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Aktueller Online-Flyer vom 23. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Trotz der Wunden, die Erwerbslosigkeit immer mehr aufreißt:
Die Revolution fiel wieder aus
Von Hans-Dieter Hey

Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte sich mit revolutionären Fragestellungen bisher kaum beschäftigt, es sei denn, sie waren historisch. Vom Montag bis Mittwoch der vergangenen Woche trafen sich im verträumten bayerischen Würzburg Erwerbslose, um Strategien gegen die ihnen zugefügte „Wunde der Erwerbslosigkeit“ auszuloten. Vier Jahre nach Beginn der Hartz-IV-Qualen, wachsendem Zorn der Betroffenen und obwohl nach den Wahlen nun Hartz-V droht, fiel das Ausrufen der Revolution erneut aus.


War auch mal arbeitslos: Prof. Dr. Uwe Blien
Beginnen wir mit der langweiligen Geschichte. Als Referent geladen war Prof. Dr. Uwe Blien vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, der sich gelegentlich mutig unter Erwerbslose traut. Der Leiter „Regionale Arbeitsmärkte“ des stromlinienförmig an staatliche Vorschriften angepassten Instituts begann mit einem „Früher war ich auch mal einer von euch“. Das war allerdings zu Zeiten der Arbeitslosenhilfe, als es noch den Sozialstaat gab. Er erklärte die Zunahme der Arbeitslosigkeit durch die Wirtschaftskrisen der letzten 20 Jahre aufgrund diverser „Blasen“, die irgendwie vom US-amerikanischen Himmel auf uns hernieder kamen. Die gottgewollte kapitalistische Ordnung kann man daher nur hinnehmen und ebenso ihre Folgen, die Arbeitslosigkeit. Leider blieb Blien die Beantwortung der Frage schuldig, warum die Menschen im Lande dermaßen mit den „offiziellen“ Arbeitslosenzahlen belogen werden und wie sich diese tatsächlich zusammensetzen, denn: „Das ist schon eine komplizierte Sache“.

Bertelsmannstiftung: keine Teilhabe Arbeitsloser am Leben

Klar positioniert dagegen der Vortrag von Prof. Dr. jur. Helga Spindler von der Universität Duisburg–Essen , die die Entwicklung als gesellschaftlichen Skandal ausmachte. Früher habe die Sozialhilfe „noch einen echten Teilhabeanspruch bis hin zu Hilfen zur Arbeit“ geboten. Aber das Ziel, „ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, sei inzwischen abgeschafft worden.“ Während früher „eine ordentliche Verwaltung mit dem Bemühen eines anständigen Umgangs mit den Menschen im Vordergrund stand“, habe sich dies inzwischen deutlich geändert.


Wusste früh von „widerlicher Menschenbetreuung": Prof. Dr. Schindler auf
einem Vortrag gegen prekäre Arbeit 2007
Fotos: H.-D. Hey - gesichter zei(ch/g)en


Die Teilnehmer des Seminars waren sich darüber einig, dass ein eiskalter und zynischer Umgang in den Arbeitsagenturen ihnen gegenüber herrsche. Ein Beispiel für diese - so Spindler - „widerliche Art der Menschenbetreuung“: Ein 50jähriger erwerbsloser Kaufmann hatte das zweite Bewerbungstraining hinter sich. Vor dem Dritten - mit Sanktionsandrohung - wandte der sich an den WDR und protestierte. Die Reaktion des ARGE-Leiters: „Was haben sie denn! Dieser Mann ist doch immer noch arbeitslos. Das zeigt doch, dass es mit den bisherigen Bewerbungstrainings nicht funktioniert hat.“

