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Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

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Arbeit und Soziales
Gerade Politiker reden das Problem gern durch schiefe Vergleiche schön
Die „Normalität“ der Kinderarmut
Von Christoph Butterwegge

Zum Ende dieses Jahres sorgte kurzzeitig der Kinderreport des christlichen Hilfswerks „World Vision“ für Aufsehen. Die Studie machte nicht nur deutlich, dass Kinder aus armen Familien über weit schlechtere Chancen verfügen als ihre besser gestellten Altersgenossen, sondern auch, dass sie sich ihrer Chancenlosigkeit sehr früh bewusst sind.
Tatsächlich glauben heute schon viele Acht- bis Elfjährige nicht mehr an einen möglichen sozialen Aufstieg, sondern nur noch an eine Zukunft mit dem Namen „Hartz IV“. Von einer sorglosen Kindheit kann also für immer größere Teile der Gesellschaft immer weniger die Rede sein.1] Dennoch war Kinderarmut über Jahrzehnte kein Thema, das die deutsche Öffentlichkeit nennenswert bewegte. Höchstens in der Vorweihnachtszeit oder im Sommerloch nahmen die Massenmedien der Bundesrepublik davon überhaupt Notiz. Hierfür gibt es mehrere Gründe.


Prof. Dr. Christoph Butterwegge aus Köln

Erstens waren in der Bundesrepublik lange Zeit eher ältere Menschen, hauptsächlich Rentnerinnen, von Unterversorgung betroffen. Erst gegen Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre etablierte sich der Begriff der „Infantilisierung der Armut“ (Richard Hauser), weil inzwischen junge Menschen zu der am häufigsten und am stärksten von Armut bedrohten Altersgruppe geworden waren.

Hinzu kommt zweitens, dass unser Armutsbild weiterhin von absoluter Not und Elend in den Entwicklungsländern geprägt ist, was viele Bürger und Bürgerinnen daran hindert, Kinderarmut „vor der eigenen Haustür“ auch nur zu erkennen. Außerdem glauben viele irrtümlicherweise, Kinderarmut in Kiel oder Konstanz sei weniger problematisch als jene in Kalkutta. Dabei kann

Armut in vermeintlichen Überflussgesellschaften sogar erniedrigender und bedrückender sein, weil vor allem Kinder und Jugendliche neben spürbarer materieller Not einem massiven Druck der Werbeindustrie ausgeliefert sind. Diese suggeriert ihnen, nur durch das Tragen teurer Markenkleidung oder den Besitz hochwertiger Konsumgüter mit ihren Spielkameraden und Mitschülerinnen „mithalten“ zu können.

Empathie und Solidarität erfahren von Armut betroffene Kinder deshalb bei uns oft in einem geringeren Maße, als dies in Regionen der Fall ist, wo kaum jemand ein großes Vermögen besitzt. Gerade Politiker reden das Problem der Kinderarmut gern durch schiefe Vergleiche schön. Typisch dafür ist etwa eine Äußerung jüngeren Datums von Altkanzler Helmut Schmidt: „Manches, was man heute als Armut beklagt, wäre in meiner Kindheit beinahe kleinbürgerlicher Wohlstand gewesen.“2]

Drittens sind jedoch sogar Erzieher, Lehrerinnen und andere Pädagogen aufgrund ihrer Mittelschichtzugehörigkeit manchmal nicht in der Lage, die Probleme von Kindern aus Unterschichtfamilien zu erkennen, die in einem anderen, weniger bürgerlich geprägten Stadtteil oder einem „sozialen Brennpunkt“ wohnen. Ein vierter und maßgeblicher Grund, warum Armut bis heute leicht „übersehen“ wird, liegt schließlich in dem jahrhundertealten Versuch, die Schuld dafür den Betroffenen in die Schuhe zu schieben, welche „faul“ seien, „saufen“ oder „nicht mit Geld umgehen“ könnten.


Kinder wehren sich 2005 gegen Einsparungen ...

