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Inland
Mit dem Sonderzug zur bundesweiten Demonstration in Berlin
"Wir könnten siegen!"
Von Mary Ann Christen-Meyer
Auf dem Bahnsteig stehen sie: zahlreiche schwarz gekleidete Gestalten. Bundespolizei. "Furcht einflößend", denke ich insgeheim. "Was haben die wohl vor?" Ich mache eine Bemerkung zu meinem Nebenmann. Eine Frau schnappt die Worte auf. "Seien Sie lieber dankbar! Die sind hier, um Sie vor den Neonazis zu schützen!" Ich schaue mich um. Neonazis? Wo? Der "Begleitschutz" bleibt uns noch eine Weile erhalten. Immerhin: keine Braunen weit und breit.

Auf dem Weg zum Alexanderplatz
Foto: Hans-Dieter Hey
Gemeinsam marschieren die rund 500 Teilnehmer aus dem NRW-Zug zum Treffpunkt, dem Roten Rathaus am Alexanderplatz. Ich schaue mich immer wieder um, erkenne als "Berliner Kind" kaum etwas wieder. Überall Protzbauten, nichts passt zueinander. Massenwohnhäuser zwischen hypermodernen Bürokomplexen. Nein, das heutige Berlin gefälllt mir nicht mehr. Meine einstige Heimat ist entstellt. Wehmütig denke ich an die 50-er Jahre. An meine Kindergarten- und Schulzeit.
"Schau mal, da ist das Rote Rathaus schon." Detlef holt mich aus meinen Träumen zurück in die Wirklichkeit. Vor uns liegt der Alex. Erst wenige Demonstranten sind eingetroffen. Abwarten, beruhige ich mich. Ich schaue mir die Szenerie an. Überall Polizeiautos. Auf der gegenüberliegenden Seite rund 25 Einsatzkräfte. Sie tragen Helme, Schlagstöcke, Pistolen. Mir wird mulmig zumute.
Nach und nach füllt sich der Alexanderplatz. Wir fiebern der Auftaktkundgebung entgegen. "Ein Aufruf an die Polizei", schallt es plötzlich aus Lautsprechern. "Bitte verlassen Sie die Demonstration. Hören Sie auf, die Teilnehmer zu durchsuchen. Dies ist eine friedliche, soziale Demonstration!" Der Aufruf wird mehrmals wiederholt.
Endlich geht es los. Xavier Chiarelli aus Frankreich begeistert mit einer feurigen und aufrüttelnden Eröffnungsrede die Massen. Die Demos in Frankreich, sein Aufruf zu gemeinsamem Widerstand gegen Sozial- und Demokratieabbau - klar, nachdrücklich, mit einer Power, die ihresgleichen sucht. Chiarelli schafft es, ein unbeschreibliches Gemeinschaftsgefühl hervorzurufen. Wir wollten alle das Gleiche, sagt er. Heute sei der Anfang, der Beginn eines langen Kampfes. Wir könnten siegen, wenn wir zusammenhielten, andere überzeugten. Chiarelli überzeugt, weil er überzeugt ist. Man kann seine Worte förmlich spüren, sie dringen tief ein. Ich bekomme eine Gänsehaut, bin fasziniert.
Dauerregen setzt ein. Das passt. Bindfäden prasseln auf uns nieder. Egal, nebensächlich. Die Reden sind wichtiger. Sie muntern auf, mobilisieren, machen Mut. Meine Gedanken schweifen kurz ab. Dann schrecke ich auf. "Ein Aufruf an die Polizei", schallt es wieder einmal über den Platz. "Entfernen Sie sich bitte aus der Demonstration! Beenden Sie endlich die Belästigung der Teilnehmer!"

Französisch aufstehen! Auch in Deutschland?
Foto: Hans-Dieter Hey
Gregor Böckermann, ein kleiner Mann in brauner Kutte, erscheint auf der Bühne. Ein großes Schild ziert seine Brust: "Unser Wirtschaftssystem geht über Leichen!" Böckermann von der "Initiative Ordensleute für den Frieden", spricht über die Geldmauer, die immer höher wird, über Hunger, Kriege, Flüchtlingsströme und Umweltzerstörung. "Trau deiner inneren Stimme. Trau nicht denen, die dir aus den Chefetagen der Wirtschaft und Politik was anderes erzählen", rät und warnt er. Abschließend zitiert der Ordensmann Erich Fried: "Wer will, dass die Erde so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt".
