•          Manchen von uns wird Mißerfolg in Karlsruhe vielleicht in weitere Resignation hineintreiben (aber wissen wir, wieviele und wieviele nicht? Wieder ein Punkt, wo ich mir keine Hellseherei anmaße!).
 
•          Andere wird ein solches Ergebnis von dann erwiesenen Illusionen befreien. Wieviele? Wieviele nicht? Dito Ungewißheit bei mir!
 
•          Und noch einmal andere wird ein Urteilsspruch zuungunsten der Zwangsarbeitslosen erst recht empören! Nur eine klitzekleine Minderheit?
 
Nun, dazu sei doch abschließend das Folgende angemerkt:
 
Interessanterweise mache ich die Erfahrung, daß gerade das bei vielen eingesetzt hat, Wachstum der Empörung, seit einiger Zeit schon, und zwar gerade bei Menschen, die von ALG-II nicht unmittelbar betroffen sind. Natürlich, das beweist noch gar nichts, aufs Ganze hin gesehen, ist ergo nicht mehr als sogenannte "Vulgärempirie". Aber:
 
Sollte das als Indiz nicht vielleicht doch ernstgenommen werden und gerade für Sozialwissenschaftler Anlaß zu empirischer Forschung sein? Und vorher noch: Anlaß sein für uns, über all dieses mal nachzudenken? Ohne gleich in linke Heideggerei zu verfallen oder Talmi-Widersprüche in die Welt zu quatschen - auf daß wir Linken alle so richtig aufeinander losgehen können, ein jeder mit seiner höchsteigenen Deutungsgewißheit im Schädel?
 
Wir sollten uns lieber über diese Fragen den Kopf zerbrechen als uns deswegen gegenseitig die Köpfe einschlagen! (PK)


Online-Flyer Nr. 273  vom 27.10.2010



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