Armut löst in einem Land, das von seinen Meinungsführern immer noch gern als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) mit möglichem „Fahrstuhl-Effekt“ (Ulrich Beck) nach oben gesehen wird (obwohl diese Konzepte aus den 50er bzw. 80er Jahren stammen), bis heute ideologisch motivierte Abwehrreflexe aus: Regelmäßig wird der einzelne Betroffene für seine Misere verantwortlich gemacht. Im Grunde erwartet man von den Armen, dass sie sich nach der Münchhausen- Methode „am eigenen Schopf“ aus ihrer Lage herausziehen, und ignoriert dabei, dass es dafür sinnvoller Angebote der Sozial-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik bedarf, die es jedoch immer weniger gibt.


Mit der Armut und den Armen hat deshalb bis heute eigentlich kaum jemand gern zu tun, weil selbst der Umgang mit dem Thema stigmatisiert und die Betroffenen nach ihren negativen Erfahrungen eher selten zu denjenigen Menschen gehören, denen ihr offenes Wesen Freunde und Sympathie einbringt.

Vom Tabu- zum Modethema

Dennoch avancierte Kinderarmut in jüngster Zeit von einem Tabu- fast zu einem Modethema, das immer wieder Schlagzeilen macht. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Im Gegensatz zu arbeitslosen Erwachsenen oder gar Bettlern und Obdachlosen gelten Kinder (noch immer) als „würdige Arme“. Man kann ihnen schließlich persönlich die Verantwortung an ihrer Not schlecht zuweisen, sondern blickt eher auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Besonders alarmierend wirkten deshalb Meldungen, wonach von den 11,44 Millionen Kindern unter 15 Jahren im März 2007 fast 1,93 Millionen in Hartz-IV-Haushalten lebten. Zählt man die übrigen Betroffenen hinzu und berücksichtigt zudem die so genannte Dunkelziffer – das heißt die Zahl der eigentlich Anspruchsberechtigten, die aus Unwissenheit, Scham oder anderen Gründen keinen Antrag auf Sozialhilfe bzw. Arbeitslosengeld II stellen –, leben etwa 2,8 bis 3 Millionen Kinder auf oder unter dem Sozialhilfeniveau, also ungefähr jedes vierte Kind dieses Alters.3] Verschärft wird das Problem noch durch regionale Disparitäten (Ost-West und Nord-Süd-Gefälle).4] So kamen in Görlitz 44,1 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren aus Hartz-IV-Haushalten, während es im bayerischen Starnberg nur 3,9 Prozent waren. Aber auch in der westdeutschen Großstadt Bremen gibt es Ortsteile, in denen über 60 Prozent aller Kinder zu den Sozialgeldbeziehern gehören und damit schon „von Hause aus“ über geringe Bildungschancen und berufliche Perspektiven verfügen. Immer wahrscheinlicher wird deshalb, dass sich Armut „sozial vererbt“ und intergenerationell verfestigt.5]

Auf dem Höhepunkt des Konjunkturaufschwungs im Frühjahr 2007 sank zwar die Arbeitslosigkeit, die Armut von Kindern nahm jedoch weiter zu. Gleichwohl haben sich Fachwissenschaft, Massenmedien und etablierte Parteien bis heute nicht ernsthaft mit dem Problem auseinander gesetzt, dass ein zunehmender Teil der Bevölkerung sozialer Exklusion unterliegt, während eine Minderheit immer größeren Reichtum anhäuft, unter maßgeblicher Beteiligung der Regierungspolitik (Senkung der Gewinnsteuern, Entlastung der Unternehmen, Steuergeschenke an Kapitaleigentümer). Es passt ins Bild, dass die Große Koalition erst kürzlich beschlossen hat, den Kindern großer Familienunternehmer (wie etwa Albrecht, Burda, Oetker oder Quandt) unter bestimmten Voraussetzungen die Erbschaftsteuer auf 85 Prozent des Betriebsvermögens zu erlassen. Dagegen werden Hartz-IV-Familien besonders hart von jeder Erhöhung der Mehrwertsteuer getroffen, weil sie ihr gesamtes Einkommen in den Alltagskonsum stecken müssen. Hier liegt denn auch eine der Hauptursachen für die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich. Von dieser sozialen Spaltung gehen akute Gefahren für den inneren Frieden und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft
aus.