Prof. Dr. Spindler hat insbesondere die Auswüchse des neoliberalen Mantras „Fordern und Fördern“ des „aktivierenden Sozialstaats“ schon früh kritisiert, weil das inzwischen schnell zu einem „miesen Rausschubsen“ geführt hat. „Viele in der Verwaltung, die sich als Kontrolleure aufspielen, werden in der Öffentlichkeit sogar immer noch als Helfer gehandelt.“ Im Grunde sei nämlich als großer Schwindel nicht die Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe gemeint gewesen, sondern die Absenkung der Sozialhilfe – nebst Kürzungen um bis zu 100 Prozent aufgrund von Sanktionen. Beispielsweise gäbe es den Fall, in dem die gekürzte Mutter vom Hartz IV ihrer beiden Kinder leben müsse. Vor allem bei Jüngeren hätte der aktivierende Sozialstaat verheerende Konsequenzen. Man dachte, „wenn man einem jungen Menschen auch nur einen Monat existenzsicherndes Geld in die Hand gibt, wird er für den Rest seines Lebens verdorben. Deshalb muss ein Sofortangebot gemacht werden, zur Not eben in Arbeitsgelegenheiten.“ Geblieben sind Ein-Euro-Jobs, die für den Rest des Lebens die berufliche Entwicklung verbauen. In Köln habe man Ähnliches an jungen Menschen bereits 1997 ausprobiert. Richtig gefördert würde inzwischen überhaupt nicht mehr.

Den Umgang vor allem mit jungen Erwachsenen bezeichnete Prof. Dr. Thomas Münch von der Fachhochschule Düsseldorf 2006 als „Menschenversuch“. Selbst für Dr. Peter Hartz, den ehemaligen VW-Vorstand, sei dies damals nicht klar gewesen: „Der wusste sowieso nicht, worüber er da redet. Vor allem habe er die Entwicklung so nicht gewollt“, so Spindler. Was tatsächlich gewollt war, wussten spätestens 1998 allerdings Prof. Dr. Günther Schmid vom „Wissenschaftszentrum Berlin“ und die Bertelsmann-Stiftung: die Absenkung der Sozialhilfe.


Kreative Widerstandsformen überlegt

Prof. Dr. Spindler beobachtet auch die Entwicklung prekärer Arbeitsverhältnisse. Besonders gefährlich seien in diesem Zusammenhang Begriffe wie Flexecurity, Bürgergesellschaft, Ehrenamt oder bedingungsloses Grundeinkommen. Letzteres sei deshalb so problematisch, weil es als Spielmasse staatlichem Willkürhandeln ausgesetzt sei. „Hätten wir eine ordentliche Sozialhilfe, wäre das wie ein Grundeinkommen.“

Die Wunde der Arbeitslosigkeit

Nicht der Verlust der Arbeit sei „per se“ schlimm, sondern nur dann „ wenn man mit seinen Arbeitsbedingungen rundum zufrieden war.“ Vor allem an den jungen Menschen, den „Newcomern“ werde zurzeit sträflich experimentiert, weil sie in eine ordentliche Arbeit gar nicht mehr hineinkämen. Es gäbe vor allem zwei Gründe, die Arbeitslosigkeit schmerzlich machten: „Das Schlimme ist, wenn es einem elend geht und man keine materiellen Mittel mehr hat wie in dem Film ‚Die Arbeitslosen von Marienthal’ von 1939. Mit entsprechender finanzieller Unterstützung und ihrer eigenen Kreativität könnten Erwerbslose durchaus gut existieren. Schließlich gäbe es in der Welt viele Rentiers, die ohne Arbeit sehr gut lebten. Der zweite Grund sei, dass die Übergangszeit in die Arbeitslosigkeit dazu genutzt werde, „den Menschen eine sinnlose, unattraktive und miese Beschäftigung aufzuzwingen und dass sie von der Gegenseite erpresst und über den Tisch gezogen werden.“

