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19. Juli 1995 - Wahrheitskommission in Südafrika - Zeitworte Folge 5
Vergangenheitsbewältigung
Von Birgit Morgenrath
In verfallenen Dorfschulen, in schäbigen Hallen schwarzer Townships und in feinen Sitzungssälen der Großstädte haben die Wahrheitssucher unter dem Vorsitz von Erzbischof Desmond Tutu zunächst nur zugehört. Die Köpfe in die Hände gestützt haben sie den traumatischen Erlebnissen der Opfer und Angehörigen gelauscht; immer aufmerksam, manchmal zutiefst erschüttert. Rund 22 000 Menschen haben der Kommission ihre Qualen erzählt: von Mord und Folter durch die Apartheid-Schergen, von Haft und Verbannung, von Verfolgung und Erniedrigung.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de
So konnte ein Teil der Wahrheit über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch das südafrikanische Apartheidregime aufgedeckt werden. Ganz im Sinne des Gesetzes. Gesellschaftliche Gewissenserforschung sollte eine gemeinsame Verständigung herstellen über das, was geschehen war. Denn die Kommissare und ihre Ermittler verhörten auch die Täter. Die stellten sich freiwillig, um einer Strafe zu entgehen. Diese Regelung war das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Denn das weiße Apartheidregime hatte vor seinem Abtritt zunächst eine Generalamnestie für seine Handlanger gefordert und andernfalls mit Bürgerkrieg gedroht. Die schwarzen Verhandlungsführer setzten den Kompromiss durch, dass nur der, der ein vollständiges Geständnis über politisch motivierte und nicht bloß kriminelle Taten ablegte, straffrei ausgehen konnte. Das hieß: Die Wahrheit war ihnen wichtiger als die formelle Gerechtigkeit durch Strafe. Der Kompromiss wurde schließlich zum Konzept: Das erlittene Unrecht und das begangene Unrecht sollte in den Seelen von Opfern und Tätern seine zerstörerische Kraft verlieren, indem es nicht länger verdrängt und geleugnet wurde. Im Ergebnis sollten rassistischer Hass und soziale Diskriminierung überwunden sowie Schwarze und Weiße miteinander versöhnt werden.
Rund 9000 Agenten der Geheimdienste, Polizisten, Folterknechte sowie Spezialisten der geheimen militärischen Sondereinheiten haben für sich die Chance gesehen, durch ein Geständnis aus dem Gefängnis freizukommen oder einer Strafverfolgung zu entgehen. Schuldbewusstsein und Reue waren nur in den seltensten Fällen die Motive.
Positiv an der Amnestie ist, dass so die Wahrheit über Verbrechen ans Licht kam, die offiziell stets geleugnet worden waren. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen durch den Staat, sind heute unwiderruflicher Bestandteil der südafrikanischen Geschichtsschreibung. Dieses Verdienst der Wahrheitskommission ist unumstritten.
Bezweifelt wird, ob das zweite Anliegen der Vergangenheitsbewältigung in Südafrika - die Versöhnung - gelungen ist. Denn viele politisch Verantwortliche sind bislang ungeschoren davongekommen. Kaum ein Vertreter des Apartheid-Establishments fand den Mut, zu seiner Verantwortung zu stehen. Auch in Südafrika ist die Unfähigkeit zu trauern bei Tätern und Mitläufern sehr viel weiter verbreitet als Reflexion und Verantwortungsbewusstsein. Kritiker der Kommission meinen heute, wenn es schon keine Gerechtigkeit durch moralische Sühne oder juristische Strafe gebe, so müsse sie durch eine wirkungsvolle Wiedergutmachung hergestellt werden. Das verlangt auch die Wahrheitskommission Die Mehrheit der Weißen in Südafrika allerdings lehnt Wiedergutmachung ab. Ebenso wie die Nutznießer der Apartheid im Ausland, darunter über 300 deutschen Banken und Unternehmen, die in den 80er Jahren von billigen und rechtlosen Arbeitskräften profitiert haben.
Trotz dieser Einschränkungen ist das historische Experiment der südafrikanischen Wahrheitskommission einzigartig. Kein anderer Staat der Welt hat es auch nur annähernd gewagt, sich seiner politischen Vergangenheit in dieser Radikalität zu stellen. Anders als in Lateinamerika oder in Deutschland hat die Wahrheitskommission eine breite gesellschaftliche Debatte ausgelöst, die noch lange nicht beendet ist. Dennoch ist das südafrikanische Modell nicht einfach auf andere Länder übertragbar. Nur in einem bereits befriedeten und demokratischen Staat wird der schwierige Prozess einer gemeinsamen Wahrheitssuche und die Formulierung einer "Moral von der Geschichte" möglich sein.
Birgit Morgenrath vom Rheinischen JournalistInnenbüro in Köln hat diesen Beitrag zuvor in der SWR-Sendereihe Zeitwort, Redaktion Marie Elisabeth Müller, veröffentlicht.
