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Aktueller Online-Flyer vom 30. April 2024  

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Arbeit und Soziales
Die Reform der Hartz-IV-Reform
Verfolgungsbetreuung plus – Teil 3/6
Von Prof. Dr. Michael Wolf

Das Manager-Magazin berichtete am 1. Oktober 2004, dass die Mehrheit der deutschen Manager von Hartz IV keine Beschäftigungseffekte erwartet haben, trotzdem waren 91 Prozent dafür. Warum? Für ihre neoliberale Sicht ist Erwerbslosigkeit selbstverschuldet und müsse bestraft werden. Inzwischen bedeutet Hartz IV ein ganzes System von Entrechtung und Enteignung, das für die derzeitige schwarz-rote Politik immer noch nicht ausgereizt scheint: Am 1. August trat das Hartz IV Fortentwicklungsgesetz in Kraft. Prof. Dr. Michael Wolf stellt uns die ganze Entwürdigung dar. Die Redaktion

Hartz IV: Abschied von der Existenzsicherung

In bezug auf die Höhe der Transferleistungen muss folgendes festgestellt werden. Indem das SGB II die Eigenverantwortung 12) als inhaltlichen Kern der neuen Grundsicherung betont und diese damit gegenüber der Existenzsicherung priorisiert, nimmt es Abstand von der Idee, die das alte Gesetz zur Existenzsicherung, das seinerzeitige Bundessozialhilfegesetz (BSHG), noch explizit leitete. Dort hieß es nämlich in § 1 II BSHG, Aufgabe der Sozialhilfe sei es, "dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht". Mit seiner Distanzierung von dem Leitgedanken der Führung eines menschenwürdigen Lebens 13) fällt das SGB II allerdings nicht nur wieder ideell auf den Stand vor dem BSHG zurück, als Fürsorge Hilfebedürftigen lediglich gewährt wurde aus Gründen der öffentlichen Ordnung, nicht aber um ihrer selbst willen. Auch materiell, das heißt bezüglich der gewährten Regelleistungen, liegt das Niveau des für erwerbsfähige Hilfebedürftige vorgesehenen Arbeitslosengeldes II nach §§ 19 ff. SGB II unter dem der früheren BSHG-Sozialhilfe, die selbst bereits seinerzeit schon als nicht armutsfest im Sinne von bedarfsdeckend kritisiert worden ist. 14) Wie ein Blick in die neuesten Untersuchungen zu den Auswirkungen von Hartz IV auf die personelle Einkommensverteilung zeigt (vgl. Becker/Hauser 2006), ist das Ausmaß der Armut seit der mit dem SGB II vollzogenen organisatorischen Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe gestiegen, was nichts anderes bedeutet, als dass der auf der Ebene der Systemintegration installierte Zwang zur Aufnahme jedweder Arbeit als äußerliche Bedingung physischen Überlebens erhöht worden ist.
 

Protest gegen ARGE-Schikanen in der Job-Börse Köln-Mülheim

Gleiches gilt auch hinsichtlich der Frage, welche Arbeit zumutbar ist. Auch hier ist eine die Entgelthöhe, den Tätigkeitsstatus und die Mobilität betreffende Verschärfung der Definitionen zu konstatieren. So ist bereits nach einem halben Jahr Arbeitslosigkeit jede Beschäftigung zumutbar, wenn das daraus erzielbare Nettoeinkommen das Arbeitslosengeld II übersteigt und die Beschäftigung der "Arbeitsfähigkeit " des Arbeitslosen entspricht, was besagt, dass weder ein Qualifikations- noch ein Berufsschutz besteht. Weigert sich ein hilfebedürftiger Arbeitsloser, einer solchen Beschäftigung nachzugehen – und den Beweis, dass diese unzumutbar ist, hat nicht die Arbeitsverwaltung (seien es nun die Arbeitsagenturen selbst oder die ARGEn oder die sogenannten Optionskommunen) zu führen, sondern der Arbeitslose –, führt dies je nach Fall beim ersten Mal zur Kürzung des Regelsatzes beziehungsweise der Unterkunftszahlungen um 30 Prozent, beim zweiten Mal um 60 Prozent und beim dritten Mal zur vollständigen Versagung der nach dem SGB II zu gewährenden Geldleistungen, wobei der Zeitraum der Sanktion wegen Ablehnung eines Vermittlungsangebotes auf zwölf Monate terminiert ist. Mit anderen Worten: Es wird erwartet, dass bei Strafe seines Untergangs "jeder die ihm gebotene Chance annimmt" (Schröder/ Blair 1999: 9), ganz gleich, um welches Angebot es sich handelt. 15)