Die Teilnehmerzahl steigt ständig. Der Platz ist überfüllt. Viele stehen abseits auf den Wegen, zwischen den Bäumen. Ich bin zufrieden. Sieht gut aus. Etwas verspätet machen wir uns auf den Weg. Immer wieder kommt es zu Stopps. Menschen reihen sich ein, der Zug wird länger, scheint endlos.
War die Stimmung anfänglich verhalten, bedrückt, so steigern sich mit jedem Schritt Mut und Entschlossenheit. Notwendigkeit und Dringlichkeit dieser Aktion setzen bei allen Teilnehmern Kräfte frei, reißen Fassaden ein, lassen alle innerlich miteinander verschmelzen. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit - jede Kluft löst sich auf. Alte, Kinder, Jugendliche, Arbeitslose, Etablierte, Behinderte - es gibt ein gemeinsames Ziel: den Widerstand gegen das alles zerstörende Wirtschaftssystem.
"Wir sind das Volk", schallt es plötzlich mit Nachdruck durch die Straßen. Ich spüre: Das ist keine der üblichen Parolen. Es ist die volle Wahrheit. Nach langer Zeit steigt erstmals wieder ein verlorengegangenes Gefühl in mir hoch: Hier bin ich richtig. Das ist mein Weg. Laut und begeistert stimme ich ein: "Wir sind das Volk!". Ich bin überzeugt: So erreichen wir unser gemeinsames Ziel. Gemeinsam!
Wiederholt gerät der Zug ins Stocken. Ich schaue mich um. Links befindet sich eine kleine Seitenstraße. Dort sind sie wieder, die Ordnungshüter vom Alex. Stehen besammen, reden. Dann geht alles blitzschnell. Plötzlich und unvermittelt stürmt der erste los, nimmt Kurs auf uns. Die anderen folgen ihm, stürzen sich, Helm voran, auf eine willkürlich ausgewählte Gruppe von Demonstranten. Im letzten Moment mache ich einen Satz nach hinten.
Mehrere Menschen fallen zu Boden. Die Polizisten rammen den Wehrlosen ihre Stiefelspitzen ins Gesicht, malträtieren sie mit Faustschlägen, stechen ihnen Schlagstöcke in die Leiber, schlagen willkürlich auf sie ein. Auch Pfefferspray kommt zum Einsatz. Schnell bilden wir eine Kette, die von hinten zunehmend verstärkt wird. "Haut ab!" schreien wir im Chor. Schließlich wird unser Widerstand so stark, dass sie aufgeben müssen, jedoch nicht, ohne jemanden abzuführen.
Es herrscht wieder Ruhe. Entsetzt besprechen wir den Vorfall. Nie zuvor habe ich so etwas Brutales so hautnah erlebt. Das geht unter die Haut. Aus den Augenwinkeln beobachte ich diesen Schlägertrupp. Einer von ihnen steht mit einer Videokamera dort und filmt uns ohne Pause. Dann - ich will meinen Augen nicht trauen - rasen sie erneut los. Ich gerate ins Stolpern, kann mich aber fangen und ausweichen. Das böse Spiel wiederholt sich. Treten, Einschlagen, Zustechen, Kette bilden, Zurückdrängen, Haut-ab-Rufe, Verhaftung eines beliebigen Demonstranten.
Eine fast grenzenlose Wut befällt mich. Ich fühle mich hilflos und ohnmächtig. Ich schwöre mir, diese Vorfälle zu melden, die Landesregierung, die so etwas zulässt oder vielleicht sogar befohlen hat, anzuschreiben. Das würde ich nicht einfach hinnehmen. Geplante Körperverletzung durch Polizisten. Noch jetzt empfinde ich starke Rachegefühle.

Manchmal marschieren sie ja nur brav mit
Foto: Hans-Dieter Hey
Endlich geht es weiter, unsere Gemüter sind erhitzt. Jetzt erst recht. "Wir sind das Volk". Nie zuvor herrschte diese Einigkeit. Mit Wut und Empathie schleudern wir diese Worte jedem entgegen. Sie haben uns den Krieg erklärt - wir würden kontern. Mit unserer ganzen Kraft.
Bis zum Alex, dem Ort der Abschlusskundgebung, gibt es keine weiteren Zwischenfälle. Mir fällt ein gut gekleideter Mann auf. Er geht neben mir, hat die Angriffe ebenfalls gesehen. Wir kommen ins Gespräch. Ein Unternehmensberater. "Ja, ich weiß, eigentlich sollte ich auf der anderen Seite stehen. Ich komme sogar aus einem reichen Elternhaus. Aber, ob Sie es glauben oder nicht: Vor Jahren habe ich eine Zeitlang auf der Straße gelebt, Sozialhilfe bezogen. Ich kenne Armut. Dieser grenzenlose Kapitalismus erzeugt grenzenlose Armut. Das muss aufhören!" Sein Blick ist ehrlich, seine Stimme bestimmt.
