NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 19. August 2025  

Fenster schließen

Globales
Repression gegen Proteste zur sozialen Krise in El Salvador
Kampfflugzeuge für Fahrpreiserhöhung
Von Anne Hild

Sich frei zu fühlen und öffentlich sagen zu können, was einem an dieser Gesellschaft passt und was nicht - das sind die Beweggründe, aus denen Melissa Mendoza in San Salvador Kommunikationswissenschaften studiert: "Es mangelt in diesem Land an Medien, welche die Positionen des Volkes respektieren und reflektieren. Daher ist es wichtig, Alternativen zu schaffen. Das ist es, was wir hierzulande brauchen: Leute, die sich für allgemeine, und nicht nur für persönliche Interessen einsetzen."
Melissa steht jeden Tag um 5 Uhr auf, um pünktlich um 6.30 Uhr in der Vorlesung zu sein. Um halb zehn verlässt sie die Universität, denn um 10 Uhr beginnt ihre Schicht in einem Gastronomiebetrieb. Melissa ist sozioökonomisch gesehen eine privilegierte Studentin. Ihre Eltern, die bereits vor Jahren in die USA migriert sind, finanzieren Einschreibe- und monatliche Semestergebühren, sie selbst kommt mit ihrem Kellnerjob, der ihr monatlich knapp 200 Dollar einbringt, für die restlichen Ausgaben auf: Miete, Nahrung, Studienmaterielien, Fotokopien und was man sonst zum Leben und Lernen braucht.

Deshalb schlagen die seit 1. Juli eingeführten Fahrpreiserhöhungen bei den öffentlichen Verkehrsmitteln um 25% hart in ihr Budget rein. Bislang konnte sie sich in Kankheitsfällen noch einen Arztbesuch leisten. Als noch bedenklicher stuft sie die Lage für die Studenten ein, die sich ihr Studium vollkommen selbst finanzieren, und für all die Familien, die sich gar keine studierenden Kinder leisten können. "Der Mindestlohn liegt knapp über 150 Dollar. Wenn Du davon eine fünfköpfige Familie ernähren, Wasser Strom, Lebensmittel etc. bezahlen musst, und dann plötzlich 25% mehr für Verkehrsmittel zahlen sollst, dann ist das ein enormer Einschnitt."

Deshalb gingen am 5 Juli in San Salvador soziale Organisationen und Studentenbewegungen auf die Strasse, um ihren Zorn über die ständige Verteuerung der Lebenshaltungskosten kund zu tun - unter anderem auch 14% bei den Stromkosten. Und das bei seit Jahren eingefrorenen Löhnen und stetig wachsender sozialer Ungleichheit.

Die Demonstrationszüge aus verschiedenen Teilen der Stadt wurden durch Spezialeinheiten der Polizei am Zusammenkommen gehindert. Es kam zu willkürlichen Festnahmen unter exzessiver Gewaltanwendung, was zu beiderseitiger Eskalation führte. Am Nachmittag kursierten in der nationalen Zeitung "La Prensa Grafica" bereits Fotos von zwei angeblichen Studenten, die mit einem Gewehr des Typs M16 und einer hausgemachten Handfeuerwaffe auf die sich nähernden Polizisten feuerten. Seitdem überschlagen sich die Ereignisse: Polizei und Militär riegeln die Universität ab, überfliegen das Gelände mit Helikoptern und Militärflugzeugen, aus denen laut Augenzeugenberichten geschossen wurde. Es kommt zu weiteren Verletzten unter dem Personal der Universität. Meldungen über zwei tödlich verletzte Polizisten und mehrere Schwerverletzte auf beiden Seiten werden bestätigt.

Arena
Sicherheit! - Wahlpropaganda von ARENA
Foto: Anne Hild


Die Polizei der rechtskonservativen ARENA-Regierung (Republikanisch-Nationalistische Allianz) und die staatstreuen Massenmedien machen Studentenorganisationen oder die aus der ehemaligen Guerilla hervorgegangene Oppositionspartei FMLN, die angeblich die Studenten bewaffnet hat, für die Todesfälle verantwortlich und bezichtigen sie der Verletzung der Friedensverträge. Auf der anderen Seite fordern die Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, zivile Organisationen und die Opposition eine detaillierte Untersuchung der Ereignisse. Denn: Bereits einen Tag vor den Protesten hatten Spezialeinheiten der Polizei Scharfschützen auf dem Dach des gegenüber der Universität gelegenen Kinderkrankenhauses postiert, und die gezielten Schüsse in Kopf und Herz von Demonstranten sind wenig charakteristisch für die tumultartigen Verhältnisse, die auf der Strasse herrschten. Ausserdem fordern sie eine Aufklärung über das Vorgehen der Polizei und den Einsatz der Kampfflugzeuge.