'Aktivierend' im Sinne einer "Hungerpeitsche" wirkt die Sozialpolitik des "aktivierenden Staates" jedoch nicht nur über das Was, indem sie den erwerbsfähigen hilfebedürftigen Arbeitslosen mit der Reduzierung oder gar dem vollständigen Entzug der Unterstützungsleistungen und damit mit deren Verelendung droht oder gegebenenfalls ihre Drohung auch wahrmacht. Eine 'Aktivierung' der Arbeitslosen wird auch über das Wie bewirkt, das heißt auf prozeduralem Wege vermittels spezifischer 'Überzeugungsstrategien', die allesamt auf die erwünschte habituelle Eigenschaft zielen, sich willig überall und jederzeit in den eng gewordenen Arbeitsmarkt flexibel und mobil einzufügen, mit dem Ziel, die eigene Existenz durch Arbeit selbst sichern zu können. Ablesen läßt sich dies zum Beispiel an dem Institut a) der 'aktivierenden Beratung' und b) der Eingliederungs' vereinbarung'.

Für die 'aktivierende Beratung', wie das SGB II sie vorsieht, gilt in besonderer Weise, dass sie als ein strukturelles Gewaltverhältnis begriffen werden kann aufgrund der Asymmetrie, die zwischen dem Case-Manager und dem neuerdings als 'Kunden' bezeichneten Arbeitslosen besteht. Zum Ausdruck kommt dies generell darin, dass die Hartz-IV-Beratungs'angebote' verpflichtende verbindliche 'Angebote' sind, womit sie das für eine gelingende Beratung zentrale Kriterium der Freiwilligkeit nicht erfüllen. Denn ihrem Anspruch nach hat Beratung Anregung und Unterstützung für selbstbestimmte Entscheidungen und eigenverantwortliche Problembewältigung durch den Ratsuchenden zu sein, was auf Seiten des Beratenden voraussetzt, sich als Haltung die Achtung vor der Autonomie des Ratsuchenden zu eigen zu machen. An dieser scheint es aber strukturell zu fehlen, da die 'aktivierende Beratung' des SGB II nicht intendiert, den arbeitslosen Hilfesuchenden Auskunft darüber zu geben, welche Leistungen sie von Rechts wegen beanspruchen können 16), sondern sie sucht vielmehr Möglichkeiten aufzuzeigen, damit die Hilfesuchenden die ihnen zustehenden Transferleistungen nicht oder nur kurz in Anspruch nehmen, und verbindet aus diesem Grund die angebotene Hilfe mit Sanktionsdrohungen.
 
Gewalt per Verwaltungsakt

Dies wiederum läßt sich ablesen an der Eingliederungs'vereinbarung', die der als 'Kunde' bezeichnete hilfebedürftige Arbeitslose nach § 2 I SGB II verpflichtet ist, mit seinem 'Case-Manager' abzuschließen, wenn er, so § 31 I 1a SGB II, den Anspruch auf Eingliederungs- und Existenzsicherungsleistungen nicht verlieren will. Damit wird gegenüber der früheren Sozialhilfe der Interventionspunkt der Sanktion zeitlich vorverlagert, da nicht erst die Verweigerung 'zumutbarer Arbeit', sondern bereits die fehlende Mitwirkung bei der Eingliederungs'vereinbarung' – und was als eine solche zu werten ist, wird vom Case-Manager als 'Herr des Verfahrens' autoritativ festgelegt – zum Verlust von Ansprüchen führt. Festgehalten wird in der ihren Namen zu unrecht tragenden Eingliederungs'vereinbarung' nach § 15 SGB II 17), welche Bemühungen der hilfesuchende Arbeitslose zur Beseitigung seiner Arbeitslosigkeit in welcher Häufigkeit unternehmen muss und wie er seine Bemühungen nachzuweisen hat, wobei eine Verletzung der 'vereinbarten' Mitwirkungspflichten die Arbeitsverwaltung berechtigt, die Existenzsicherungsleistungen zu mindern oder gar vollständig zu entziehen, wobei während dieser Zeit kein Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII, der heutigen Sozialhilfe, besteht und auch eine umgehende Verhaltensänderung seitens der Betroffenen nicht zu einer Aufhebung der Sanktion führt.


