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Aktueller Online-Flyer vom 28. März 2024  

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Krieg und Frieden
Zur Entwicklung eines europäischen Überwachungs- und Sicherheitssystems
EU: Sicherheit ohne Grenzen – Teil II
Von Rolf Gössner

Die Anschläge vom 11. September 2001 haben weltweit zu gravierenden Menschen- und Völkerrechtsverletzungen geführt – nicht nur durch die zahlreichen Terrorakte, die wir seitdem erlebten und verurteilen, sondern in weit größerem Maße durch die Art und Weise der weltweiten Terrorbekämpfung, wie sie von Regierungen und überstaatlichen Institutionen betrieben wird. Von einer Bekämpfung der Ursachen des Terrorismus ist hingegen nur selten die Rede – der „war on terror“ lässt hierfür offenbar keinen Raum. – Fortsetzung des Beitrags von Rolf Gössner aus NRhZ 119
Überwachung EU Computer
„Akte städtischer Gewalt" können Terrorismus sein
Quelle: defenselink


Weitgefasste EU-Terrorismusdefinition


Die EU hat sich inzwischen eine eigene, ja eigenwillige Terrorismusdefinition zugelegt, die den Begriff „Terrorismus“ äußerst weit fasst, anstatt ihn eng zu begrenzen.
Die Definition erfordert zwar, dass bestimmte Straftaten mit der Absicht begangen werden müssen, die „politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Strukturen“ eines Landes „zu bedrohen und stark zu beeinträchtigen oder zu zerstören“. Doch neben Mord, Entführung oder Erpressung soll schon die widerrechtliche Inbesitznahme oder Beschädigung öffentlicher Einrichtungen, Transportmittel, Infrastrukturen oder öffentlichen Eigentums ausreichen; oder aber die Beeinträchtigung oder Verhinderung bzw. Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Elektrizität oder anderen wichtigen Ressourcen, oder „Angriffe durch Verwendung eines Informa­tionssystems“ – oder auch nur die Drohung mit einer dieser Straftaten. Auch „urban violence“, also „Akte städtischer Gewalt“ können darunter fallen.

Dieser Versuch einer Terrorismusdefinition ist so weit gefasst, meint auch die britische Bürgerrechtsorganisation „Statewatch“, dass darunter selbst militante Straßenproteste, wie die in Genua 2001, fallen könnten oder Formen des zivilen Ungehorsams, wie Sitzblockaden vor Atomkraftwerken und Militärbasen, die Besetzung von Ölplattformen oder politische Streiks in Versorgungsbetrieben – denn damit würde ja die Versorgung mit wichtigen Ressourcen wie Elektrizität, Öl oder Wasser zumindest beeinträchtigt oder unterbrochen. [...]


EU-Terrorliste: Existenzvernichtung per Willkürakt


Auch die seit 2001 existierende EU-Terrorliste kann existentielle Folgen haben. In ihr sind 54 Einzelpersonen sowie 48 Organisationen aufge­führt, die als terroristisch gelten, wie etwa die linksgerichtete türkische DHKP-C, die kurdische Arbeiterpartei PKK und ihre Nachfolgeorganisationen – ungeachtet der Tatsache, dass diese in der EU längst friedenspolitische Aktivitäten entfalten – sowie die iranische Widerstandsorganisation der Volksmudjaheddin, obwohl deren Mitglieder sich in Europa weitgehend friedlich und legal verhalten und auch nicht verboten sind.

Terrorismus EU Sicherheitsgesetze
  Karikatur: Kostas Koufogiorgos

Die Terrorliste ist eine Exekutiventscheidung ohne demokratische Legitimation, die zumeist auf dubiosen Geheimdienstinformationen basiert. Ihre Zusammensetzung unterliegt keiner demokratischen Kontrolle. Rechtsschutzmöglichkeiten, wie rechtliches Gehör oder Rechtsbehelfe, sahen die EU-Verordnungen bislang nicht vor.

