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Inland
Wie sich die Bertelsmann-Stiftung um die „EU-Sicherheit” sorgt
Die Massen führen
Von Hans Georg

Der einflussreichste private Polit-Thinktank der Bundesrepublik verlangt eine umfassende Entmachtung der kleineren EU-Staaten auf dem Gebiet der Außen- und Militärpolitik. Dies geht aus einem soeben veröffentlichten Strategiepapier der Bertelsmann-Stiftung hervor. Das Papier, das die künftige globale Machtentfaltung „Europas” befördern soll, enthält weitreichende Vorschläge für die Formierung der EU, darunter die Forderung, einen „EU-Sicherheitsrat“ zu installieren.
Gezielte Propagandamaßnahmen


Diesem Gremium, das die gesamte Sicherheitspolitik der EU zu überwachen habe, sollen nur die sieben Länder mit dem größten Militärhaushalt dauerhaft angehören. Die restlichen Staaten hätten sich dagegen mit einer befristeten, rotierenden Mitgliedschaft zufrieden zu geben, heißt es in dem Bertelsmann-Dokument. Es sieht außerdem umfangreiche Aufrüstungsprogramme vor und strebt machtpolitische Konkurrenzfähigkeit gegenüber den USA an. Weil die Bevölkerung der EU-Staaten gegenwärtig noch der Armutsbekämpfung den Vorrang vor globaler Machtentfaltung gibt, empfehlen die Autoren des Papiers gezielte Propagandamaßnahmen und entschiedene „Führung”.

Das Strategiepapier, das die Firmenstiftung des Medienkonzerns Bertelsmann unter dem Titel „Beyond 2010 - European Grand Strategy in a Global Age” veröffentlicht hat, ist von der sogenannten Venusberg-Gruppe erstellt worden. Bei dieser handelt es sich um einen Expertenzirkel, der seit 1999 kontinuierlich tätig ist - ebenfalls auf Initiative der Bertelsmann-Stiftung, die als mit Abstand einflussreichster privater Thinktank der Bundesrepublik gilt.[1] Zahlreiche Konzept- und Strategiepapiere der Stiftung sind in den vergangenen Jahren zur Grundlage für politische Maßnahmen Berlins und Brüssels geworden. In der „Venusberg-Gruppe” arbeiten sechs Experten der Stiftung gemeinsam mit sieben weiteren Wissenschaftlern und Politikern aus unterschiedlichen europäischen Staaten an Blaupausen für die künftige EU-Außen- und Militärpolitik. Das jetzt vorliegende Dokument ist bereits ihr drittes umfassendes Strategiepapier.

Jetzt oder nie

Mit der Veröffentlichung will die Bertelsmann-Stiftung eine Intensivierung der Debatte um die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union erreichen. „Jetzt oder nie” müsse die Kooperation forciert werden, heißt es in dem Papier - sonst stünden „dem europäischen Bürger akute Gefahren” bevor. Jedes Kapitel endet alarmistisch mit dem Satz: „Die Uhr tickt”. Tatsächlich ist „Beyond 2010” nicht der Vermeidung von Gefahren gewidmet, sondern vielmehr der Frage, wie sich die globale Machtposition der EU vor dem weiteren Aufstieg Chinas und angesichts einer momentanen Schwäche der Vereinigten Staaten rasch befördern lässt.[2]

Kein USA-Anhang mehr

Wie die Autoren urteilen, sind die Grundlagen des transatlantischen Verhältnisses - die Führung der USA in der Zeit des Systemkonflikts - „nicht länger gültig”. Bislang sei die europäische Politik „wenig mehr als ein Anhang zur amerikanischen Strategie” gewesen. Nun aber sei „Multilateralismus” angesagt. Die EU müsse „ein modernisiertes transatlantisches Verhältnis” mit „strategischen Optionen” entwickeln, fordert die „Venusberg-Gruppe”. „Einfach gesagt: Die Amerikaner müssen offen für die Aussicht auf Partnerschaft sein; die Europäer müssen die Fähigkeiten besitzen, dies auch zu verdienen.”

Geheimdienst-Fähigkeiten

Zu diesen Fähigkeiten gehört den Autoren zufolge an erster Stelle eine außenpolitisch stark gestraffte und militärpolitisch hochgerüstete EU. Brüssel benötige nicht nur einen Außenminister, wie ihn der zur Ratifizierung stehende EU-Vertrag jetzt vorsieht [3], sondern außerdem einen Auswärtigen Dienst sowie „mächtige Geheimdienst-Fähigkeiten”. Die „Venusberg-Gruppe” schlägt darüber hinaus die Installierung einer „Sicherheits- und Verteidigungs-Gruppe” unter dem Vorsitz des EU-Außenministers vor. Die Gruppe solle die Kontrolle über die gesamte Außen- und Militärpolitik des Bündnisses übernehmen und sich perspektivisch in einen „EU-Sicherheitsrat” transformieren.