Klagemauer von Erwerbslosen vor der Kölner Arbeitsagentur
Fotos: arbeiterfotografie.com

Außerdem kann – ganz nach dem Motto "Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt." – bei Verweigerung des Abschlusses der Eingliederungs'vereinbarung' diese hoheitlich qua Verwaltungsakt erfolgen, was zurecht als fachlich verfehlt kritisiert wird, weil damit ignoriert wird, dass eine einseitig gesetzte und/oder gegen den Willen des Hilfesuchenden durchgesetzte Verhaltensanforderung auf dessen Widerstand stoßen und nur selten das erwünschte Verhalten nach sich ziehen wird. Es lässt sich jedoch begründet annehmen, dass ein Misslingen der beabsichtigten Verhaltensänderung bewusst in Kauf genommen, wenn nicht sogar provoziert wird, weil es zum einen die Möglichkeit eröffnet, die betroffenen arbeitslosen Hilfesuchenden als beratungsresistent und damit als arbeitsunwillig zu diskriminieren, und es damit zum anderen als Legitimation zur Ausgrenzung aus dem Leistungsbezug herangezogen werden kann, zumal der hiergegen einlegbare Widerspruch gemäß § 39 SGB II keine aufschiebende Wirkung hat. (HDH)

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10) "Erstes" und "Zweites Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" ("Hartz I u. II") sind am 1. Januar 2003 in Kraft getreten, "Hartz III" am 1. Januar 2004 und "Hartz IV" in Form des neu geschaffenen SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) am 1. Januar 2005. Zu Inhalt und Umsetzung der Hartz-Gesetze vgl. den immer noch informativen Aufsatz von Brütt (2003).
11) Eingeführt im Rahmen von Hartz II handelt es sich bei "Mini-Jobs" um Beschäftigungsverhältnisse bis zu 400 Euro Monatsentgelt, bei "Midi-Jobs" um solche zwischen 400 und 800 Euro Monatsentgelt.
12) Mit dem Rückgriff auf die Vokabel "Eigenverantwortung " (§ 1 I SGB II) unterstellt der Gesetzgeber den betroffenen hilfesuchenden und bedürftigen Arbeitslosen prinzipiell das Handlungsvermögen, eine Veränderung ihres Zustands der Arbeitslosigkeit in Richtung Beschäftigung selbst bewirken zu können. Hierbei wird jedoch geflissentlich übersehen, dass das von den Aktivierungsvertretern beständig beschworene eigene Können der Betroffenen in der realen Welt – anders als in der ideellen – an die Existenz spezifischer interner wie externer Handlungsvoraussetzungen gebunden ist, wozu kognitive Fähigkeiten, Kenntnisse, Fertigkeiten, Willensstärke und psychische Dispositionen wie Selbstkontrolle und steuerung ebenso gehören wie die materiellen, zeitlichen, kulturellen und sozialen Faktoren, die aus einem konkreten Handelnden die Person gemacht haben, die sie ist. Vgl. hierzu die prägnanten Ausführungen von Günther (2002).
13) Was unter einem 'menschenwürdigen Leben' zu verstehen ist, läßt sich weder dem Grundgesetz noch einer diesbezüglichen einfachgesetzlichen Ausgestaltung desselben entnehmen. Hierzu ist es erforderlich, auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zurückzugreifen. Dieses hat 1970 klargestellt, dass die Gewährleistung des bloßen physischen Existenzminimums für ein menschenwürdiges Leben nicht hinreicht, weil dem Hilfeempfänger gesellschaftliche Teilhabe möglich sein muss, also in der Umgebung von Nichthilfeempfängern ein Leben "ähnlich wie diese" (BVerwGE 36, 258) führen zu können, wobei auf die herrschenden Lebensgewohnheiten abzustellen ist (vgl. BVerwGE 35, 180 f.).