Wir erreichen erschöpft und völlig durchnässt den Alex. Einer meiner Mitstreiter aus NRW und ich steuern einen kleinen Weg an. Rechts sehen wir sie wieder, die Schläger. Wir sind rund 50 m von ihnen entfernt. Da - der erste rast wieder los. Die anderen hinterher. Über den Weg, eine Rasenfläche, hinein in eine Gruppe auf der linken Seite. Detlef hat eine Videokamera dabei. Er rennt hin, filmt.
"Beenden Sie bitte die Schlägerei", schallt es aus dem Lautsprecher. "Verschwinden Sie endlich. Dies ist eine friedliche, soziale Demonstration". Eine Eskalation droht. Die Demonstranten wehren sich. Zweige fliegen durch die Luft. Eine Kette ist nicht drin, wir sind zu wenige. "Verlassen Sie sofort die Demonstration. Ich werde diese Vorfälle noch heute abend dpa und alle anderen Medien mitteilen", erklärt der Veranstalter. Jetzt endlich lässt der Schlägertrupp ab, verzieht sich.
Fix und fertig warten wir auf die Abschlusskundgebung. Die meisten Demonstranten sind bereits auf dem Heimweg. Ein Blick auf die Uhr macht klar, dass unser Zug in einer Stunde abfährt. Vier Kilometer Fußweg liegen noch vor uns. Auch wir müssen auf weitere Reden verzichten, stiefeln los.
Meine Beine sind schwer, die Füße schmerzen. "Detlef, ich kann nicht mehr", stöhne ich. Ich denke ans Sofa im warmen Wohnzimmer, an trockene Kleidung, einen heißen Kaffee, an meine Tiere - und fluche. Wie soll ich den Weg noch schaffen. Jeder Schritt ist eine Qual. Ich schleiche vorwärts, vorbei an hässlichen Wohntürmen. Trostlos diese Gegend. Armut, nichts als Armut.
Endlich eine Bank. Ich lasse mich neben eine Frau plumpsen. Sie stöhnt ebenfalls. Eine Leidensgenossin. Ich suche meine Cola im Rucksack. Nicht da, habe sie am Alex vergessen. Mist, meine Lippen kleben fast zusammen. Ich rapple mich auf. "Wir sind gleich da", versucht Detlef mich aufzumuntern. "Stimmt nicht", schimpfe ich. "Das ist mindestens noch ein Kilometer". Am liebsten würde ich mich einfach fallen lassen und nie wieder aufstehen. Soll der Zug eben ohne mich fahren. Detlef treibt mich an. Noch eine Ecke. Wo ist dieser verdammte Bahnhof?
Jede Sekunde wird zur Ewigkeit. Endlich, der Ostbahnhof. Ich schaffe es kaum, die Drehtür zu betätigen. Auch das noch: eine Treppe! Dann nach links. Mit jedem Schritt werde ich langsamer - Gleis 3 soll es sein. 1, 3 - Himmel, eine Rolltreppe, eine Bank. Ein Platz ist noch frei. Den sichere ich mir. Neben mir sitzt eine junge Frau, reibt sich die Oberschenkel. Ich grinse. "Tut Ihnen auch alles weh?", frage ich. "Ja, Ihnen auch?" Wir lachen. Schon wieder eine Gemeinsamkeit. Ich bitte sie, eben auf meine Sachen aufzupassen - brauche noch Zigaretten und eine Cola.
Wir kommen ins Gespräch. Sie muss nach Bielefeld. Der einfahrende Zug verhindert weiteres Kennenlernen. Gleich das erste Abteil ist frei. Die Polster sind ein Segen. Meine total durchnässten T-Shirts weniger. Ich kann sie nicht ausziehen, habe ja nichts anderes. Noch sind wir zu aufgedreht zum Schlafen. Wir schmieden Pläne, analysieren unsere Gefühle, sprechen über Künstler und Kunst, Alkoholismus und Süchte im Allgemeinen.
Plötzlich befällt mich eine bleierne Müdigkeit. Der Gedanke an die abschließende Autofahrt von Duisburg nach Rees bereitet mir Übelkeit. Würde ich das überhaupt noch schaffen? Abwarten, sage ich mir, erst einmal eine Runde schlafen.
