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Inland
Einige hundert Meter entfernt von einem öffentlicher Kinderspielplatz
Ein Atomreaktor bedroht Berlin
Von Dietrich Antelmann

An der Grenze des Berliner Bezirks Steglitz/Zehlendorf nach Potsdam steht der Atomforschungsreaktor des Helmholtz-Zentrums Berlin für Materialien und Energie. Unmittelbar neben einem Wohngebiet. Einige hundert Meter entfernt befindet sich ein öffentlicher Kinderspielplatz. In einer „Informationsbroschüre“ für die Anwohner sagt der Betreiber, der Reaktor sei durch eine zwei Meter dicke Betonwand sicher umschlossen. Er verschweigt, daß der nach oben offene Schwimmbadreaktor gegen unverhoffte innere und äußere Schadensereignisse und erst recht gegen Gefährdung durch terroristische Anschläge ungeschützt in einer einfachen 40 Jahre alten Werkhalle untergebracht ist; ihr Dach ist lediglich für Schneelasten ausgelegt.


Der Berliner Reaktor – fotografiert aus der Wohnung eines Freundes in der Nachbarschaft
Alle Fotos: Dietrich Antelmann  
 
Eine Reaktorkatastrophe hätte bei ungünstiger Wetterlage zur Folge, daß eine 20 Kilometer breite Zone evakuiert werden müßte. Das ist das Ergebnis einer im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz durchgeführten Studie des Öko-Instituts Darmstadt von Mai 1990. Die Bundesrepublik würde also mit einem Schlag ihr Regierungszentrum verlieren. Große Teile Berlins und Potsdams könnten für Jahrzehnte unbewohnbar bleiben. Der Reaktor entspricht nicht den geltenden Sicherheitsvorschriften, aber die Betriebsgenehmigung ist unbefristet.

Nicht nur das Fehlen eines Schutzmantels (Containment) beunruhigt. Eine weitere Schwachstelle ist die Kalte Neutronenquelle (KNQ). Sie enthält auf minus 250 Grad gekühlten Wasserstoff und dient der Verlangsamung der Reaktorneutronen zum Zweck der Untersuchung und Entwicklung neuer Materialien. Wasserstoff bildet mit Sauerstoff leicht das hochexplosive Knallgas, das insofern gefährlich werden kann, weil sich die KNQ in
unmittelbarer Nähe zum Reaktorkern befindet und es keine Materialien gibt, die auf Dauer der Neutronenstrahlung standhalten.
 
Die Firma Siemens, deren Tochterunternehmen Interatom den Berliner Forschungsreaktor errichtet hat, behauptete wider besseres Wissen bis 1995, zutage getretene Materialfehler seien nicht strahlungsbedingt. Doch schon 1967 hatte Siemens in einem internen Grundsatzpapier beschrieben, wie schnell und unversehens Stähle durch Neutronenbestrahlung verspröden und wie dann Risse und Brüche entstehen können. Und das ist nur einer der Gründe zur Sorge um die gemäß §7 des Atomgesetzes erforderliche Zuverlässigkeit dieser Atomanlage. Nicht zuletzt wegen des hohen Risikopotentials der KNQ ist der vergleichbare Forschungsreaktor in Garching bei München mit einem Containment umbaut worden.
 
Hinter der Bezeichnung „Forschungsreaktor“ verbirgt sich mit zehn Megawatt zwar nur ein Hundertstel der Leistung des Unfallreaktors von Tschernobyl; aber man sollte die Strahlungsgefahren nicht unterschätzen. Das besonders gefährliche Tritium wird in weit größeren Mengen freigesetzt als in den meisten deutschen Atomkraftwerken. Selbst das wegen hoher Leukämiehäufigkeit in die Schlagzeilen gekommene Atomkraftwerk Krümmel leitet nach den Jahresberichten des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit mit der Abluft weniger Tritium ab als der Berliner Forschungsreaktor. Laut der im Dezember 2007 veröffentlichten, vom Bundesamt für Strahlenschutz in Auftrag gegebenen Kinderkrebsstudie (KiKK) erhöht sich die Krebsrate bei Kindern unter fünf Jahren, die im Umkreis von fünf Kilometern eines Atomkraftwerks leben, um 60 Prozent, das Leukämierisiko sogar um 120 Prozent.
 