Arena2
ARENA-Sicherheit - nach den Wahlen
Foto: Anne Hild



Die Bevölkerung reagierte zunächst verschreckt. Am Tag nach den Auseinandersetzungen sind die Strassen verlassener als sonst. Erinnerungen an zwölf Jahre Bürgerkrieg scheinen bei vielen wieder an die Oberfläche zu treten. ARENA nutzt die Lage, um die Vorlage für ein neues Anti-Terror-Gesetz in die Legislative einzubringen und folgt damit ihrem gewohnt repressivem Verhalten. Seit Beginn der Legislaturperiode 2004 beschwört sie den Kampf der Bandenkriminalität und Gewalt auf den Strassen durch eine Politik der "harten Hand". Das Resultat ist fraglich. Im ersten Quartal diesen Jahres registrierte die Zivile Nationalpolizei (PNC) bereits 1.830 Morde, 90 mehr als im Vorjahr.

Soziale Organisationen und Wissenschaftler bezweifeln ebenso, dass sich durch weitere repressive Gesetze die sozialen Probleme des Landes bewältigen lassen. "Das neoliberale Wirtschaftsmodell wird hierzulande so orthodox wie nur eben möglich implementiert, und steckt unsere Gesellschaft in eine Zwangsjacke." erklärt Roberto Gochez, Dozent für Wirtschaft an der Universität. "Die Löhne verlieren täglich an Kaufkraft, es gibt kein Wachstum auf dem Arbeitsmarkt, und während immer mehr Leute in den informellen Sektor und in die Arbeitslosigkeit getrieben werden, findet auf der anderen Seite der Waagschale eine wachsende Konzentration statt. Die grossen Wirtschaftsunternehmen des Landes expandieren in der Region. Das ist für viele eine brutale Situation: auf der einen Seite einen unglaublichen Reichtum zu sehen, und auf der anderen Seite werden die eigenen Perspektiven zunichte gemacht. Viele Leute gehen daher in den Norden." Eine wichtige Rolle spielen laut Gochez auch die regressiven Steuergesetze. Der Löwenanteil wird durch die Mehrwertsteuer eingetrieben, während profitable Finanzaktionen vom Fiskus kaum belangt werden.

Soziale Massenproteste gegen den neoliberalen Wirtschaftskurs gab es in El Salvador bereits 2002. Damals richteten sie sich gegen den Verkauf des staatlichen Gesundheitswesens. Sie verliefen überwiegend friedlich. Eine zunehmende Eskalation sieht Gochez zum einen durch die Zuspitzung der Verarmung, zum anderen durch politische Faktoren bedingt: "Die Rechte führt öffentlich einen Diskurs des Dialogs, doch ihre Politik ist konfrontativ. Es war nicht gerade intelligent, die FMLN für die Unruhen zu beschuldigen."

"Die Geschehnisse zeigen deutlich die mangelnde demokratische Kultur unserer Gesellschaft", beklagt Beatrice de Carillo, staatliche Menschenrechtsbeaftragte. "Die jungen Leute lernen nicht, sich mit politischem Rückhalt für ihre Belange einzusetzen, ein gesundes Demokratieverständnis zu entwickeln, da sie zeit ihres Lebens Repression erfahren. Und auf der anderen Seite respektiert die Polizei nicht die demokratischen Freiräume der Bevölkerung, welche in den Friedensverträgen verankert sind."

Inzwischen scheint sich der erste Schock gelegt zu haben, und die Menschen gehen wieder auf die Strasse - und zwar viele. Am 7. Juli wurden sämtliche Zufahrtsstrassen zur Hauptstadt von zivilen Organisationen blockiert. Für die kommende Woche sind Märsche der kirchlichen Basisgruppen angekündigt. Die Forderungen: Massnahmen zur Bekämpfung der sozialen Krise, transparente Aufklärung der Ereignisse vom 5. Juli, öffentliche Präsentation der Gefangenen, deren Aufenthaltsort unbekannt ist, Entmilitarisierung der Gesellschaft und Recht auf freie Meinungsäusserung.



Anne Hild ist Soziologin aus Köln und seit Juli 2005 beim Netzwerk ACT (Action by churches together) in San Salvador in der Katastrophenprävention tätig. Siehe auch NRhZ 13.



Online-Flyer Nr. 52  vom 12.07.2006



Startseite           nach oben