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Literatur
Buch-Rezension: „30 Tage“ von Wolfgang Ehmer
In einem anderen Leben wären es Fahrscheine gewesen
Von Christian Breuer

„In einem anderen Leben wären es Fahrscheine gewesen...“, sagte Rosalie Stunzecz, Gefangene im KZ Mechelen, ahnungsvoll, als sie ihre Transportnummer entgegennimmt. Wie nur selten fügt sich in einem zeitgeschichtlichen Roman ein zentraler Satz, der eine ganze Haltung und die beschriebene unheilvolle Epoche charakterisiert, so treffend in die Erzählung wie in diesem Ausspruch. „30 Tage“ heißt Wolfgang Ehmers 280 Seiten starkes Werk, das sich der Fallstricke einer Verbindung von realen Ereignissen zur Zeit der Nazidiktatur und dem „Eintauchen“ in Romanfiguren und ihr Denken und Fühlen zu jeder Zeit bewusst ist.

Alle Erzählstränge steuern zu jener Nacht des 19. April 1943 hin, in der es schließlich gelingen sollte, einen Zug aus dem belgischen Mechelen in Richtung Auschwitz zu stoppen. In eine Romanhandlung eingebunden, ist dies die einzige verbürgte Aktion, bei der Gefangene aus einem Deportationszug befreit wurden.

Kernfiguren der Erzählung sind die Initiatoren Jean, George (genannt „Youra“) und Robert, drei belgische junge Männer, und der Leser wird Zeuge ihrer Pläne und Vorbereitungen. Ebenso hat man Teil an ihrem Leben und bekommt eine plastische Vorstellung von der Zeit deutscher Besatzung in Belgien. Als Teil des Geschehens werden viele weitere Personen eingeführt. Ein großer Teil der Handlung spielt in Brüssel, und dabei öffnet sich ein ganzer Kosmos, bei dem das Vorzeichen „Mikro-“ eine grob fahrlässige Untertreibung darstellte. Als hilfreich erweist sich das von Wolfgang Ehmer angefügte Personenregister, ein Anhang mit namentlich 55 Einträgen.

Was bei dieser Fülle an Figuren, die für eine Zeit in gemeinsame Schicksale hineingeschrieben sind, erstaunt: Die Erzählung schweift an keiner Stelle ins Kolportagehafte ab. Das wahrhaftig Banale, das nicht dicht am zeitgeschichtlichen Topos verhaftet ist, wird konsequent gemieden. 

Ehmers „30 Tage“ (einzelne Tagesausschnitte, die innerhalb der Jahre 1940 bis 1943 beschrieben sind) können als gelungenes Beispiel, wenn nicht als Lehrstück gelten, wie man es machen kann: am täglichen Mitleben und -leiden und an kleinen Freuden der Romanfiguren eine ganze Zeit erfahrbar zu machen.

holocaust gefangener junge mit erhobenen händen
                                                
Immer wieder werden die realen Verhältnisse gekonnt eingebunden. So zeigt sich beispielsweise die faschistische Geisteshaltung in ihrer ganzen zynischen Ungeheuerlichkeit, wenn für den „Arbeitseinsatz“ der Häftlinge, die „im Reich“ gebraucht werden sollten, auf verherrlichenden Propagandaplakaten geworben(!) wurde.

Gleichsam magenumdrehend wird es, wenn ein Zwangsarbeiter in scheinbarer Nebensächlichkeit mit der Aufgabe bedacht ist, das Stroh auf dem Boden der Viehwaggons, die für den Transport nach Auschwitz bereitstehen, zu verteilen (das ist durchaus bekannt, doch darf der Leser an dieser Stelle neu erschrecken).

An ein Verhör des jungen Jean, der mit seiner Theatergruppe ins Visier der Gestapo gerät, werden Anspielungen auf Personen der Zeitgeschichte gleichsam angedockt: Profiteure des Systems wie der doppelköpfige Gründgens, Regisseur und Akteur von Goebbels’ Gnaden, oder Reichs-Starschauspieler Heinrich George. Bereichert werden Ehmers Lesewelten auch durch allzu bereite belgische Kollaborateure und unter deutscher Führung begünstigte Spitzel (sogenannte „Jacques“) innerhalb der Brüsseler jüdischen Gemeinschaft.