... im Kölner Sozialhaushalt | Fotos: arbeiterfotografie

Die ideologische Entsorgung der Armut

In der öffentlichen Diskussion wie in der Fachliteratur werden Ursache und Auslöser von Kinderarmut allerdings nach wie vor häufig verwechselt. Während strukturelle Zusammenhänge und gesellschaftliche Verhältnisse, unter denen Menschen leben und Kinder aufwachsen müssen, die Voraussetzungen für Pauperisierungs- und soziale Polarisierungsprozesse bilden, wird die konkrete Verarmung erst durch bestimmte Ereignisse ausgelöst oder gelangt durch diese voll zur Wirkung. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei der Tod des Familienernährers oder die Trennung vom (Ehe-)Partner schuld an der Kinderarmut. Dabei wird jedoch übersehen, dass die Eltern oder der/die Alleinerziehende in aller Regel bereits vor dem betreffenden Schicksalsschlag sozial unzureichend gesichert waren. Auch die neuerdings insbesondere in konservativen Kreisen lautstark reklamierte fehlende oder mangelhafte (Schul-)Bildung ist meist nur der Auslöser, aber nicht die Ursache materieller Not. Obgleich Bildung unersetzlich für das Wohlergehen sozial benachteiligter Kinder wie auch für die Entwicklung ihrer Persönlichkeit ist und ihr Fehlen die Armut potenziert und zementiert, eignen sich Bildung und Kultur keineswegs als Wunderwaffe im Kampf gegen die Kinderarmut.

Im Gegenteil: So wichtig bessere Bildungs- und Kulturangebote nicht nur für Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund wären, so wenig können sie allein das gesellschaftliche Problem der Armut lösen. Denn was zum individuellen Aufstieg taugen mag, versagt als gesellschaftliches Patentrezept. Wenn alle Kinder über mehr Bildung verfügten, würden sie vermutlich um die wenigen Ausbildungs- und Arbeitsplätze nur auf einem höheren Niveau, aber nicht mit besseren Chancen konkurrieren. Folglich gäbe es am Ende wieder mehr Taxifahrer mit Abitur und abgeschlossenem Hochschulstudium, aber kaum weniger Armut. Eine bessere Ausbildung erhöht zwar die individuelle Konkurrenzfähigkeit eines Heranwachsenden auf dem Arbeitsmarkt, ohne jedoch Erwerbslosigkeit und Kinderarmut als gesellschaftliche Phänomene zu beseitigen. Hierzu bedarf es nach wie vor der Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen, was die eigentlichen Nutznießer der anhaltenden Verteilungsschieflage aus naheliegenden Gründen nicht gern hören.

Armutsphänomene, Mangelerscheinungen und soziale Bedürftigkeit sind nichts Neues, sondern so alt wie die Menschheit selbst. Und auch die Kinderarmut als besonders subtile Form der Ausgrenzung und der strukturellen Gewalt gegenüber den schwächsten Gesellschaftsmitgliedern gibt es keineswegs erst seit kurzem. In einer Hochleistungsgesellschaft wie der unsrigen, die Leistung geradezu glorifiziert und mit Gehaltszulagen oder Lohnsteigerungen prämiert, ist Armut jedoch höchst funktional. Armut verkörpert nämlich nur das Pendant dessen, was der Tüchtigere und daher Erfolgreiche in des Wortes doppelter Bedeutung „verdient“. Armut ist mithin kein „Betriebsunfall“ des Globalisierungsprozesses, sondern konstitutiver Bestandteil einer kapitalistischen Marktwirtschaft. Bei der gegenwärtigen neoliberalen Restrukturierung aller Lebensbereiche nach dem Muster des Marktes fungiert Armut als willkommenes Disziplinierungsinstrument und sozialer Platzanweiser, während gleichzeitig materieller Wohlstand und privater Reichtum ein geeignetes Lockmittel bilden, das die „Leistungsträger“ zu besonderen Anstrengungen motivieren soll.6] Dass dabei immer mehr Kinder auf der Strecke bleiben, ist insofern nur ein ganz alltäglicher Kollateralschaden der kapitalistischen „Normalität“. (HDH)

