NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

Fenster schließen

Literatur
Ein erotischer, hochpolitischer und spannender Roman
Michal Hvoreckys ESKORTA
Von Karl Feldkamp

Wer könnte über einen politisch desinteressierten Callboy einen erotischen und zugleich hochpolitischen sowie spannenden Roman schreiben? Ein junger Autor, vielleicht, der in einem sozialistischen Staat aufwuchs und dort lernte, unerlaubte politische Aussagen geschickt in Metaphern zu verstecken?  
Michal Hvorecky wurde 1976 in der sozialistischen tschechoslowakischen Republik geboren und gelangte über die vom realen Sozialismus zunächst nur zögerlich befreite Slowakei hinein ins bis heute immer noch nicht einige Europa. Damit musste er auch seinen ganz persönlichen Weg in den Turbokapitalismus und die globalisierte Welt finden. Und jene grotesken Entwicklungen, die globalisierte Neu-Europäer zu verkraften haben, lassen sich offenbar in grotesken Romanen bestens metaphernreich aufarbeiten. Schließlich war bereits Hvoreckys zweiter Roman „CITY: Der unwahrscheinlichste aller Orte“ ein mehr als gelungener Versuch, der europäischen Gesellschaft den Zerrspiegel vorzuhalten, um schön geredete politische Verhältnisse in drastischer Deutlichkeit mit harter Wirklichkeit zu konfrontieren.   
 
Michal Kirchner, der Protagonist seines neuen Romans, ein hoffnungsvoller junger Mann aus Bratislava, entsprossen einer Zweckehe homosexueller Eltern, hat schon als Kind die Überwachung durch den tschechoslowakischen Geheimdienst miterlebt. Er macht plötzlich auf dem freien Markt Karriere, eine sehr steile Gipfel stürmende und später eine nicht weniger steile in Richtung Abgrund.
 
Bei der global agierenden Begleitagentur ESKORTA ist er diskret zu buchen und steht Frauen aus gehobenen Schichten professionell und nahezu grenzenlos zur Verfügung. Michal geht mit ihnen einkaufen, in Drei-Sterne-Restaurants, in Konzerte und selbstverständlich als gut aussehender und ungewöhnlich potenter junger Liebhaber auch ins Bett. Er berät die Damen in Schönheitsfragen, fördert mit Komplimenten ihr Selbstvertrauen, leistet seelischen Beistand, ist ihr aufmerksamster Zuhörer und immer besser als die jeweils angetrauten Ehemänner. Alles gegen zunächst großzügigste Gagen.
 
Natürlich gilt gerade für Callboys, dass ein agiler Arbeitnehmer ab seinem dreissigsten Lebensjahr allmählich als weniger leistungsfähig eingestuft wird. Die zunächst steile Aufwärtskarriere flacht ab, bewegt sich noch eine Zeit lang auf einem horizontalen Höhenweg, um sich schließlich gesellschaftlichen Abgründen zuzuneigen. Alles fast wie im richtigen bürgerlichen Leben…
 
Und welch ein Zufall: Hvoreckys Buch kommt zeitgerecht mitten in den Konjunkturabschwung einer Weltwirtschaftskrise und enthält durchaus Lösungsvorschläge für krisengeschüttelte Europäer, ohne auch nur ansatzweise im Oberlehrerton Lebensweisheiten oder gar ökonomische Erkenntnisse zu verbreiten.

Ein unpolitisch politischer Roman, grotesk und dennoch (oder gerade deswegen) voller Realitäten. (PK)  

Leseprobe:

2.


Meine Familie stammt aus der Tschechoslowakei. Dafür kann ich nichts.


In einem so winzigen Land wurde sehr aufmerksam beobachtet, woher man kam und aus was für einer Familie. Meine Vorfahren hatten sich in der Vergangenheit ihren Lebensunterhalt in den verschiedensten Berufen verdient, waren Bauern, Gutsverwalter, Soldaten und Beamte gewesen.

Als Kind sprach ich Deutsch, auch wenn das schon damals ganz unzeitgemäß war. Mein Großvater, der Rechtsanwalt Herbert Kirchner, Jahrgang 1887, gehörte zu den bekanntesten Homosexuellen in der Tschechoslowakei der Zeit zwischen den Kriegen. Er war in Böhmen geboren und damit österreichischer Staatsbürger. Seine Erziehung erhielt er auf Militärschulen, danach studierte er Jura. 1918 begrüßte er den Fall von Österreich-Ungarn und die Gründung einer eigenständigen Tschechoslowakei. Er tauschte die Uniformen gegen Anzüge mit englischem Schnitt aus, rasierte sich den Backenbart ab und widmete sich nun Jazz, Sport und Autos.

Mein Großvater wirkte auch mit fünfzig noch ungewöhnlich jung. Er war immer elegant gekleidet, und wenn er auf dem Weg in eins der Kaffeehäuser der Prager Altstadt den Graben entlang flanierte, schaute er den jungen Herren, die voller Sorge von den sie begleitenden Damen bewacht wurden, tief in die Augen. Er hatte hervorragende Manieren und wusste nicht nur, wie man sich korrekt benimmt, sondern war auch ein begnadeter Redner.

