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Inland
Interview mit Sevim Dagdelen, MdB DIE LINKE, zum neuen Eherecht
„Ein Rollback!“
Von Peter Kleinert

Sevim Dagdelen, geboren 1973 in Duisburg, ist seit 2005 Bochumer Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE und vertritt ihre Fraktion im Rechts- und Innenausschuss. Außerdem ist sie die migrationspolitische Sprecherin der Fraktion. Seit Februar 2003 ist sie im Bundesvorstand der Föderation der Demokratischen Arbeitervereine (DIDF) an und gehörte im März 2005 zu den Mitbegründern des Bundesverband der Migrantinnen in Deutschland. 2007 erhielt sie den Deutsch-Türkischen Freundschaftspreis.

Dagdelen Sevim
Sevim Dagdelen: „Frauen werden sehr viele rechtliche Ansprüche verlieren“
Foto: Die Linke/Studios Kohlmeier


PK: Das seit 1874 erst in Preußen und seit 1875 im Deutschen Reich geltende gesetzliche Verbot, eine Trauung vor der standesamtlichen Eheschließung zu vollziehen, soll ab 1. Januar 2009 nicht mehr gelten. Dann soll man in Deutschland in der Kirche heiraten können, ohne vorher beim Standesamt gewesen zu sein. Man kann sogar auf den Gang zum Standesamt verzichten. Die Fraktion der LINKEN hat bei der Verabschiedung im November 2006 gegen diese Änderung des Personenstandsgesetzes gestimmt. Warum?
 
SD: Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen befürchten wir eine Verschlechterung der rechtlichen Lage vieler Frauen. Auch 50 Jahre nach der Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetzes sind Frauen in vielen Bereichen unserer Gesellschaft benachteiligt. Sie verdienen weniger, sind seltener berufstätig und damit leider oft abhängig vom Mann. Wenn die zivile von einer religiösen Ehe abgelöst wird, verlieren die Frauen sehr viele rechtliche Ansprüche wie Unterhaltszahlungen im Falle der Trennung. Ferner kommen Benachteiligungen im Erbrecht hinzu ganz zu schwiegen vom Zeugnisverweigerungsrecht. Die Abhängigkeit der Schwächeren, meist sind das ja Frauen, vergrößert sich massiv.
 

Sevim Dagdelen (rechts):
Juristisch ist die Türkei dann
fortschrittlicher
| Quelle: Die Linke 
Der andere Grund für unsere Ablehnung liegt auf einer allgemeinen Ebene. Die religiöse Ehe von der zivilen abzukoppeln heißt, die Bedeutung der zweiten zu entkräften und damit einen Schritt in Richtung Christianisierung der Gesellschaft zu machen. Wir geben die Errungenschaften der Aufklärung auf, wenn wir den Kirchen die gleichen Rechte gewähren wie dem Staat. Deshalb ist dies eher ein Rollback.
 


PK: Welche Wirkung hatte das Nein der LINKEN und der Grünen zu dieser Gesetzesnovellierung Ende 2006 in der Öffentlichkeit?


SD: Gar keine. Die Gesetzesinitiative ist bereits 2005 unter Rot-Grün im Kabinett beschlossen worden. Die Große Koalition nahm sich der Sache an. Es gab auch keine tatsächliche Debatte im Bundestag. Die Reden wurden bei der Ersten Lesung aufgrund der späten Uhrzeit zu Protokoll gegeben und die Schlussabstimmung erfolgte ohne Debatte. Routine im Bundestag sozusagen. Deshalb hat sich auch die Presse nicht dafür interessiert.
 
PK: Als Otto von Bismarck damals die Zivilehe vor der kirchlichen Trauung zur Pflicht machte, haben die deutschen Bischöfe heftig protestiert. Welche Motive vermuten Sie heute hinter dieser Gesetzesänderung im Sinne der Bischöfe des 19. Jahrhunderts? Haben sich nach mehr als 130 Jahren schließlich deren Nachfolger bei Bundesregierung und Parlamentsmehrheit durchgesetzt? Und gab es andere Gründe zur Novellierung des Gesetzes? Wer hat einen Vorteil davon? Immerhin ist ja die FAZ in einem Artikel vom 10. Juli richtig zufrieden damit, wenn sie schreibt, es sei „ein großes Datum, dass es erstmals seit 1875 christliche Ehen ohne staatlichen Segen geben wird“.
 
