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Aktueller Online-Flyer vom 26. April 2024  

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Inland
Gestern – heute – morgen
90 Jahre Novemberrevolution
Von Peter Bathke und Hans-Dieter Hey

"Du lieber Gott! Was war da für ein Pöbel auf der Straße!", meinte die alte Tante eines unserer älteren, aber durchaus honorigen NRhZ-Autoren. Sie hatte die Revolution von 1918 in Berlin vom Fenster aus beobachtet. Doch die Arme hatte gar nicht mitbekommen, dass genau diese Revolution das Abschlachten des 1. Weltkrieges deutlich abgekürzt und das Kaiserreich endlich zum Teufel geschickt hatte. Das "Revolutionsseminar" der Rosa-Luxemburg-Stiftung an diesem Wochenende förderte interessante Annäherungen an die heutige Wirklichkeit zu Tage.
Am Samstag, 1. November, fand unter Federführung der RLS NRW im Kölner Bürgerzentrum Alte Feuerwache und mit hochkarätigen Teilnehmern besetzt ein „Revolutionsseminar“ statt, das an die Novemberrevolution von 1918 erinnern sollte. Angesichts der politischen Wirklichkeit heute wurde die Frage gestellt, ob sich Deutschland nicht in einer vorrevolutionären Situation befinde, denkt man an die völkerrechtswidrigen Kriegseinsätze mit deutscher Beteiligung, an die Zerschlagung sozialer und demokratischer Rechte oder die immer stärker ausschlagenden Amplituden selbstgemachter Wirtschaftskrisen mit der Folge von Hunger und Not – weltweit.
 
Geschichtslosigkeit

Offensichtlich gibt es in unserem Land auch einen Zustand beängstigender Geschichtslosigkeit. Denn vor allem Jungendlichen dürfte nicht bewusst sein, dass die Regeln der ersten deutschen Republik für ein demokratisches und soziales Zusammenleben kein Geschenk waren, sondern erkämpft werden mussten. Prof. Dr. Frank Deppe wies in seinem Einführungsreferat mit Recht darauf hin, dass das Kriegsende durch Arbeiter und Soldaten gegen die herrschenden Klassen, die Sozialdemokratie und die Christlichen Gewerkschaften gewaltsam und verlustreich durchgesetzt werden musste.



Die Folgen des 1. Weltkriegs mit Vorschau auf den 2. Weltkrieg
Quelle: NRhZ-Archiv

 
Der Erfolg dieser Kämpfe waren die Anerkennung freier Gewerkschaften, das Verbot „gelber Gewerkschaften“ – die leider erneut eine Rolle z.B. bei Siemens spielen – das Frauenwahlrecht, das Betriebsrätegesetz, der Achtstundentag, das Tarifvertragsgesetz oder das Sozialisierungsgesetz. Damals hieß es in einer Bekanntmachung der Reichsregierung: „Das Reich wird dafür sorgen, dass überall nach den Forderungen des Gemeininteresses und nirgends im Profitinteresse gewirtschaftet wird. Und das ist Sozialismus“. Wesentliche Teile dieser Errungenschaften sind kurze Zeit später durch die konterrevolutionäre Entwicklungen des Kapitals, seiner Verbände, verschiedener Parteien, rechter Sozialdemokraten und der Armee wieder zerschlagen worden. Diese Konterrevolution hat deutlich zur Destabilisierung der damaligen politischen Entwicklungen beigetragen, die 1933 schließlich in die Machtübernahme durch Adolf Hitler führten – unter bedeutender Unterstützung durch das Kapital und konservative Kräfte.
 

Prof. Dr. Frank Deppe
Heute stehen erkämpfte Errungenschaften erneut auf dem Spiel. Deshalb ist die geschichtliche Nähe zum Damals präsent. Frank Deppe: „Das ist eine wichtige historische Erfahrung, die keineswegs auf die Novemberrevolution beschränkt ist. Sie sollte uns vor den Illusionen über die Reformbereitschaft der Herrschenden schützen. Nur eine wirkliche Veränderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und schließlich der Machtverhältnisse kann Fortschritt im Interesse der arbeitenden Menschen dauerhaft durchsetzen.“

An die Ausführungen Prof. Deppes knüpfte Dr. Christoph Jünke in einem zweiten Referat im Vormittagsplenum zu „Übergängen auf dem Weg zu einem neuen Sozialismus“ an. Er ging davon aus, dass Armut, Hunger, Krieg und Wirtschaftskrisen ins Zentrum unserer Gesellschaft zurückkehren und mit ihnen die Suche nach einem neuen Sozialismus. Die tiefere Ursache sieht er darin, dass die Bedürfnisse der Produzenten den Bedürfnissen der sie Ausbeutenden mindestens partiell entgegengesetzt sind und deswegen auch immer wieder aneinander geraten.