Mit deutschsprachigen homosexuellen Kreisen kam er vor allem im Café Continental in Kontakt, wo regelmäßig Kabarettvorführungen und Travestie-Shows stattfanden. Dort verkehrte er auch mit Männern, die ihre Orientierung sonst unterdrückten oder geheim hielten.

Herbert lebte in einer Mietwohnung in der Heinrichgasse, zwischen Pferdemarkt und Heuwaagplatz, wo er gemeinsam mit Freunden und unter Aufsicht eines Psychiaters mit Haschisch und Opium experimentierte. Er hatte einen außerordentlich gut entwickelten Sinn für Tanz und Musik, liebte das Ballett und die Oper und war mit Avantgarde-Künstlern befreundet, deren Namen mir nichts sagten. Seine Bibliothek umfasste angeblich die zweitgrößte Sammlung erotischer Literatur in Mitteleuropa.

Als erster tschechoslowakischer Rechtsanwalt forderte er die Entkriminalisierung der gleichgeschlechtlichen Liebe. Strafen für Homosexuelle wurden auf böhmischem Territorium im 18 . Jahrhundert eingeführt: Ihnen wurde der Kopf abgeschlagen und dieser dann mit dem Rest des Körpers verbrannt. Beischlaf mit einem Nichtchristen, also mit einem Juden oder Muslim, galt als erschwerender Tatbestand. Selbst bei Masturbation drohten Folter oder gar Erhängen.

Noch Ende des 19 . Jahrhunderts wurden sogenannte Sodomiten mit Haftstrafen zwischen einem und fünf Jahren bestraft, zuzüglich Auspeitschen und Zwangsarbeit. Zu Herberts Zeiten wurde man normalerweise »therapiert«, indem die Hoden entfernt wurden. Die Psychiater gaben ihren »Patienten« außerdem Brechreiz fördernde Mittel und zeigten ihnen dabei Filme mit nackten Männern. Mein Großvater legte öffentlich Protest ein.

Er war Mitbegründer der Weltliga für Sexualreformen und erwarb sich Verdienste bei der Gründung der Zeitschrift Stimme der sexuellen Minderheit. Er kämpfte gegen brutale Denunzianten, die von Schwulen Geld forderten und drohten, sie ansonsten bei der Polizei anzuzeigen. Die Verfolgung von Homosexuellen durch die Nazis lehnte er ab, doch hielt er sie für zweitrangig, verglichen mit den historischen Erfolgen, die sein Volk erreicht hatte. Als deutschsprachiger Bürger der Tschechoslowakei befand sich Herbert in einer besonders komplizierten Situation: Er war homosexuell, aber er bewunderte Hitler. Den Versailler Vertrag hielt er für ungerecht und die Kriegsreparationen für eine bodenlose Zumutung. Er begrüßte ebenfalls den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich.

Doch nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis stand er auf der schwarzen Liste und wurde von der Gestapo drangsaliert.

Er wollte sich durch eine Ehe in Sicherheit bringen und suchte sich dafür eine Lesbe in ähnlicher Situation. Sie heirateten im Dezember 1938 im Prager Rathaus. Ein altes Familienfoto von jenem Tag zeigt einen großen, athletisch gebauten Mann, der sich leger auf einen Sockel aus heller Pappe stützt, eine Requisite des Fotoateliers. Dabei schaut er nicht die wunderschöne Braut an, die neben ihm steht, sondern blickt irgendwohin zur Seite und tut so, als sei er gar nicht da. Das Ehepaar Kirchner beschloss, für Nachwuchs zu sorgen, meinen Vater, und so nach außen hin den Anschein einer normalen Familie zu erwecken. Herbert glaubte, dass ihm als Deutschem, wenn er nur vorsichtig genug wäre, definitiv keine Gefahr drohte. Die Gestapo sperrte ihn dann aber trotzdem ein, in die Kleine Festung von Theresienstadt, in eine Baracke für politische Gefangene und Homosexuelle. An der Häftlingskleidung musste er den rosa Winkel tragen. Schließlich deportierten sie ihn nach Auschwitz, wo er direkt nach seiner Ankunft am Morgen des 7. März 1943 in der Gaskammer getötet wurde.

Von ihm habe ich die blauen Augen und die hohe Stirn geerbt.

 
Michal Hvorecky, ESKORTA, Roman, aus dem Slowakischen übersetzt von Mirko Kraetsch, Klett-Cotta 2009 Tropen, 250 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, € 19.90
 
Karl Feldkamp, 1943 in Lübeck geboren, Supervisor und Kommunikationstrainer sowie freier Autor, lebt seit 1989 in Bergisch Gladbach; schreibt Lyrik, Kurzprosa, Essays, Hörspiele, Satiren, Rezensionen. Mehr unter www.karl-feldkamp.de.
 

Online-Flyer Nr. 194  vom 22.04.2009



Startseite           nach oben