Der Schlaf hat geholfen, ich habe die Autofahrt geschafft. Meine Stimme muss ich unterwegs verloren haben, denn als ich zu Hause war, war sie fast weg. Eine Beschwerde an Wowereit und die PDS ist versandt. Dem Polizeibericht über die Demo habe ich entschieden widersprochen und um Klärung gebeten. Eine Abschrift habe ich der Gewerkschaft der Polizei geschickt. Der PDS habe ich mit Austritt gedroht, wenn keine öffentliche Entschuldigung erfolgen sollte. Nun warte ich ab!

Ordensbruder Gregor Böckermann
Foto: Hans-Dieter Hey
Rede von Gregor Böckermann, "Initiative Ordensleute für den Frieden"
"Freundinnen und Freunde!
Ich bin gebeten worden, in 3 Minuten die Frage nach der Entsolidarisierung und der Moral zu stellen, wohl weil ich Mitglied der "Initiative Ordensleute für den Frieden" bin. Und Ordensleute stehen nun mal für Solidarität und Moral! Aber tun sie das wirklich alle, frage ich? Oder gehören sie nahtlos in die Reihe von Politikern und Wirtschaftsbossen, die um so mehr von "Werten" reden, je weniger Arbeit da ist, von Gerechtigkeit und Frieden, je heftiger der Krieg tobt, von Solidarität unter den Generationen, je weniger Arbeitsplätze es für Jugendliche gibt?
Aber wer bei Bildung und Sozialausgaben spart, muss Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit dem Glorienschein von "Grundwerten" versehen. Ja, der Bedarf an "Werten" und "Moral" ist gestiegen. Aber wir Ordensleute für den Frieden wollen da nicht mitmachen. Seit 16 Jahren stehen wir vor der Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt am Main. Zunächst aus Solidarität mit den Ärmsten in der so genannten 3. Welt. Als wir dann aber im Laufe unserer monatlichen Mahnwachen merkten, dass auch in Frankfurt die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer und zahlreicher werden, haben wir uns immer mehr mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem auseinandergesetzt. Heute sagen wir mit Bestimmtheit: Unser Wirtschaftssystem geht über Leichen.
Soll Hoffnung werden für Frieden, oder Hoffnung für 5 Millionen Arbeitslose, oder Hoffnung für Menschen, die 50 Stunden in der Woche arbeiten müssen, weil sie sonst um ihren Arbeitsplatz bangen müssen, oder Hoffnung für Millionen überschuldeter Privathaushalte, dann muss unser kapitalistisches Wirtschaftssystem überwunden werden. Das alles ist aber keine Frage der "Moral". Das ist eine Frage des Widerstandes und der Revolution!
Zum Schluss noch eine kleine Geschichte, warum ich der festen Überzeugung bin, dass wir noch zu meinen Lebzeiten das kapitalistische Wirtschaftssystem kippen werden. Seit gut 8 Jahren demonstriert eine kleine Gruppe von Frankfurter Arbeitslosen "Gegen Sozialabbau, Bildungs- und Rentenklau". Wenn ich Zeit habe, gehe ich hin und hänge mir dieses Schild um: "Unser Wirtschaftssystem geht über Leichen". Die Zahl derer, die sagen: "Das stimmt, das habe ich am eigenen Leibe erfahren", nimmt zu.
Dann komme ich mir vor wie so ein kleiner Verstärker, der sagt: "Trau deiner inneren Stimme. Trau nicht denen, die dir aus den Chefetagen der Wirtschaft und Politik was anderes erzählen." Und dann frage ich: Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass die Mauer in Berlin fallen würde? Und ich erzähle von einem kleinen Aufkleber an einem gelben Briefkasten in Frankfurt, der lautete: "Die BRD war schlauer - Das Geld ist jetzt die Mauer".
Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Geldmauer, die immer höher gezogen wird zwischen West und Ost, zwischen unten und oben, zwischen arm und reich eines Tages fallen wird, wie die Berliner Mauer. Und zwar dann, wenn die Menschen, wie damals in Berlin und Leipzig, immer wieder auf die Straße gehen, gewaltfrei, mit Kerzen in den Händen, und sagen: Schluss jetzt mit dem Wahnsinn. Wir gehen einen anderen Weg.
Diese Revolution wird kommen, noch zu meinen Lebzeiten. Davon bin ich überzeugt.
Sonst hat unser Planet Erde keine Überlebenschance, sonst haben die kommenden Generationen keine Zukunft. Oder wie Erich Fried sagt: "Wer will, das die Erde so bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt". Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!"
Gregor Böckermann ist 65 Jahre alt. Seine Rede wurde von Hans-Dieter Hey aufgeschrieben. Die Redaktion
Online-Flyer Nr. 47 vom 06.06.2006
Mit dem Sonderzug zur bundesweiten Demonstration in Berlin
"Wir könnten siegen!"
