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Aktueller Online-Flyer vom 19. August 2025  

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Lokales
Tschernobyl-Kongreß der IPPNW in Bonn
Die eigentliche Katastrophe kommt erst noch
von Hans-Detlev v. Kirchbach

Am 26. April jährt sich die - soweit bekannt - folgenreichste Katastrophe der  sogenannten "friedlichen" Nutzung der Kernenergie zum 20. Mal: die Havarie des sowjetischen Atommeilers von Tschernobyl. Aus diesem Anlaß veranstaltete die Ärztevereinigung IPPNW in Bonn einen Kongreß, der eine Fülle Gegeninformationen zur offiziell betriebenen Verschleierungspolitik lieferte.

Aufruf gegen drohenden Atomkrieg

Mit einem Aufruf, einen womöglich anstehenden Krieg gegen den Iran zu verhindern, ging am 9. April ein dreitägiger Tschernobyl-Kongreß der IPPNW  in Bonn zu Ende.  Noch am  letzten Tag waren die Delegierten der internationalen Ärzteorganisation zur Verhütung des Atomkrieges von einem Artikel in der Zeitschrift New Yorker aufgerüttelt worden, der Planungen der Regierung Bush betraf, gegen den Iran womöglich Atomwaffen einzusetzen. Ob die Resolution der IPPNW auch nur von der Bundesregierung zur Kenntnis genommen worden ist, steht freilich dahin. Der atompolitische Fallout, ob "zivil"oder militärisch, weht  dieser Tage  hierzulande aus einer ganz anderen Richtung.
 
Atomlobby: Strahlende Zukunftsaussichten
 
So stellte auch einer der erfahrensten Aktivisten der Anti-Atom-Bewegung unter den IPPNW-Delegierten recht bitter fest:
 
"Die Leichtigkeit und die Motive, aus denen heraus man das macht, wo das Risiko für die Bürger überhaupt keine Rolle spielt, das ist einfach niederschmetternd eben gerade zwanzig Jahre nach Tschernobyl!"

Der bislang größte Unfall der "zivilen" Atomenergie scheint weithin vergessen, nicht zuletzt durch jahrelange und systematische Vertuschung und Verharmlosung der Tschernobyl-Folgen. Sonst wäre eine ernsthafte Debatte um "Verlängerung der Restlaufzeiten" von Kernanlagen wohl nicht möglich. Das meinte zumindest der Mediziner und langjährige Grünen-Bundestagsabgeordnete Sebastian Pflugbeil beim Tschernobyl-Kongreß der IPPNW in Bonn. In Sachen Energiepolitik, so nicht nur seine eher resignierte Feststellung auf dem Bonner IPPNW-Kongreß, bestimme die "Gegenseite" längst wieder das "Meinungsklima".
Was sich offizielle Politik nennt, versucht das Thema Tschernobyl in einer Art internationaler Schweigekoalition möglichst klein zu halten. Legendär berühmt wurden einst die "Liquidatoren", hunderttausende freiwillige und rekrutierte Helfer, die das strahlende Atomwrack unter Lebensgefahr zu dekontaminieren und mit einem Sarkophag abzudichten versuchten. Unterm Schutz von Geheimhaltungs-und Mauschelabkommen aber betreiben heute weit mächtigere "Liquidatoren" in strahlensicheren Regierungsgebäuden,  in den Zentralen von Weltgesundheitsorganisation und Internationaler Atomenergie-Behörde  ihr Geschäft der politischen "Liquidation" der Erinnerung an und der Erfahrungen aus Tschernobyl. Zu diesem speziellen "Entsorgungskommando" gehören auch Teile von Politik und Medien der Bundesrepublik.  Hierzulande steht der "Atomkompromiß" aus rot-grüner Zeit zwar noch auf dem Papier, aber die Lobby rüstet auf. Im Schulterschluß mit den USA, wo die Bush-Administration auf eine neue Ära  der Kernenergie setzt, wittern einige Atomphantasten Morgenluft für eine nukleare Zukunft, und sei es in ein paar Jahrzehnten, wenn angeblich das goldene Zeitalter der Kernfusion anbrechen soll.
 "Ausstieg aus dem Ausstieg" - mit solchen Parolen wird eine Energiewende zurück ins Zeitalter der Kernspaltung propagiert. Das wird sich hierzulande vorerst - in den nächsten paar Wochen, wie es bei der IPPNW sarkastisch hieß - mit dem Großkoalitionspartner SPD zwar noch nicht machen lassen. Denn der schrieb im Koalitionsvertrag den "Atomkonsens" fest, und Minister Sigmar Gabriel gebärdet sich landauf, landab als Erzengel der "Energiewende". Beim IPPNW-Kongreß ließ sich der jungdynamische Gabriel gleichwohl nicht blicken. Nur der Bundestagsabgeordnete und unermüdliche Solarstrom-Streiter Hermann Scheer vertrat mit einem stark beachteten Vortrag - nun, wohl doch weniger die SPD als seine eigene Meinung.-