Entmachtung kleinerer EU-Staaten

Dabei wird, so heißt es in dem Papier, „ein neues Gleichgewicht zwischen Souveränität und Sicherheit” zu etablieren sein. Damit ist de facto nichts anderes als eine weitgehende Entmachtung kleinerer EU-Staaten gemeint. Wie die Bertelsmann-Experten vorschlagen, sollen in der „Sicherheits- und Verteidigungs-Gruppe” nur die sieben Länder mit dem (in absoluten Zahlen) größten Militärhaushalt ständig vertreten sein; dies sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, die Niederlande sowie Polen („leadership group”). Die restlichen EU-Mitglieder sollen jeweils befristet einen rotierenden Sitz in dem Gremium erhalten. In der Zwischenzeit sind sie für die Leitung subalterner „aufgabenorientierter Arbeitsgruppen” vorgesehen, die sich mit „spezifischen Sicherheitsthemen” wie „Klimawandel” oder „Bevölkerungswachstum” zu befassen haben.

Spezialkräfte und Raketenabwehr

Eine Einschränkung nationaler Souveränitätsrechte sieht die „Venusberg-Gruppe” auch für militärische Belange vor. Demnach sollen zur Entlastung der führenden EU-Militärmächte die kleineren Mitgliedstaaten für die „gemeinsame Finanzierung” künftiger Truppeninterventionen herangezogen werden. Die Europäische Verteidigungsagentur müsse weitere Kompetenzen erhalten, um die Aufrüstung der EU-Länder nach zentralen Vorgaben steuern zu können, heißt es in dem Papier. Vorgesehen sind Waffen nahezu aller Gattungen - von Präzisionsmunition über unbemannte Kampfflugzeuge und im Weltraum stationiertes Kriegsmaterial bis zur Raketenabwehr. „Europäische Spezialkräfte sind wesentliche Elemente für Anti-Terror-Operationen”, heißt es weiter, auch die Kommandostrukturen müssten weit stärker als bisher zentralisiert und schon bald in einem „EU Operational Headquarters (EUOHQ)” gebündelt werden. Der „Venusberg-Gruppe” zufolge ruft ihr Strategiepapier „ganz gewiss nicht nach einem militaristischen Europa” - eine Bemerkung, die offenbar als Hinweis auf noch weitergehende Planungen in militärpolitischen Fachzirkeln verstanden werden muss.

Öffentliche Meinung

Den Autoren ist nicht verborgen geblieben, dass ihre Forderungen gegenwärtig von der Bevölkerung nur unzureichend unterstützt werden. So sprechen sich Umfragen zufolge rund 43 Prozent aller Menschen in der EU dafür aus, dem Kampf gegen Arbeitslosigkeit und Armut politischen Vorrang zu geben. Nur fünf Prozent hingegen sehen die weltweite Machtentfaltung der EU positiv. „Europas politische Führer müssen gemeinsam die europäische Bevölkerung überzeugen, dass es jetzt an der Zeit ist, sich angemessen auf eine sichere Zukunft vorzubereiten, und dass das Anstrengung, Engagement und Geld kosten wird”, schreibt die „Venusberg-Gruppe”. Bislang „scheinen zu viele von den Führern Europas bereit, der öffentlichen Meinung zu folgen”. Stattdessen müsse man „sie führen”.

„Beyond 2010” schließt inhaltlich nahtlos an vorangegangene Strategiepapiere der Bertelsmann-Stiftung und des erst kürzlich aus ihr ausgeschiedenen Politikwissenschaftlers Werner Weidenfeld an. Diese skizzieren bereits seit Jahren den Aufstieg der EU: „Die Supermacht Europa”, so hieß es schon im Mai 2003, „verabschiedet sich endgültig von der Idee einer Zivilmacht und bedient sich uneingeschränkt der Mittel internationaler Machtpolitik”.[4] Weidenfeld, unter dessen Ägide diese Papiere entstanden, ist erst kürzlich erneut zum einflussreichsten Politikberater Deutschlands erklärt worden.[5] (PK)


[1] s. dazu Umsturz, neue Folge, Höchste Ambitionen, Teilnehmer des Internationalen Bertelsmann Forums 2006, Nachkriegsballast und Netzwerk der Macht - Bertelsmann
[2] Hier und im Folgenden: The Venusberg Group: Beyond 2010 - European Grand Strategy in a Global Age; Gütersloh, July 2007
[3] s. auch Richtungsentscheidung
[4] s. dazu „Untergang oder Aufstieg zur Weltmacht?”, „Supermacht Europa” und European Way of Life
[5] Nummer Eins der Politikberatung; www.cap-lmu.de/aktuell/meldungen/2007/politikberater.php

www.german-foreign-policy.com dokumentiert Auszüge aus „Beyond 2010”

Online-Flyer Nr. 130  vom 23.01.2008



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