Von Mary Ann Christen-Meyer
Auf dem Bahnsteig stehen sie: zahlreiche schwarz gekleidete Gestalten. Bundespolizei. "Furcht einflößend", denke ich insgeheim. "Was haben die wohl vor?" Ich mache eine Bemerkung zu meinem Nebenmann. Eine Frau schnappt die Worte auf. "Seien Sie lieber dankbar! Die sind hier, um Sie vor den Neonazis zu schützen!" Ich schaue mich um. Neonazis? Wo? Der "Begleitschutz" bleibt uns noch eine Weile erhalten. Immerhin: keine Braunen weit und breit.

Auf dem Weg zum Alexanderplatz
Foto: Hans-Dieter Hey
Gemeinsam marschieren die rund 500 Teilnehmer aus dem NRW-Zug zum Treffpunkt, dem Roten Rathaus am Alexanderplatz. Ich schaue mich immer wieder um, erkenne als "Berliner Kind" kaum etwas wieder. Überall Protzbauten, nichts passt zueinander. Massenwohnhäuser zwischen hypermodernen Bürokomplexen. Nein, das heutige Berlin gefälllt mir nicht mehr. Meine einstige Heimat ist entstellt. Wehmütig denke ich an die 50-er Jahre. An meine Kindergarten- und Schulzeit.
"Schau mal, da ist das Rote Rathaus schon." Detlef holt mich aus meinen Träumen zurück in die Wirklichkeit. Vor uns liegt der Alex. Erst wenige Demonstranten sind eingetroffen. Abwarten, beruhige ich mich. Ich schaue mir die Szenerie an. Überall Polizeiautos. Auf der gegenüberliegenden Seite rund 25 Einsatzkräfte. Sie tragen Helme, Schlagstöcke, Pistolen. Mir wird mulmig zumute.
Nach und nach füllt sich der Alexanderplatz. Wir fiebern der Auftaktkundgebung entgegen. "Ein Aufruf an die Polizei", schallt es plötzlich aus Lautsprechern. "Bitte verlassen Sie die Demonstration. Hören Sie auf, die Teilnehmer zu durchsuchen. Dies ist eine friedliche, soziale Demonstration!" Der Aufruf wird mehrmals wiederholt.
Endlich geht es los. Xavier Chiarelli aus Frankreich begeistert mit einer feurigen und aufrüttelnden Eröffnungsrede die Massen. Die Demos in Frankreich, sein Aufruf zu gemeinsamem Widerstand gegen Sozial- und Demokratieabbau - klar, nachdrücklich, mit einer Power, die ihresgleichen sucht. Chiarelli schafft es, ein unbeschreibliches Gemeinschaftsgefühl hervorzurufen. Wir wollten alle das Gleiche, sagt er. Heute sei der Anfang, der Beginn eines langen Kampfes. Wir könnten siegen, wenn wir zusammenhielten, andere überzeugten. Chiarelli überzeugt, weil er überzeugt ist. Man kann seine Worte förmlich spüren, sie dringen tief ein. Ich bekomme eine Gänsehaut, bin fasziniert.
Dauerregen setzt ein. Das passt. Bindfäden prasseln auf uns nieder. Egal, nebensächlich. Die Reden sind wichtiger. Sie muntern auf, mobilisieren, machen Mut. Meine Gedanken schweifen kurz ab. Dann schrecke ich auf. "Ein Aufruf an die Polizei", schallt es wieder einmal über den Platz. "Entfernen Sie sich bitte aus der Demonstration! Beenden Sie endlich die Belästigung der Teilnehmer!"

Französisch aufstehen! Auch in Deutschland?
Foto: Hans-Dieter Hey
Gregor Böckermann, ein kleiner Mann in brauner Kutte, erscheint auf der Bühne. Ein großes Schild ziert seine Brust: "Unser Wirtschaftssystem geht über Leichen!" Böckermann von der "Initiative Ordensleute für den Frieden", spricht über die Geldmauer, die immer höher wird, über Hunger, Kriege, Flüchtlingsströme und Umweltzerstörung. "Trau deiner inneren Stimme. Trau nicht denen, die dir aus den Chefetagen der Wirtschaft und Politik was anderes erzählen", rät und warnt er. Abschließend zitiert der Ordensmann Erich Fried: "Wer will, dass die Erde so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt".
Die Teilnehmerzahl steigt ständig. Der Platz ist überfüllt. Viele stehen abseits auf den Wegen, zwischen den Bäumen. Ich bin zufrieden. Sieht gut aus. Etwas verspätet machen wir uns auf den Weg. Immer wieder kommt es zu Stopps. Menschen reihen sich ein, der Zug wird länger, scheint endlos.