Gesellschaftlich sei Arbeitslosigkeit bedenklich, wenn sie die Lebensqualität der gesamten Gesellschaft verschlechtere, zum Beispiel durch die Zunahme der Kriminalität, was in den USA und Großbritannien inzwischen ein Riesenproblem sei. Und „manche in der Gesellschaft halten es eben für schlimm, wenn sie mit ihren Steuern die Arbeitslosen unterhalten sollen, weil sie das Geld gern für sich behalten wollen. Das ist allerdings ein Solidaritätsproblem“, so Spindler. Vor allem die Arbeitgeber störten die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, weil sie so die Arbeitslosen nicht als Druckmittel gegen die Nochbeschäftigten hätten, um mit dem Aktivierungsgedanken von Hartz IV die Löhne zu senken. Der Begriff „sozial ist, was Arbeit schafft“ sei nichts anderes, als ein marktgläubiger Slogan, der aus dem protestantischen Arbeitsethos stamme. 1932 hatte man damit schon einmal die Menschen in die Irre geführt: „Sozial ist, wer Arbeit schafft“. Seminar-Teilnehmer Manfred Laske von NON-Profit-Promotion schlug deshalb vor, sich endlich mit dem Arbeitsbegriff ernsthaft auseinander zu setzen. Denn schließlich sei fast alles Arbeit, was Menschen erledigten, sie werde nur nicht als solche gewertet oder bezahlt. Mit einem „Weiter so“ lasse sich die Gesellschaft jedenfalls nicht zusammenhalten.

Prof. Dr. Spindler warnte eindringlich davor, dass der reine Markt genau diese Probleme des sozialen Ausgleichs nicht lösen könne. Dass das vielfach bis heute nicht verstanden werde, mache eine Aussage von Karl Lauterbach (SPD) 2008 in der Tageszeitung deutlich: „Richtig ist es, für die zu kämpfen, denen es am schlechtesten geht. Und das sind in unserer Gesellschaft die Armen ohne Arbeit. Diese Menschen sind nicht organisiert, gehören keiner Gewerkschaft an. Sie haben kein Sprachrohr, keine Lobby. Diese Männer und Frauen waren vergessen. Für sie haben wir Arbeit geschaffen. Keine perfekte Arbeit, keine gutbezahlte Arbeit – aber immerhin Arbeit. Diese Reform war ein linkes Projekt.“

Entwickelt sich vor Hartz V jetzt mehr Widerstand?

Einig waren sich die Teilnehmer des Seminars über die offenen und qualitativ guten Seminarbeiträge von Stephanie Böhm von der Akademie Frankenwarte, Bettina Güttschow vom Münchner Arbeitslosenzentrum MALZ und Peter Kadiofsky von der Erwerbslosenhilfe „Hilfe im Nordend“. Vor allem waren sich die Teilnehmer darüber einig, dass man – über den sozialen Austausch, gegenseitige Unterstützung und fachliche Beratung hinaus – den Protest verstärken müsse, um eine weitere Spaltung der Gesellschaft zu stoppen. Und gegen die Protagonisten des Entrechtungssystems Hartz IV oder Rente mit 67 wurde ein schärferes Vorgehen verlangt. Genannt wurden in diesem Zusammenhang neoliberale Vertreter der Bertelsmannstiftung oder der sogenannten Initiative Soziale Marktwirtschaft, Prof. Dr. Rürup, Prof. Dr. Sinn, Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen und andere, die inhaltlich deutlich mehr bloßgestellt werden müssten.

Mit flash-mobs, offenen Politikeranschreiben, zivilem Ungehorsam, Theater- und Musikaufführungen, besserer Vernetzung und Aufbau von Anwaltsnetzen, eigenen Zeitungen und mehr PR müsse man wirksamer als bisher auftreten. Als Beispiele aus Köln wurden Aktionen der „Überflüssigen“, „Zahltag“-Aktionen vor der ARGE, die Clownsarmee, die Aktivitäten der Kölner Erwerbslosen in Aktion (KEAs) und von „Bundeswehr wegtreten!“ genannt, die auch in anderen Städten Eingang gefunden haben. Nicht einig war man in der Runde darüber, ob man sich auch weiter auf friedliche Proteste und sogenannten Latsch-Demos beschränken solle, oder ob deutlich robusterer Widerstand erforderlich sei. Hartz V oder das von der FDP favorisierte Bürgergeld könnten durchaus die Grenzen sein, deren Überschreiten die Menschen in diesem Land der unendlichen Duldungsfähigkeit sich nicht mehr gefallen werden. Doch für eine Schulung in robusten Protestformen dürfte die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung wohl nicht zur Verfügung stehen. Das müssten die Teilnehmer dann schon selber machen. (HDH)

Online-Flyer Nr. 219  vom 14.10.2009



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