Online-Flyer Nr. 53 vom 18.07.2006
19. Juli 1995 - Wahrheitskommission in Südafrika - Zeitworte Folge 5
Vergangenheitsbewältigung
Von Birgit Morgenrath
In verfallenen Dorfschulen, in schäbigen Hallen schwarzer Townships und in feinen Sitzungssälen der Großstädte haben die Wahrheitssucher unter dem Vorsitz von Erzbischof Desmond Tutu zunächst nur zugehört. Die Köpfe in die Hände gestützt haben sie den traumatischen Erlebnissen der Opfer und Angehörigen gelauscht; immer aufmerksam, manchmal zutiefst erschüttert. Rund 22 000 Menschen haben der Kommission ihre Qualen erzählt: von Mord und Folter durch die Apartheid-Schergen, von Haft und Verbannung, von Verfolgung und Erniedrigung.

Karikatur: Kostas Koufogiorgos
www.koufogiorgos.de
So konnte ein Teil der Wahrheit über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch das südafrikanische Apartheidregime aufgedeckt werden. Ganz im Sinne des Gesetzes. Gesellschaftliche Gewissenserforschung sollte eine gemeinsame Verständigung herstellen über das, was geschehen war. Denn die Kommissare und ihre Ermittler verhörten auch die Täter. Die stellten sich freiwillig, um einer Strafe zu entgehen. Diese Regelung war das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Denn das weiße Apartheidregime hatte vor seinem Abtritt zunächst eine Generalamnestie für seine Handlanger gefordert und andernfalls mit Bürgerkrieg gedroht. Die schwarzen Verhandlungsführer setzten den Kompromiss durch, dass nur der, der ein vollständiges Geständnis über politisch motivierte und nicht bloß kriminelle Taten ablegte, straffrei ausgehen konnte. Das hieß: Die Wahrheit war ihnen wichtiger als die formelle Gerechtigkeit durch Strafe. Der Kompromiss wurde schließlich zum Konzept: Das erlittene Unrecht und das begangene Unrecht sollte in den Seelen von Opfern und Tätern seine zerstörerische Kraft verlieren, indem es nicht länger verdrängt und geleugnet wurde. Im Ergebnis sollten rassistischer Hass und soziale Diskriminierung überwunden sowie Schwarze und Weiße miteinander versöhnt werden.
Rund 9000 Agenten der Geheimdienste, Polizisten, Folterknechte sowie Spezialisten der geheimen militärischen Sondereinheiten haben für sich die Chance gesehen, durch ein Geständnis aus dem Gefängnis freizukommen oder einer Strafverfolgung zu entgehen. Schuldbewusstsein und Reue waren nur in den seltensten Fällen die Motive.
Positiv an der Amnestie ist, dass so die Wahrheit über Verbrechen ans Licht kam, die offiziell stets geleugnet worden waren. Die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen durch den Staat, sind heute unwiderruflicher Bestandteil der südafrikanischen Geschichtsschreibung. Dieses Verdienst der Wahrheitskommission ist unumstritten.
Bezweifelt wird, ob das zweite Anliegen der Vergangenheitsbewältigung in Südafrika - die Versöhnung - gelungen ist. Denn viele politisch Verantwortliche sind bislang ungeschoren davongekommen. Kaum ein Vertreter des Apartheid-Establishments fand den Mut, zu seiner Verantwortung zu stehen. Auch in Südafrika ist die Unfähigkeit zu trauern bei Tätern und Mitläufern sehr viel weiter verbreitet als Reflexion und Verantwortungsbewusstsein. Kritiker der Kommission meinen heute, wenn es schon keine Gerechtigkeit durch moralische Sühne oder juristische Strafe gebe, so müsse sie durch eine wirkungsvolle Wiedergutmachung hergestellt werden. Das verlangt auch die Wahrheitskommission Die Mehrheit der Weißen in Südafrika allerdings lehnt Wiedergutmachung ab. Ebenso wie die Nutznießer der Apartheid im Ausland, darunter über 300 deutschen Banken und Unternehmen, die in den 80er Jahren von billigen und rechtlosen Arbeitskräften profitiert haben.
Trotz dieser Einschränkungen ist das historische Experiment der südafrikanischen Wahrheitskommission einzigartig. Kein anderer Staat der Welt hat es auch nur annähernd gewagt, sich seiner politischen Vergangenheit in dieser Radikalität zu stellen. Anders als in Lateinamerika oder in Deutschland hat die Wahrheitskommission eine breite gesellschaftliche Debatte ausgelöst, die noch lange nicht beendet ist. Dennoch ist das südafrikanische Modell nicht einfach auf andere Länder übertragbar. Nur in einem bereits befriedeten und demokratischen Staat wird der schwierige Prozess einer gemeinsamen Wahrheitssuche und die Formulierung einer "Moral von der Geschichte" möglich sein.
Birgit Morgenrath vom Rheinischen JournalistInnenbüro in Köln hat diesen Beitrag zuvor in der SWR-Sendereihe Zeitwort, Redaktion Marie Elisabeth Müller, veröffentlicht.
Online-Flyer Nr. 53 vom 18.07.2006