War die Stimmung anfänglich verhalten, bedrückt, so steigern sich mit jedem Schritt Mut und Entschlossenheit. Notwendigkeit und Dringlichkeit dieser Aktion setzen bei allen Teilnehmern Kräfte frei, reißen Fassaden ein, lassen alle innerlich miteinander verschmelzen. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit - jede Kluft löst sich auf. Alte, Kinder, Jugendliche, Arbeitslose, Etablierte, Behinderte - es gibt ein gemeinsames Ziel: den Widerstand gegen das alles zerstörende Wirtschaftssystem.
"Wir sind das Volk", schallt es plötzlich mit Nachdruck durch die Straßen. Ich spüre: Das ist keine der üblichen Parolen. Es ist die volle Wahrheit. Nach langer Zeit steigt erstmals wieder ein verlorengegangenes Gefühl in mir hoch: Hier bin ich richtig. Das ist mein Weg. Laut und begeistert stimme ich ein: "Wir sind das Volk!". Ich bin überzeugt: So erreichen wir unser gemeinsames Ziel. Gemeinsam!
Wiederholt gerät der Zug ins Stocken. Ich schaue mich um. Links befindet sich eine kleine Seitenstraße. Dort sind sie wieder, die Ordnungshüter vom Alex. Stehen besammen, reden. Dann geht alles blitzschnell. Plötzlich und unvermittelt stürmt der erste los, nimmt Kurs auf uns. Die anderen folgen ihm, stürzen sich, Helm voran, auf eine willkürlich ausgewählte Gruppe von Demonstranten. Im letzten Moment mache ich einen Satz nach hinten.
Mehrere Menschen fallen zu Boden. Die Polizisten rammen den Wehrlosen ihre Stiefelspitzen ins Gesicht, malträtieren sie mit Faustschlägen, stechen ihnen Schlagstöcke in die Leiber, schlagen willkürlich auf sie ein. Auch Pfefferspray kommt zum Einsatz. Schnell bilden wir eine Kette, die von hinten zunehmend verstärkt wird. "Haut ab!" schreien wir im Chor. Schließlich wird unser Widerstand so stark, dass sie aufgeben müssen, jedoch nicht, ohne jemanden abzuführen.
Es herrscht wieder Ruhe. Entsetzt besprechen wir den Vorfall. Nie zuvor habe ich so etwas Brutales so hautnah erlebt. Das geht unter die Haut. Aus den Augenwinkeln beobachte ich diesen Schlägertrupp. Einer von ihnen steht mit einer Videokamera dort und filmt uns ohne Pause. Dann - ich will meinen Augen nicht trauen - rasen sie erneut los. Ich gerate ins Stolpern, kann mich aber fangen und ausweichen. Das böse Spiel wiederholt sich. Treten, Einschlagen, Zustechen, Kette bilden, Zurückdrängen, Haut-ab-Rufe, Verhaftung eines beliebigen Demonstranten.
Eine fast grenzenlose Wut befällt mich. Ich fühle mich hilflos und ohnmächtig. Ich schwöre mir, diese Vorfälle zu melden, die Landesregierung, die so etwas zulässt oder vielleicht sogar befohlen hat, anzuschreiben. Das würde ich nicht einfach hinnehmen. Geplante Körperverletzung durch Polizisten. Noch jetzt empfinde ich starke Rachegefühle.

Manchmal marschieren sie ja nur brav mit
Foto: Hans-Dieter Hey
Endlich geht es weiter, unsere Gemüter sind erhitzt. Jetzt erst recht. "Wir sind das Volk". Nie zuvor herrschte diese Einigkeit. Mit Wut und Empathie schleudern wir diese Worte jedem entgegen. Sie haben uns den Krieg erklärt - wir würden kontern. Mit unserer ganzen Kraft.
Bis zum Alex, dem Ort der Abschlusskundgebung, gibt es keine weiteren Zwischenfälle. Mir fällt ein gut gekleideter Mann auf. Er geht neben mir, hat die Angriffe ebenfalls gesehen. Wir kommen ins Gespräch. Ein Unternehmensberater. "Ja, ich weiß, eigentlich sollte ich auf der anderen Seite stehen. Ich komme sogar aus einem reichen Elternhaus. Aber, ob Sie es glauben oder nicht: Vor Jahren habe ich eine Zeitlang auf der Straße gelebt, Sozialhilfe bezogen. Ich kenne Armut. Dieser grenzenlose Kapitalismus erzeugt grenzenlose Armut. Das muss aufhören!" Sein Blick ist ehrlich, seine Stimme bestimmt.