14) Nach einer Expertise des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes aus dem Jahr 2006 müßte der Regelsatz wenigstens 20 Prozent über dem liegen müßte, was den Arbeitslosengeld-IIBeziehern hoheitlich zugestanden wird, um ein Leben führen zu können, das gemessen an den Leitvorstellungen des Grundgesetzes als eines zu qualifizieren wäre, das der Würde des Menschen entspricht (vgl. Martens 2006).
15) Dies zeigt etwa der Fall einer Kellnerin in Berlin, der von einer der dortigen ARGEn das Angebot einer Stelle in einem Bordell zugewiesen worden war, das abzulehnen mit dem Risiko einer Leistungskürzung oder streichung verbunden war. (vgl. o. A. 2005) Da der Beruf der Prostituierten mit dem Inkrafttreten des Prostitutionsgesetzes (ProstG) am 1. Januar 2002 legalisiert worden ist und dieser nunmehr als einer gilt wie jeder andere Beruf auch, gibt es keinen rechtlichen Hinderungsgrund mehr, eine Bezieherin von Arbeitslosengeld II in den Bereich der sog. sexualbezogenen Dienstleistungen zu vermitteln, weil auf der Grundlage der Zumutbarkeitsregelung nach § 10 SGB II jede Arbeit anzunehmen ist, die nicht gesetzes- oder sittenwidrig ist. Und ob Prostitution sittenwidrig ist, darf füglich bezweifelt werden, zumindest wenn man der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen folgt, das die Auffassung vertritt, seit Erlaß des ProstG sei ein Vertrag über sexuelle Dienstleistungen nicht von vornherein als sittenwidrig zu beurteilen (vgl. BGH – Az 1 StR 482/03). Auch wenn es sich hier um einen Einzelfall handeln mag, so kommt darin doch zum Ausdruck, dass Prostitution kein Antonym für 'Markt-Verkehr', sondern vielmehr Inbegriff für die auf dem Prinzip des Warentauschs beruhenden zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Ein Sachverhalt, den Marx mit folgenden Worten unterstreicht: "Die Austauschbarkeit aller Produkte, Tätigkeiten, Verhältnisse gegen ein Drittes, Sachliches, was wieder gegen alles ohne Unterschied ausgetauscht werden kann – also die Entwicklung der Tauschwerte (und der Geldverhältnisse) ist identisch mit der allgemeinen Venalität, Korruption. Die generelle Prostitution erscheint als eine notwendige Phase der Entwicklung des gesellschaftlichen Charakters der persönlichen Anlagen, Vermögen, Fähigkeiten, Tätigkeiten." (Marx 1974: 80)
16) "So ist Aufklärung und Beratung über zustehende Sozialleistungen für viele Träger nicht Praxis, wird sogar, wenn sie von dritter Seite erbracht wird, als Angriff auf die Gemeindekasse empfunden", wie z. B. Spindler (2003: 226) mit Bezug auf die Sozialhilfeträger feststellt.
17) Sie trägt ihren Namen deswegen zu unrecht, weil der hilfesuchende Arbeitslose mangels realer Wahlmöglichkeiten einem sanktionsbewehrten Kontrahierungszwang unterliegt, so dass von einer "'Vereinbarung' im Schatten der Macht" (Berlit 2003: 205) gesprochen werden muss, die zudem gegen das Grundgesetz verstößt, da sie "unverhältnismäßig in die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Vertragsfreiheit" (ebenda) eingreift.

Online-Flyer Nr. 159  vom 13.08.2008



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