Der Beitrag stammt aus der Dezemberausgabe der renommierten politischen
Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" (
www.blaetter.de).

1] Vgl.www.worldvision.de/_downloads/presse/pm_kinderstudie_25_10_06.pdf.

2] Vgl. „Die Zeit“, 18.10.2007.

3] Vgl. die Berechnung des Bremer Instituts für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ). Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit; zu den übrigen Betroffenen zählen Kinder in Sozialhilfehaushalten, in Flüchtlingsfamilien, die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz rund ein Drittel weniger als die Sozialhilfe erhalten, und Kinder von sogenannten Illegalen, die keine Transferleistungen beantragenkönnen.

4] Vgl. Christoph Butterwegge, Michael Klundt und Matthias Zeng, Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland, Wiesbaden 2005

5] Vgl. den Beitrag von Annett Mängel in dieser Ausgabe.

6] Vgl. Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 32006, S. 115 ff.; ders., Rechtfertigung, Maßnahmen und Folgen einer neoliberalen (Sozial-)Politik, in: Christoph Butterwegge, Bettina Lösch und Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2007, S. 171 ff.

Der Beitrag stammt aus der Dezemberausgabe der renommierten politischen Monatszeitschrift "Blätter für deutsche und internationale Politik" 

Eine Buchempfehlung:

Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges (Hrsg.) „Rechtspopulismus, Arbeitswelt und Armut, Befunde aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, Opladen/Farmington Hills (Verlag Barbara Budrich) 2008, 306 Seiten, ISBN-Nr. 978-3-86649-071-0, Ladenpreis: 24,90 EUR

Hängen die Wahlerfolge rechtsextremer bzw. -populistischer Parteien mit ökonomischen Krisen und sozialen Verwerfungen zusammen? Besteht zwischen der sozialen Lage von Menschen, deren Alltagserfahrungen im Beruf und ihrer Anfälligkeit für rechtsextreme bzw. -populistische Agitation und Propaganda ein Kausalnexus? Wie und weshalb knüpfen Neonazis mit wachsendem Erfolg an das Alltagsbewusstsein „ganz normaler“ Menschen an? Welche Rolle spielen in diesem Kontext der Um- bzw. Abbau des Sozialstaates, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die zunehmende Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen sowie neue Formen der Armut und sozialen Ausgrenzung? Greifen rechtsextreme bzw. -populistische Parteien die soziale Frage nur aus taktischen Gründen auf, weil sich der Neoliberalismus in einer Legitimationskrise befindet und der Zeitgeist nach links zu tendieren scheint? Oder verbirgt sich dahinter ein grundlegender, längerfristig angelegter Strategiewechsel? Wie können die politische und gewerkschaftliche Bildungsarbeit hierauf reagieren? Solche und ähnliche Fragen behandelt dieses Buch, in das Ergebnisse eines von der EU-Kommission geförderten Forschungsprojekts und empirischer Studien eingeflossen sind, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz entstanden.

Herausgeber/in: Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln; Prof. Dr. Gudrun Hentges lehrt Politikwissenschaft am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Hochschule Fulda

Bestellungen über den Buchhandel oder über Frau Reinfeld, Verlag Barbara Budrich, Stauffenbergstr. 7, 51379 Leverkusen,
Tel.-Nr. 02171/344-594; Fax: 02171/344-693;
Kontakt:
karen.reinfeld@budrich-verlag.de




Online-Flyer Nr. 129  vom 16.01.2008



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