Restlaufzeiten, Energie-Mix, Neubauträume

Unionsgranden wie Koch, Oettinger und Stoiber machen gleichwohl  hinlänglich klar, daß sie an ihren atomaren Visionen festhalten. CSU-Wirtschaftsminister Glos sorgt denn auch schon für erhoffte  atomfreundlichere Zeiten vor mit seiner beständig wiederholten Feststellung: "Bei der Stromversorgung wird auch in Zukunft die Kernkraft eine wichtige Rolle spielen müssen", und seiner Warnung, man dürfe sich nicht aus einer - so wörtlich -  "Zukunftstechnologie" zurückziehen.
Politprofi Sebastian Pflugbeil bleibt freilich skeptisch:

"An die 'Renaissance' glaube ich im übrigen nicht. Wenn man  den Alterungsprozeß der Kernkraftwerke sieht, hätten wir schon längst massiv anfangen müssen, neue nachzubauen, um allein diesen Alterungsprozeß ausgleichen zu können. Und eigentlich ist die Zeit der Kernenergie damit zu Ende. Das wird man nicht mehr hochkriegen. Da bin ich ganz optimistisch."

Ob das kernkräftige PR-Getöne nun nur einen möglichst verlustarmen Weiterbetrieb von Altanlagen beabsichtigt  oder ob man wirklich an  eine Neubauoffensive denkt- für die IPPNW jedenfalls ist nur eine energiepolitische Variante überhaupt verantwortbar: der sofortige Ausstieg aus der Kernspaltungstechnologie und der entschlossene Einstieg in die "Erneuerbaren Energien". Doch die könnten  eher in einer stabilen, aber auf lange Sicht noch randständigen Nische verbleiben statt an die energiepolitische Spitze vorzustoßen. Denn der  nationale wie internationale Strom-Mainstream will nach wie vor einen dubiosen "Energiemix", unter Inkaufnahme weiter eskalierender Plünderung fossiler Rohstoffe einschließlich einkalkulierter Kriege um Öl, sowie eines international eher tendenziell wachsenden Anteils der Kernenergie.

Ohnehin war beim IPPNW-Kongreß umstritten, ob  eine ökologische und soziale  Energiewende mit denselben Strommonopol-Konzernen machbar ist, die ja schon seit den fünfziger Jahren an der Atomenergie verdienen - an der "zivilen" ebenso wie an der militärischen. Namen wie Siemens oder RWE hatten bei den atomkritischen Ärzten in Bonn wahrhaft keinen guten Klang. Doch das braucht sie nicht zu beunruhigen. Denn die Atomlobby hat insgesamt gute Karten; ihre Abschreibungsverluste werden durch lange Auslaufzeiten minimiert und im übrigen auf Kunden und Steuerzahler umgelegt.