Infragestellung des Kapitals sehr unbeständig
 
Es sei dieser antagonistische Kern kapitalistischer Produktionsverhältnisse, auf den die Sozialisten ihr Prinzip Hoffnung gründen, denn er erlaubt ihnen, das sich immer wieder elementar entwickelnde Klassenbewusstsein unterdrückter und/oder ausgebeuteter Produzenten (und Konsumenten) zu politisieren. Ferner erläuterte Christoph Jünke, es gebe zwar von Seiten der Arbeiterschaft eine permanente spontane Infragestellung des Kapitals, sie sei aber erstens sehr unbeständig und zweitens reformistisch verdrehbar. Ein grundlegender Bruch kann deshalb nur politisch, das heißt als bewusster kollektiver Akt vonstatten gehen.“ Jünke weiter: „Revolutionär-sozialistisch ist, wer es versteht, die spontanen und punktuellen Vorstöße gegen die herrschende Rationalität zu verstetigen und sie zu politisieren.“ Alle Mittel, die zu dieser Politisierung beitragen, sind erlaubt, sofern sie die Ohnmacht und Bewusstlosigkeit der lohnarbeitenden Menschen überwinden“.
 
Auf die Revolution von 1918/19 zurückkommend, zitierte Christoph Jünke aus dem von Rosa Luxemburg verfassten Spartakusprogramm: „Die Masse des Proletariats ist berufen, nicht bloß der Revolution in klarer Erkenntnis Ziele und Richtung zu stecken. Sie muss auch selbst, durch eigene Aktivität Schritt um Schritt den Sozialismus ins Leben einführen. Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, dass die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewusster freier Selbstbestimmung lenkt.“

Intensive Debatten
 
Am Nachmittag folgten intensive Debatten unter den TeilnehmerInnen in Workshops mit den ImpulsgeberInnen Dr. Elvira Högemann zu „Krieg und Frieden in der Novemberrevolution“, Klaus Schmidt zu „Unbekannten Kölner Revolutionären von 1918“, Gerd Deumlich zu „Revolution – Konterrevolution – Antikommunismus“, Frank Kühl zu „Räten in der Novemberrevolution“, Dr. Sabine Kebir zu „Rätedemokratie, Zivilgesellschaft und neuer Staat“ und Prof. Dr. Peter Grottian mit „Warum droht ziviler Ungehorsam verloren zu gehen?“
  

Prof. Dr. Peter Grottian
Seinen Abschluss fand das Tagesseminar zur Novemberrevolution mit einer Podiumsdiskussion zur Frage „Was bedeutet es, heute revolutionär zu sein?“ Prof. Dr. Peter Grottian beantwortete diese Frage mit den Worten: „Revolutionär ist, wer gesellschaftliche Alternativen mit dem Mut zu zivilem Ungehorsam verbindet, ohne zu wissen, ob es tatsächlich zu gesellschaftlichen Veränderungen kommt.“ Eindringlich, beinahe warnend, verwies er darauf, dass das innere Band zwischen zivilem Ungehorsam und gesellschaftlichen Veränderungen zu zerreißen drohe. Die Aktionen der G 8-Gegner in Heiligendamm seien die Verteidigung des Demonstrationsrechts gewesen, nicht mehr und nicht weniger. Ziviler Ungehorsam erfordere permanente Übung, so Peter Grottian weiter. Und er schlug vor, mit Aktionen zivilen Ungehorsams den Bundestagswahlkampf 2009 zur Hölle für die Herrschenden zu machen. Die Trias aus sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und der Partei DIE LINKE sollte endlich über gemeinsame Projekte diskutieren und diese in Angriff nehmen.