Ein Skandal, denn die Folgewirkungen einer Listung können für die betroffenen Organisationen und Personen zu massiven Menschenrechtsverletzungen führen: Mit Hilfe der Liste wird das Ziel verfolgt, die Betroffenen wirtschaftlich zu isolieren und politisch zu ächten; denn alle EU-Staaten sind verpflichtet, Sanktionen gegen die Betroffenen durchzusetzen. Die Folgen sind u.a. Einreiseverbote, Passentzug, Einfrieren des gesamten Vermögens, Sperrung von Konten und Kreditkarten, Einstellung von Sozialleistungen wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe; hinzu kommen staatliche Überwachungs- und Fahndungsmaßnahmen sowie staatsbürgerliche Einschränkungen. Zu den Fernwirkungen zählen die Verweigerung von Einbürgerungen und Asylanerkennungen sowie der Widerruf des Asylstatus' von Anhängern gelisteter Gruppen. [...]

 Neues Terrordelikt: Terrorist oder Freiheitskämpfer?

Schon Ende der 90er Jahre wurden die EU-Mit­gliedsstaaten mit einer „Gemeinsamen Maßnahme des EU-Rates” verpflichtet, die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in ihrem Hoheitsgebiet strafrechtlich zu ahnden, und zwar unabhängig davon, wo die Vereinigung in der EU ihre Operationsbasis hat oder ihre strafbaren Tätigkeiten ausübt. Daraus ist in der Bundesrepublik 2003 ein neuer Straftatbestand § 129b entstanden, mit dem auch Menschen bestraft werden können, die sich im Inland zwar nichts zu Schulden kommen ließen, aber mutmaßliche Mitglieder oder Unter­stützer einer terroristischen Vereinigung im Ausland sind.

Mit diesem § 129b wird also die Strafbarkeit auf angebliche Terrorgruppen im Ausland ausgedehnt – und zwar weltweit. Damit werden dann Strafverfolgungsorgane und die Justiz zu Richtern über politische Bewegungen und ihre strafrechtliche Verfolgung gemacht: Handelt es sich um eine ausländische terroristische Vereinigung oder um legitime Formen des Widerstands gegen Diktaturen oder um eine Befreiungsbewegung? Ein schwieriges Unterfangen, schließlich ist der Terrorist des einen, der Freiheitskämpfer des anderen und umgekehrt [...].

London Anschläge Übertragungswagen
King's Cross nach den Anschlägen in London
Foto: Iman


Verstärkte Sicherung der EU-Außengrenzen als Todesfalle

Wir kommen zur verstärkten Sicherung der EU-Außengrenzen. Dabei spielen die Grenzschutzagentur Frontex, ihre schnellen Eingreiftrupps und Patrouillen im Mittelmeer und Atlantik eine besondere Rolle – aber auch das stark ausgebaute Schengener Informationssystem mit seinen mehr als elf Millionen Einträgen, das als informationstechnologisches Instrument einer repressiven europäischen Migrations- und Asylpolitik dient. U.a. mit diesem Instrumentarium sowie tech­nischen Grenzsicherungsmaßnahmen soll die „Festung Europa“ gegen Flüchtlinge insbesondere aus Kriegs- und Krisengebieten und wirtschaftlichem Elend besser abgeschottet werden. Diese Abschottungsmaßnahmen kosten jährliche Tausende das Leben. [...]

Moderne Militärdoktrin: von der Verteidigungs- zur Interventionsarmee

Der Kampf gegen den Terror hat nicht nur die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik sowie zwischen Verteidigung und Intervention verschwimmen lassen, sondern hat auch sämtliche Prinzipien militärischer Beschränkung aufgeweicht und die Unterordnung unter die Regeln des Verfassungs- und Völkerrechts aufgekündigt. Das bedeutet das Ende des Konzepts vom Verteidigungskrieg, wie es nach dem 2. Weltkrieg bis Ende des Kalten Krieges für Europa, die NATO und für Deutschland zumindest dem Grundsatz nach gegolten hat.