Machtkartell gegen Strahlenopfer

Und daß Verursacher von Strahlenschäden von ihren Opfern nur wenig Ungemach befürchten müssen, dafür sorgt eine Koalition aus internationalen Aufsichtsgremien und nationaler Rechtsabwehr. Das jedenfalls kam auch auf dem IPPNW-Kongreß zur Sprache. Hierzulande tun, so Sebastian Pflugbeil, Berufsgenossenschaften, Versicherungen, Gesetzgeber und Gerichte mit Hilfe des, so Sebastian Pflugbeil, "Gutachterunwesens" alles, um den Nachweis von Strahlenschäden so schwer wie möglich zu machen. Zum Beispiel denen, die im Uranbergbau beschäftigt waren oder auch ehemaligen Soldaten -von kosovarischer Zivilbevölkerung ganz zu schweigen -, die etwa im Kosovo mit angeblich harmloser Uranmunition in Kontakt gekommen sind.  Allein bei den Uranbaubeschäftigten von Wismut gibt es nach Pflugbeils Angaben mindestens 7000 Lungenkrebstote, 7000 werden schätzungsweise noch hinzukommen, bei 15.000 liegt eine Staublunge bzw. Silikose vor - und dennoch werden fast alle Anträge auf Anerkennung einer Berufskrankheit abgelehnt. Hier aber ergibt sich ein besonders zynischer Zusammenhang mit Tschernobyl, wie Pflugbeil erläuterte:

"In Tschernobyl sehen wir jetzt ganz deutlich, daß eben nicht nur die Krebserkrankungen in die Höhe gehen, sondern eben auch die 'konventionellen Erkrankungen'. Wenn man das anerkennen würde, daß eine Strahlenkatastrophe oder eine Strahlenbelastung praktisch den gesamten Gesundheitszustand in der ganzen Breite der Bevölkerung nachhaltig beeinträchtigt, dann müßte man auch daraus Konsequenzen ziehen über die Spielregeln im Umgang mit beruflich strahlenexponierten Leuten. Und das sind in Deutschland 'ne ganze Menge, das würde Geld kosten. Und das müßte man anfassen, dieses Thema, wenn man zugesteht, was in Tschernobyl jeder weiß, jeder Arzt jeden Tag sieht."

So ergibt sich die bittere und eigentlich unglaubliche Feststellung: Die Opfer von Tschernobyl werden hängengelassen,  weil man den Tatbestand von Strahlenschäden nicht anerkennen  und somit den eigenen Strahlenopfern Argumente für Entschädigungsforderungen liefern will. Da werden "epidemiologische Spitzfindigkeiten" ins Feld geführt,  den Opfern die alleinige stringente Beweislast aufgebürdet, national wie international.


Methoden der "Liquidatoren": Statistik als Irreführung
Im Herbst 2005 bemühten sich die Weltgesundheitsorganisation und die Internationale Atomenergiebehörde gemeinsam, das Thema Tschernobyl für im wesentlichen erledigt zu erklären. Insgesamt, so hieß es, habe es nur wenig mehr als 50 Todesopfer der Katastrophe gegeben. Darstellungen, die auf dem IPPNW-Kongreß geradezu empörten, unter anderem den Münchner Universitätsprofessor für Strahlenheilkunde,  Edmund Lengfelder. Der versorgt seit über 15 Jahren als Leiter des von ihm und einer Gruppe Medizinern und Strahlenexperten gegründeten Otto-Hug-Strahleninstituts Strahlenerkrankte in Weißrußland an einer ausschließlich aus Spendengeldern hochgezogenen Fachklinik.  Wie kaum ein anderer in Deutschland verfügt er  über intime Einblicke in die Wirklichkeit vor Ort. Die aber hat mit den offiziellen Beschönigungen nichts zu tun. Lengfelder:

"Also diese Aussagen der Weltgesundheitsorganisation und der Internationalen Atomenergiebehörde sind mir wohl bekannt und ich kann das klar zurückweisen. Zum Beispiel diese Aussagen in Bezug auf die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle in Weißrußland sind einfach falsch, denn wir können ja durch die Zusammenarbeit mit dem nationalen Schilddrüsenzentrum in Minsk und auch einfach durch die Analyse der Krankenakten der Patienten, die von uns Radiotherapie bekommen, von Fall zu Fall belegen: Wer hat Schilddrüsenkrebs, welcher Typ von Krebs ist es, und wie ist seine Geschichte. Das heißt, mit diesen Originaldaten können wir diese Fälle belegen und können deshalb auch sagen: Die Aussagen der WHO sind nicht wahr."