Revolution und Restauration oft nah beieinander
 
Unter Verweis auf die Wende in der DDR 1989 erinnerte Dr. Sabine Kebir daran, dass nach Gramsci Revolution und Restauration oft nah beieinander liegen. Unter Revolution versteht sie einen grundlegenden Wandel und die Schaffung neuer Institutionen. Derartige Veränderungen bedürfen aber starker Transparenz und gesellschaftlicher Kontrolle. Da Deutschland sich anschickt, eine imperialistische Macht zu werden, komme es darauf an, die Gesellschaft von Institutionen des Krieges zu befreien. Zu beseitigen sind Rassismus, Sexismus, Ausbeutung der Dritten Welt. Benötigt wird eine ökologische Welt, ein humanistischer Umgang mit technologischen Veränderungen. Zu überwinden ist die strukturelle Gewalt, die viel breiter wirkt als direkte Gewalt.


V.l.n.r: Dr. Sabine Kebir, Sevim Dagdalen, Thiess Gleis,
Prof. Dr. Peter Grottian und Leo Mayer
Fotos: gesichter zei(ch/g)en
 
Weiter empfahl Sabine Kebir der Linken, sich stärker des Interkulturellen anzunehmen. Als Voraussetzung für einen Emanzipationsprozess forderte sie die Bewußtseinswerdung der Menschen. Diese könne durch ihren Zusammenschluss an den Wohn- und Lebensorten erfolgen. Sie plädierte für Basisbewegungen zur Schaffung soziokultureller Einrichtungen in Stadtteilen und Dörfern. Die Voraussetzungen dafür seien durch die Parlamente der jeweiligen Ebene zu gewährleisten. Zugleich komme es darauf an, die gegensätzlichen Vorstellungen zu überwinden, Revolutionen seien nur von unten oder oben machbar.

DIE LINKE löst keine revolutionären Aufgaben

 
Revolutionär sein könne man heute wie eh und je nur gegenüber etwas Bestimmten, sagte Sevim Dagdelen. Die entscheidende revolutionäre Aufgabe bestehe darin, den Grundwiderspruch zwischen Kapital und Arbeit aufzuheben. Aber nur durch und mit den Massen sei etwas zu bewirken. Aus ihrer Sicht, sei die Partei DIE LINKE aber weder organisatorisch noch ideologisch-inhaltlich so verfasst, dass sie revolutionäre Aufgaben lösen könnte. In der aktuellen Wirtschafts- und Finanzmarktkrise stelle sie nicht die Forderung nach Änderung der Eigentumsverhältnisse. Sie erwarte von der Partei DIE LINKE keine Revolution. Man sollte realistisch an diese Partei herangehen. Es komme darauf an, die Grundstimmung der Massen zu politisieren, z. B. durch Aktionen gegen Massenentlassungen in der Autoindustrie. Oder anlässlich des bevorstehenden NATO-Gipfels sollten die Linken die Auflösung der NATO fordern.
 
Als Stellvertretender Vorsitzender der DKP erklärte Leo Mayer, nach dem Scheitern des Sozialismus in Europa komme es unter grundsätzlich neuen Bedingungen darauf an, einen neuen Anlauf zum Kommunismus zu wagen. Es gelte, den ursprünglichen Weg wieder aufzunehmen und eine radikale gesellschaftliche Umwälzung im Interesse der Emanzipation der Menschen zu erreichen. Es gehe um radikale Demokratie, Partizipation, Selbstemanzipation, um ein gemeinsames gesellschaftliches Projekt von revolutionären, reformistischen und anderen Strömungen. Es gelte, das Beste aus der Geschichte des Kommunismus zu bewahren, um die heutigen Herausforderungen zu meistern. (PK)

Dr. Frank Deppe ist emeritierter Professor für Gesellschaftswissenschaften und Philosophie an der Philipps-Universität Marburg 
Prof. Dr. Peter Grottian war Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
Dr. Christoph Jünke ist Historiker, politischer Publizist und Vorsitzender der Leo Kofler-Gesellschaft
Sevim Dagdalen ist Juristin und Journalistin und Mitglied der Fraktion DIE.LINKE im Bundestag
Dr. Sabine Kebir hat verschiedene Sprachen und Politologie studiert und ist politische Publizistin und Literaturwissenschaftlerin
Leo Mayer ist Wirtschaftswissenschaftler am Institut für sozialökologische Wirtschaftspolitik (ISW) München und Stellvertretender Vorsitzender der DKP


Online-Flyer Nr. 171  vom 05.11.2008



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