Der Kinderspielplatz in einem einige
hundert Meter entferten Wohngebiet
Nach Ansicht der Internationalen Ärzte gegen Atomkrieg (IPPNW) ist diese Studie die weltweit aufwendigste und exakteste zu diesem Thema. Da die Emissionen der untersuchten Kernanlagen deutlich unter den bisher geltenden Grenzwerten lagen, ist laut Strahlentelex vom 2.10.2008 jetzt erwiesen, daß die für zulässig erachtete Strahlendosis „generell falsch errechnet“ ist. Zu diesem Ergebnis kam bereits die aus Anlaß der Reaktorerweiterung im Mai 1997 erstellte Expertise der Bremer Wissenschaftler Heike Schröder und Heiko Ziggel. Sie belegt, daß überall auf der Welt, wo Untersuchungen in der Umgebung von Atomanlagen durchgeführt worden sind, vermehrt Leukämieerkrankungen auftreten, vor allem bei Kindern.
Professionelle Öffentlichkeitsarbeit sorgt dafür, daß die auch im Normalbetrieb abgegebene Radioaktivität der Bevölkerung unbekannt bleibt. Das Helmholtz-Zentrum verbreitet die Mär, beim Betrieb entstehende radioaktive Stoffe blieben in jeder Betriebsphase durch eine Vielzahl von Vorsorgemaßnahmen sicher eingeschlossen. Selbst der Informationskreis Kernenergie, eine PR-Agentur der Stromkonzerne, gab in einer Werbebroschüre zu, man könne nicht gewährleisten, daß alle Hüllen der Brennelemente hundertprozentig dicht sind („… können vereinzelte Undichtigkeiten nicht ausgeschlossen werden“). Beim Betrieb des Reaktors entstehen in den Brennelementen jährlich 200 Gramm des hochgiftigen Plutoniums. Einmal eingeatmet, reicht die Menge von einem Millionstel Gramm aus, tödlichen Lungenkrebs zu erzeugen. Warum sind eigentlich Forschungsreaktoren bei der Kinderkrebsstudie ausgeklammert worden?


Atommüll - lagert seit Jahren wieder ungeschützt unter freiem Himmel

Ein weiteres Problem ist die ungelöste Entsorgungsfrage. Nach § 9a Atomgesetz sind radioaktive Abfälle schadlos zu verwerten oder geordnet zu beseitigen. Die Nichterfüllung dieser Vorschrift (weltweit gibt es nach wie vor kein geeignetes Endlager) führte Ende 1990 zur Versagung der Betriebsgenehmigung durch die von der Alternativen Liste gestellte
Senatorin Michaele Schreyer. Deren Amtsnachfolger Norbert Meisner (SPD) hob die Entscheidung mit der Begründung auf, ein Mitarbeiter der Genehmigungsbehörde sei befangen gewesen.
 
Mein Foto aus dem Jahr 2007 zeigt radioaktiven Müll, der seit Jahren wieder ungeschützt unter freiem Himmel lagert. Nachdem 1984 bekannt geworden war, dass eins der unter freiem Himmel lagernden Fässer infolge von Lochfraß- Korrosion das Erdreich mit radioaktiver Flüssigkeit verunreinigt hatte, wurde nach massiven Bürgerprotesten im Frühjahr 1988 ein wettergeschütztes Lager für etwa 35 Millionen DM errichtet. Inzwischen platzt es aus allen Nähten. Wieder werden Fässer und Container mit radioaktivem Inhalt unter freiem Himmel gestapelt. Wie üblich verschließt die Aufsichtsbehörde, die Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz auch vor diesem Missstand die Augen. Auf meine ganz konkrete Frage: „Wie viele Kubikmeter radioaktiven Mülls lagern wieder außerhalb der dafür vorgesehenen Hallen unter freiem Himmel und wann ist mit einer Abhilfe zu rechnen?“ ließ ein gewisser Herr Dr. Leps am 27. 9. 2009 unter dem Gesch.-Zeichen IIA1-8993.2 antworten: „Abfälle des Forschungsreaktors lagern nicht unter freiem Himmel.“
 
Die Frage stellt sich, warum die Regierenden an einer nicht beherrschbaren Technik der Energieerzeugung festhalten – gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, gegen den erklärten Willen der Mehrheit der Bevölkerung, gegen wirtschaftliche Vernunft (denn die Atomindustrie mit wenigen Arbeitsplätzen ist mit einer Förderung von bisher 164 Milliarden Euro um ein Vielfaches höher subventioniert worden als alternative Energien mit vielen Arbeitsplätzen). Berücksichtigt man, daß der Schaden eines atomaren Unfalls für die Betreiber willkürlich auf eine „versicherbare Geldmenge“ begrenzt und der immense Rest des Risikos auf die Steuerzahler abgewälzt wird, liegt nahe, daß hierbei auch ein anderes Interesse verfolgt wird, ein militärisches. Mit dem zielgerichteten Aufbau von Forschungs-, Atomkraft- und Urananreicherungsanlagen ist es der BRD möglich, innerhalb weniger Monate atomar aufzurüsten." (PK)
 
Dieser Beitrag erschien teilweise zuerst in Heft Nr. 19 der Zweiwochenzeitschrift für Politik / Kultur / Wissenschaft "Ossietzky"


Online-Flyer Nr. 270  vom 06.10.2010



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