SD: Natürlich freuen sich viele Kirchenkreise über die Gesetzgebung. Ehen ohne staatlichen Segen stärken die Kirchen. Für einen wie Papst Benedikt ist das neue Gesetz ein Geschenk des Himmels. Er ist ein offener Gegner des Laizismus. Wie im Islam gibt es auch im Christentum Kreise, die die Religion als politisches Instrument nutzen wollen. Die Kreuzfahrer-Rhetorik eines George W. Bush ist nur ein Beispiel dafür.
 
Deutschland hat ein Problem mit der Trennung von Staat und Kirche. Als Linke fordern wir einen strikten Laizismus. Noch immer treibt der Staat Steuern für die Kirche ein, gibt Bildungsaufgaben an sie ab und behandelt die Religionen ungleich. Das neue Eherecht muss nicht zuletzt deswegen in diesem Zusammenhang bewertet werden.
 
PK: Sie sind Vizevorsitzende der Deutsch-Türkischen-Parlamentariergruppe im Bundestag. Gilt man in der Türkei als verheiratet, wenn man sich nur in der Moschee trauen lässt? Oder muss man dort, wie zurzeit (noch) in Deutschland vorher zum Standesamt gehen?
 
SD: Eine Trauung in der Moschee ist die sogenannte Imam-Ehe, die vor einem islamischem Würdenträger, dem Imam, geschlossen wird und für gläubige Muslime verbindlich ist. Die Imam-Ehe ist eine in der muslimischen Welt verbreitete und durch das islamische Recht legitimierte Form der Eheschließung. Gerade in den ländlichen traditionell geprägten Kreisen der Türkei hat die Imam-Ehe ihre Bedeutung bewahrt. Nach staatlichem türkischen Recht hat sie aber keinerlei Rechtwirkung, denn mit der Westorientierung des türkischen Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk und den gesetzlichen und kulturellen Umbrüchen wurde die religiöse Eheschließung, die „Imam-Ehe“ bereits 1923 abgeschafft.

Allerdings werden in regelmäßigen Abständen die Imam-Ehen durch Amnestiegesetze in der Türkei legitimiert. Nichtsdestotrotz muss ich sagen: Juristisch sehe ich die Türken als fortschrittlicher an, sollte die neue Regelung in Deutschland in Kraft treten.

auf einer Demo
Auf einer Frauendemo gegen den Afghanistan-Krieg
Quelle: Die Linke


PK: Was sagen die Imame in Deutschland zu diesem neuen Gesetz?
 
SD: Der Zentralrat der Muslime hat sich für die Beibehaltung des Heiratsrechts ausgesprochen. Er ruft Gemeinden und Verbände auf, eine religiöse Hochzeit nur in Verbindung mit einer standesamtlichen Trauung zu feiern. Andere Verbände haben sich meines Wissens noch nicht geäußert. Man kann aber davon ausgehen, dass viele Imame erfreut sind. Das neue Gesetz gibt ihnen neue Legitimation und stärkt ihre Stellung.
 
PK: In diesem Zusammenhang hat ja die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), die muslimischen Verbände aufgefordert, bei der Verhinderung von Vielehen und Zwangsverheiratungen mitzuwirken. „Mir ist vor allem wichtig, dass Frauen in der Ehe rechtlich abgesichert sind“, sagte sie der taz. Nur eine staatlich beurkundete Ehe biete Frauen ausreichenden Schutz. Gelten negative Folgen des neuen Gesetzes wirklich nur für muslimische Frauen, wie auch die türkischstämmige Frauenrechtlerin Seyran Ates meint, wenn sie der taz sagt: „Die Imam-Ehe ist dann legal.“ Das öffne der Zwangsheirat „Tür und Tor“. Oder hat das möglicherweise auch Auswirkungen in christlichen Ehen?
 
SD: Es ist doch wirklich lächerlich von Frau Böhmer, einen Aufruf Richtung Muslime zu starten. Wenn sie es ernst meint, sollte sie öffentlich an die Bundesregierung appellieren. Nicht die muslimischen Verbände machen die Gesetze, sondern die Regierungsparteien. Natürlich werden auch nicht nur muslimische Ehen betroffen sein. Das Problem ergibt sich daraus, dass Frauen sozial meist schlechter gestellt sind als Männer. Wenn Ehen nur religiös geschlossen werden, bedeutet das eine Benachteiligung der Frauen. Sie haben dann bei einer Trennung beispielsweise keine umfassenden Unterhaltsansprüche. Das Problem um das Ehegesetz ist also nicht ein Problem des Verhältnisses von Staat und Kirche, sondern ein soziales.
 
PK: Wenn Sie Bundeskanzlerin wären, was würden Sie an dem Gesetz ändern?
 
SD: Ich würde die Regelung zurücknehmen. (PK)
 

Online-Flyer Nr. 155  vom 16.07.2008



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