Wir erreichen erschöpft und völlig durchnässt den Alex. Einer meiner Mitstreiter aus NRW und ich steuern einen kleinen Weg an. Rechts sehen wir sie wieder, die Schläger. Wir sind rund 50 m von ihnen entfernt. Da - der erste rast wieder los. Die anderen hinterher. Über den Weg, eine Rasenfläche, hinein in eine Gruppe auf der linken Seite. Detlef hat eine Videokamera dabei. Er rennt hin, filmt.
"Beenden Sie bitte die Schlägerei", schallt es aus dem Lautsprecher. "Verschwinden Sie endlich. Dies ist eine friedliche, soziale Demonstration". Eine Eskalation droht. Die Demonstranten wehren sich. Zweige fliegen durch die Luft. Eine Kette ist nicht drin, wir sind zu wenige. "Verlassen Sie sofort die Demonstration. Ich werde diese Vorfälle noch heute abend dpa und alle anderen Medien mitteilen", erklärt der Veranstalter. Jetzt endlich lässt der Schlägertrupp ab, verzieht sich.
Fix und fertig warten wir auf die Abschlusskundgebung. Die meisten Demonstranten sind bereits auf dem Heimweg. Ein Blick auf die Uhr macht klar, dass unser Zug in einer Stunde abfährt. Vier Kilometer Fußweg liegen noch vor uns. Auch wir müssen auf weitere Reden verzichten, stiefeln los.
Meine Beine sind schwer, die Füße schmerzen. "Detlef, ich kann nicht mehr", stöhne ich. Ich denke ans Sofa im warmen Wohnzimmer, an trockene Kleidung, einen heißen Kaffee, an meine Tiere - und fluche. Wie soll ich den Weg noch schaffen. Jeder Schritt ist eine Qual. Ich schleiche vorwärts, vorbei an hässlichen Wohntürmen. Trostlos diese Gegend. Armut, nichts als Armut.
Endlich eine Bank. Ich lasse mich neben eine Frau plumpsen. Sie stöhnt ebenfalls. Eine Leidensgenossin. Ich suche meine Cola im Rucksack. Nicht da, habe sie am Alex vergessen. Mist, meine Lippen kleben fast zusammen. Ich rapple mich auf. "Wir sind gleich da", versucht Detlef mich aufzumuntern. "Stimmt nicht", schimpfe ich. "Das ist mindestens noch ein Kilometer". Am liebsten würde ich mich einfach fallen lassen und nie wieder aufstehen. Soll der Zug eben ohne mich fahren. Detlef treibt mich an. Noch eine Ecke. Wo ist dieser verdammte Bahnhof?
Jede Sekunde wird zur Ewigkeit. Endlich, der Ostbahnhof. Ich schaffe es kaum, die Drehtür zu betätigen. Auch das noch: eine Treppe! Dann nach links. Mit jedem Schritt werde ich langsamer - Gleis 3 soll es sein. 1, 3 - Himmel, eine Rolltreppe, eine Bank. Ein Platz ist noch frei. Den sichere ich mir. Neben mir sitzt eine junge Frau, reibt sich die Oberschenkel. Ich grinse. "Tut Ihnen auch alles weh?", frage ich. "Ja, Ihnen auch?" Wir lachen. Schon wieder eine Gemeinsamkeit. Ich bitte sie, eben auf meine Sachen aufzupassen - brauche noch Zigaretten und eine Cola.
Wir kommen ins Gespräch. Sie muss nach Bielefeld. Der einfahrende Zug verhindert weiteres Kennenlernen. Gleich das erste Abteil ist frei. Die Polster sind ein Segen. Meine total durchnässten T-Shirts weniger. Ich kann sie nicht ausziehen, habe ja nichts anderes. Noch sind wir zu aufgedreht zum Schlafen. Wir schmieden Pläne, analysieren unsere Gefühle, sprechen über Künstler und Kunst, Alkoholismus und Süchte im Allgemeinen.
Plötzlich befällt mich eine bleierne Müdigkeit. Der Gedanke an die abschließende Autofahrt von Duisburg nach Rees bereitet mir Übelkeit. Würde ich das überhaupt noch schaffen? Abwarten, sage ich mir, erst einmal eine Runde schlafen.