Selbst bei Kindern, die zehn Jahre nach der Katastrophe geboren wurden, stellt Lengfelders Klinik  noch eine Erhöhung der Schilddrüsenkrebsrate fest. Und  auch eine Studie des Krebsforschungsinstituts der WHO in Lyon selbst schätzt, daß jede dritte Person, die zum Zeitpunkt der Tschernobyl-Katastrophe bis zu vier Jahren alt war, im Laufe des Lebens an Schilddrüsenkrebs erkranken wird. Allein in Bezug auf die Kinder in der Region Gomel wäre daher mit etwa fünfzigtausend  zusätzlichen Erkrankungen an Schilddrüsenkrebs zu rechnen. Hinzu kommt die Langzeitbelastung derer, die damals Kinder und Jugendliche über vier Jahre waren. Übereinstimmend mit der erwähnten WHO-Studie kommt Professor Lengfelder daher zu dem Schluß:

 "Wir schätzen, daß mehr als hunderttausend Schilddrüsenkrebskranke in der Zeit nach Tschernobyl in den nächsten Jahrzehnten auftreten werden."

Freilich: Diese WHO- Studie, die zur offiziellen Tschernobyl-Verharmlosung durch die WHO selbst in augenfälligem Widerspruch steht,  ist Professor Lengfelder zwar bekannt geworden, offiziell aber ist sie "intern", sie wird also der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis gebracht. Wie erklärt sich nun das merkwürdige Verhalten der doch immerhin für die Gesundheit der Weltbevölkerung zuständigen UNO-Organisation?

Bündnis gegen die Wahrheit
Dafür gibt es eine Erklärung, die wiederum nur einem kleinen Kreis von Kennern bekannt sein dürfte. Denn eine Abmachung, die im Jahre 1959 zwischen WHO und der Internationalen Atomenergiebehörde geschlossen wurde, sorgt bis heute dafür, daß die WHO, Weltgesundheit hin oder her, bei ihren öffentlichen Äußerungen zu Folgen der Atomenergie vor allem auf die Interessen der Atomenergie Rücksicht zu nehmen hat. In dieser Vereinbarung vom 28. Mai 1959 erkennt die WHO zunächst einmal an, daß die Internationale Atomenergiebehörde "vor allem die Aufgabe hat, Forschung, Entwicklung und praktische Anwendung der Atomenergie für friedliche Zwecke weltweit zu fördern". Auf dieser Grundlage unterwirft sich die WHO in Art III Absatz 1 dieser Vereinbarung der vermeintlichen Notwendigkeit, "gewisse Einschränkungen zur Wahrung vertraulicher Informationen anzuwenden."
Wären all diese "vertraulichen Informationen" wirklich bekannt, so würden, mutmaßen auch  eher sachliche Mediziner wie Pflugbeil und Lengfelder, den Initiatoren einer Debatte um verlängerte Restlaufzeiten auch hierzulande ein paar heftigere Brocken Widerspruch um die Ohren fliegen.

Der Praktiker: "Atomenergie ist unethisch"
Angesichts krebserkrankter Kinder und angesichts von zwanzigjährigen jungen Frauen mit Brustkrebs, die er behandeln muß, mag Professor Lengfelder jedenfalls  die statistischen Haarspaltereien abgehobener Kommissionen ebenso wenig mehr hören wie Rettungsargumente für die Kernenergie:

"Das Risiko trägt die Allgemeinheit, den Nutzen, nämlich den sehr profitablen Gewinn, den bekommen die Aktionäre und die Unternehmen, das heißt, diejenigen, die das Risiko tragen, haben nicht den Gewinn davon. Und deswegen halte ich das Ganze wegen dieses ungeheuren Schadenspotentials, das ja real da ist und das man in Tschernobyl nachvollziehen kann, halte ich den Betrieb von Atomkraftwerken für unethisch."

Interview mit Sebastian Pflugbeil als
Mp3-Sound-Datei zum Download. (ca. 8 MB).

Interview mit Professor Dr. Edmund Lengfelder als
Mp3-Sound-Datei zum Download. (ca. 19 MB).


Online-Flyer Nr. 41  vom 25.04.2006



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