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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Lokales
Informations- und Protestaktion in der ARGE Köln-Kalk und Mülheim
Nothilfe für Zuckerkranke verweigert
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

Etwa ein Dutzend AktivistInnen örtlicher Erwerbslosen-Initativen enterten am 16. März die ARGEn für Kalk und Mülheim und verteilten ein Flugblatt zum "Fall K...." Dabei handelt es sich um den "Fall" der Standortleiterin ARGE-Mitte, die im Juni 2009 einer schwer zuckerkranken Hartz-4-Empfängerin nach Verlust ihrer Barmittel die dringend erforderliche Nothilfe verweigert hatte - konkret Bargeld, um das lebensnotwendige Insulin kaufen zu können. Infolge eines ARGE-Versehens war die Frau überdies nicht krankenversichert. Da man sie wiederholt auf irgendeinen späteren Termin vertrösten, sie schließlich mit einem zum Zweck des Medikamentenkaufs völlig ungeeigneten Lebensmittelgutschein abspeisen wollte, fanden sich 15 Beistände der Erwerbsloseninitiativen im Büro der Standort-Leiterin ein.


Kölner ARGE-Chef Klaus Müller-
Starmann | Fotos: NRhZ-Archiv
Sie verlangten, daß die ARGE ihrer gesetzlichen - und verfassungsmäßigen - Pflicht zur Nothilfe in einer gesundheits-und potentiell lebensbedrohlichen  Situation nachkommen solle. "Kraft ihres Amtes entschied sich die Standortleiterin dennoch, die Not der Hilfeempfängerin schlicht zu ignorieren", so das Flugblatt und holte stattdessen die Polizei. Diese wiederum befand das sogenannte Hausrecht der ARGE für schwererwiegend als die akute Hilfebedürftigkeit der Diabetikerin. Indem sie nicht etwa die ARGE zur Hilfeleistung anhielt, sondern die Nothelfer aus dem Gebäude schmiß, unterließ die Polizei selbst die ihr obliegende Hilfeleistung in einem Notfall.- Schließlich bekam die Betroffene durch in diesem Fall einmal nützliche Intervention von "oben" doch noch Bargeld für ihr Insulin. Die Nothelfer der Erwerbslosen-Initiativen wurden gleichwohl mit einem Strafverfahren überzogen, in dem die Standortleiterin K. nicht etwa als Angeklagte wegen unterlassener Hilfeleistung, sondern als "Zeugin der Anklage" fungierte (s. NRhZ 226 vom 3. 12. 2009: "Köln kann auch anders" http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14559).


Angeklagte Nothelferin (Mitte) vor der Gerichtsverhandlung

Diesen für das menschenrechtswidrige Potential der real existierenden Hartz-4-Zustände  typischen Fall schilderte das Flugblatt unter voller Namensangabe der ARGE-Standortleiterin K.  Dieser Flyer mit dem "Outing" der hilfeverweigernden ARGE-Obristin wurde beim Go-in der Erwerbslosen-AktivistInnen an die KollegInnen der Frau K. in den ARGE-Außenstellen für Kalk und Mülheim sowie an die wartenden ARGE-"Kundschaft" verteilt. Mit überwiegend positivem Interesse mindestens unter den Letztgenannten.

Angst vor kritischer Information

Einer jedoch - kein ARGE-Angestellter, sondern ein "Kunde" im Wartebereich - zerknüllte demonstrativ das Flugblatt und las seine Bildzeitung weiter. Er ist offenbar ein Freund gediegener Information. Im Territorium der Arbeitsagentur im Gebäude der U25-Mülheim wurde von den Flugblattverteilern der "Ausweis" verlangt. Eine Beraterin der Arbeitsagentur unterbrach panisch ein Vermittlungsgespräch und kündigte mit aufgeregter Stimme an: "Ich muß jetzt meinen Vorgesetzten anrufen." Eine solche "Anrufung" gleicht in Deutschland bekanntlich der Anrufung des HErrn: Was wären deutsche Nachsitzende ohne Vorgesetzte? Die Hysterie der Agentur-Beamtin steigerte sich, als sie im Tonfall von "Herr Direktor, ich weiß was!", dem "Vorgesetzten" die ungeheuerliche Tatsache mitteilte: "Hier laufen Leute durch, zehn Leute! Mit Flugblättern!" Wieviele dienstbare Geister ansonsten noch den höheren Etagen in den zwei Stunden dieser Aktion brühheiß aufgetischt haben, was "hier verteilt worden ist",  kann man sich nur vorstellen, mehr noch: voll Heiterkeit ausmalen. Nicht auszuschließen ist, daß der Inhalt des Flugblattes noch vor Abschluß der "Invasion" in der Leitungsetage der ARGE Köln gelandet ist. Freilich nur dann, wenn die MitarbeiterInnen das Flugblatt auch gelesen haben. Einige lasen die Information durchaus recht aufmerksam. Und es ist zu vermuten, daß ein gewisser Prozentsatz von ihnen mit der geschilderten Verfahrensweise der Bereichsleiterin K., eine Zuckerkranke in ihrem Elend ohne Nothilfe  zu lassen, auch nicht einverstanden sind. Das werden sie aber kaum öffentlich und wahrscheinlich auch ebenso wenig intern kommunizieren, da die ARGE eine tendenziell autoritäre Institution ist.

Opus Dei, Opus ARGE

Nicht nur in dieser Hinsicht kann sie sich freilich auf höchste Instanzen berufen. Auch die Kirche ist, wie etwa der gegenwärtige Papst immer wieder und zu Recht betont hat, eben keine demokratische, sondern eine hierarchische Einrichtung. Solche Organisationen schließen sich aber auch weitmöglichst gegen außen ab. Diesem wiederum aktuellen kirchlichen Vorbild folgend, schlossen sich mithin in  einer ARGE-Etage alle anwesenden Mitglieder des ARGE-Ordens in ihren Büros ein. Auf daß der Geist der Ketzerei in Form der unerwünschten kritischen Information nicht ins Allerheiligste gelange. Im Ausländeramt im Mülheimer Bezirksrathaus stellten die ansonsten freundlich und zurückhaltend auftretenden security-Mitarbeiter mit Migrationshintergrund unter Beweis, daß bei ihnen auch mental die Integration in die deutsche Dienst-Gesellschaft rundherum gelungen ist. Sie sammelten alle Flugblätter von den Stühlen und Tischen im Wartebereich der Ausländerbehörde ein, damit kein argloser Migrant durch Lektüre dieser Agitationsschrift verunsichert werde und an der besten aller Welten, nämlich der deutschen Behördenwelt, zu zweifeln beginne.

Der Fall K. ist ein Fall Hartz

Die Zweifel am Hartz-4-System sind allerdings längst nicht mehr zu unterdrücken, schon garnicht durch Vorenthalten von Information. Sie sind ja,  wenn auch auf anderer Ebene und längst nicht in wünschenswerter Konsequenz,  sogar bis zum Bundesverfassungsgericht durchgedrungen.  Sie basieren denn auch keinesfalls nur auf dem einen oder anderen sogenannten bedauerlichen Einzelfall wie dem "Fall K..." - der von den Verantwortlichen überdies bis heute nicht bedauert wird. Solche "Fälle" stellen ohnehin nur Symptome eines Systems dar, in dem Willkür und Entsolidarisierung zuhause sind. Diesen Verhältnissen fallen übrigens letztlich auch ARGE-MitarbeiterInnen durch prekäre, ungesicherte Anstellungsverträge und schlechte Arbeitsbedingungen zum Opfer. (PK)

Online-Flyer Nr. 242  vom 24.03.2010



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