Der Schlaf hat geholfen, ich habe die Autofahrt geschafft. Meine Stimme muss ich unterwegs verloren haben, denn als ich zu Hause war, war sie fast weg. Eine Beschwerde an Wowereit und die PDS ist versandt. Dem Polizeibericht über die Demo habe ich entschieden widersprochen und um Klärung gebeten. Eine Abschrift habe ich der Gewerkschaft der Polizei geschickt. Der PDS habe ich mit Austritt gedroht, wenn keine öffentliche Entschuldigung erfolgen sollte. Nun warte ich ab!

Ordensbruder Gregor Böckermann
Foto: Hans-Dieter Hey
Rede von Gregor Böckermann, "Initiative Ordensleute für den Frieden"
"Freundinnen und Freunde!
Ich bin gebeten worden, in 3 Minuten die Frage nach der Entsolidarisierung und der Moral zu stellen, wohl weil ich Mitglied der "Initiative Ordensleute für den Frieden" bin. Und Ordensleute stehen nun mal für Solidarität und Moral! Aber tun sie das wirklich alle, frage ich? Oder gehören sie nahtlos in die Reihe von Politikern und Wirtschaftsbossen, die um so mehr von "Werten" reden, je weniger Arbeit da ist, von Gerechtigkeit und Frieden, je heftiger der Krieg tobt, von Solidarität unter den Generationen, je weniger Arbeitsplätze es für Jugendliche gibt?
Aber wer bei Bildung und Sozialausgaben spart, muss Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit dem Glorienschein von "Grundwerten" versehen. Ja, der Bedarf an "Werten" und "Moral" ist gestiegen. Aber wir Ordensleute für den Frieden wollen da nicht mitmachen. Seit 16 Jahren stehen wir vor der Zentrale der Deutschen Bank in Frankfurt am Main. Zunächst aus Solidarität mit den Ärmsten in der so genannten 3. Welt. Als wir dann aber im Laufe unserer monatlichen Mahnwachen merkten, dass auch in Frankfurt die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer und zahlreicher werden, haben wir uns immer mehr mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem auseinandergesetzt. Heute sagen wir mit Bestimmtheit: Unser Wirtschaftssystem geht über Leichen.
Soll Hoffnung werden für Frieden, oder Hoffnung für 5 Millionen Arbeitslose, oder Hoffnung für Menschen, die 50 Stunden in der Woche arbeiten müssen, weil sie sonst um ihren Arbeitsplatz bangen müssen, oder Hoffnung für Millionen überschuldeter Privathaushalte, dann muss unser kapitalistisches Wirtschaftssystem überwunden werden. Das alles ist aber keine Frage der "Moral". Das ist eine Frage des Widerstandes und der Revolution!
Zum Schluss noch eine kleine Geschichte, warum ich der festen Überzeugung bin, dass wir noch zu meinen Lebzeiten das kapitalistische Wirtschaftssystem kippen werden. Seit gut 8 Jahren demonstriert eine kleine Gruppe von Frankfurter Arbeitslosen "Gegen Sozialabbau, Bildungs- und Rentenklau". Wenn ich Zeit habe, gehe ich hin und hänge mir dieses Schild um: "Unser Wirtschaftssystem geht über Leichen". Die Zahl derer, die sagen: "Das stimmt, das habe ich am eigenen Leibe erfahren", nimmt zu.
Dann komme ich mir vor wie so ein kleiner Verstärker, der sagt: "Trau deiner inneren Stimme. Trau nicht denen, die dir aus den Chefetagen der Wirtschaft und Politik was anderes erzählen." Und dann frage ich: Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass die Mauer in Berlin fallen würde? Und ich erzähle von einem kleinen Aufkleber an einem gelben Briefkasten in Frankfurt, der lautete: "Die BRD war schlauer - Das Geld ist jetzt die Mauer".
Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Geldmauer, die immer höher gezogen wird zwischen West und Ost, zwischen unten und oben, zwischen arm und reich eines Tages fallen wird, wie die Berliner Mauer. Und zwar dann, wenn die Menschen, wie damals in Berlin und Leipzig, immer wieder auf die Straße gehen, gewaltfrei, mit Kerzen in den Händen, und sagen: Schluss jetzt mit dem Wahnsinn. Wir gehen einen anderen Weg.
Diese Revolution wird kommen, noch zu meinen Lebzeiten. Davon bin ich überzeugt.
Sonst hat unser Planet Erde keine Überlebenschance, sonst haben die kommenden Generationen keine Zukunft. Oder wie Erich Fried sagt: "Wer will, das die Erde so bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt". Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit!"
Gregor Böckermann ist 65 Jahre alt. Seine Rede wurde von Hans-Dieter Hey aufgeschrieben. Die Redaktion
Online-Flyer Nr. 47 vom 06.06.2006