Die NATO hat sich seit Ende des Kalten Kriegs zum weltweiten Interventionsbündnis entwickelt. Begründet wird dieses strategische Konzept mit „neuen Risiken“, die an jedem Ort der Welt die eigene Sicherheit gefährden könnten. Neben Terrorismus werden auch „regionale Krisen an der Peripherie des Bündnisses“ als Interventionsgründe genannt, sowie die „Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen“ in anderen Ländern.
Europa Grenzen
Foto: Ute Kurzbein | Umbruch
Eine ganz ähnliche Entwicklung ist in Europa zu verzeichnen, das sich im Rahmen der NATO, aber auch parallel dazu und in Abgrenzung zu den USA zu einer militärischen Großmacht entwickelt. Auch hier das Bemühen um weltweite Krisen- und Out-of-area- Einsätze sowie militärische Sicherung europäischer (Wirtschafts-)Interessen. Mit der vorerst gescheiterten EU-Verfassung sollten die Mitgliedstaaten zur Aufrüstung ihrer Armeen verpflichtet werden – Aufrüstung also als Verfassungsziel: ein einzigartiger Vorgang in der europäischen Verfassungsgeschichte.


Schlussbemerkung

Zwar garantiert die Europäische Wirtschaftsunion einerseits die Freiheit des Waren-, Kapital-, Arbeitskräfte-, Dienstleistungs- und Datenverkehrs; andererseits werden mit etlichen der genannten Maßnahmen die individuellen Freiheiten der Bürger zunehmend bedroht, nicht zuletzt durch den Aufbau eines weitgehend unkontrollierten europäischen Überwachungs- und Kontrollsystems und eines multi­nationalen polizeilichen und geheimdienstlichen Netzwerkes. Damit können verdächtige Einzelpersonen und als Sicherheitsrisiken geltende Personengruppen zahlreicher Länder erfasst und verfolgt werden. Das bedeutet auch die Tendenz zum gläsernen Bürger statt zu einer gläsernen EU-Ver­waltung, die stattdessen immer undurchsichtiger wird. Die ökonomische Freizügigkeit geht, so scheint es, auf Kosten der Menschenrechte eines nicht unerheblichen Teils der europäischen Bevölkerung – insbesondere auf Kosten von Menschen, die in diesem Wirtschaftseuropa nicht mithalten können, politisch unerwünscht sind oder als ökonomisch nicht „nützlich“ gelten.


Eines wird, so denke ich, aus dieser skizzierten europäischen Entwicklung deutlich: In zunehmendem Maße müssen die europäische und die nationale Ebene der Innen-, Justiz- und auch Militärpolitik gemeinsam gedacht werden – hier in Luxemburg, aber auch in Deutschland und anderswo. Und es ist hoffentlich auch deutlich geworden, das eine liberale und demokratische Gesellschaft und ein ebensolcher Rechtsstaat und Staatenbund sich nicht allein auf Symptome des Terrors und auf Symptomverhinderung konzentrieren dürfen – also nicht allein auf polizeiliche und geheimdienstliche oder gar militärische Terrorbekämpfung. Sondern wir müssen das verengte vorherrschende, angstbesetzte und reflexgesteuerte Sicherheitsdenken aufbrechen. Wir brauchen einen anderen, einen sozialen, friedens- und umweltpolitischen Sicherheitsbegriff, der auch nachhaltig an den zugrunde liegenden Ideologien, an Ursachen und Bedingungen von Terror, Gewalt und Kriminalität ansetzt, von denen aller­dings kaum noch die Rede ist.

Festung Europa
Foto: Mike/ks/Ute Kurzbein | Quelle: Umbruch

Und wir brauchen starke nationale und europäische Protest- und Widerstandsbewegungen, die, über Europa hinaus denkend, für eine andere, für eine gerechtere und friedliche Welt kämpfen – also eine Welt ohne Ausbeutung, Armut und Krieg. Und nur eine solche Welt kann sowohl dem internationalen Terror als auch dem staatlichen und multinationalen Gegenterror den Nährboden entziehen. (YH)

Online-Flyer Nr. 120  vom 07.11.2007



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