Geschichtliche Vorgänge bekommen ein Gesicht – beispielsweise, wenn der Arbeiter Willem sich in die Kollegin Chaja Cieworsky verliebt und ihr zu einem Versteck auf einem Bauernhof verhilft. Oder wenn Chaim Abraham, Vertreter der „Vereinigung der Juden in Belgien“ und zu allen Zeiten zuvor respektiertes Mitglied der belgischen Gesellschaft, zuerst nicht das ganze Ausmaß der von Nazideutschland ausgehenden Repressalien erkennen will.

„Verladestation" auf dem Weg ins Vernichtungslager
„Verladestation" auf dem Weg ins Vernichtungslager

Mit gedanklichem Innenleben werden ebenfalls deutsche Besatzerfiguren ausgestattet, doch verliert Wolfgang Ehmer nie die eigentliche Geschichte und ihr Anliegen aus den Augen. Gerade hierdurch – und nicht in Datenfülle und einem Sog der Banalisierung des erstickter Geschichte Grauens (wie in „Der Untergang“) – beweist Ehmer seine langjährige und sorgfältige Beschäftigung mit dem Thema. Auch die Brutalität hat ein Gesicht.

Eine Art galgenhumorig-kuriose Detailtreue zeigt „30 Tage“, wenn die Herstellung eines gefälschten Ausweises für den Untergrund bis zum letzten Abheben der Papierschicht mit einer Pinzette geschildert wird. (Das lädt nahezu zur Nachahmung ein, aber wird wohl leider durch „fortgeschrittene“ Technik unmöglich gemacht). Ebenso fundiert zeigt sich der Autor, wenn es an Überlegungen zum Werkzeug geht, mit dem die Waggons aufgebrochen werden können, und der Leser ist zu jeder Zeit mitten im Geschehen ist. Die handelnden jungen Männer, die sich in praktischer Entschlossenheit dem herrschenden Unrechtsregime entgegenstellten, lassen alles verdichten: zu einer rundum spannenden und auf intelligente Weise Zeitgeschehen vermittelnden Geschichte.

Kurzum: Wolfgang Ehmers „30 Tage“ sind höchst lohnenswert – selbstverständlich zum selbst Erlesen! Daher, anstatt eines längeren Leseproben-Happens ein kurzes Schlusswort aus einer „Normalität“ des von Grund auf aus dem Rahmen des Vorstellbaren geratenen „Alltags“:

Mentale Dispositionen, die lange Teil eines Dienstverständnisses hierzulande waren und wohl zum Teil immer noch sind, wurden von Ehmer in wenige Worte gefasst:

    „Es erstaunte Chaim immer wieder, wenn er die Akribie in der        
    bürokratischen Ordnung beobachtete, mit der die Deutschen alle    
    Vorgänge, die eigentlich auf Raub und Beute basierten, in gesetzlich
    legitimierte Formen von Listen und Karteikästen pressten, und er war sich
    fast sicher, dass die Subalternen an ihren Schreibtischen ihre Arbeit ohne
    das geringste Unrechtsbewusstsein verrichteten.“
(S.158)

Wolfgang Ehmer 30 tage roman van-aaken verlag    
Der Roman basiert auf realen Ereignissen: der Befreiungstat von Jean Franklemon, Youra Livchitz und Robert Mastriau. 231 Deportierte konnten aus dem Zug-Konvoi fliehen, 23 kamen dabei ums Leben. (CH)



Wolfgang Ehmer
„30 Tage“
Erschienen im Van Aaken Verlag,
Köln 2008.
14,95 Euro
ISBN 978-3-938244-16-6


Zum Weiterlesen: www.stern.de

Link zur Veröffentlichung:
www.van-aaken-verlag.de     


Wolfgang Ehmer studierte Ökonomie, Politik und Pädagogik in Berlin. Mittlerweile lebt und arbeitet er in Köln. Ehmer ist als Lehrer in der Erwachsenenbildung tätig und beschäftigte sich viele Jahre mit dem Nationalsozialismus.
„30 Tage“ ist sein erster Roman. Wir dürfen jetzt schon auf seinen zweiten gespannt sein, der mittlerweile in Vorbereitung ist.


Online-Flyer Nr. 147  vom 21.05.2008



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