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Literatur
Der Fortsetzungsroman in der NRhZ - Folge 17
"Zwielicht"
von Erasmus Schöfer
Kolenda trödelte weiter im zweiten Gang am hölzernen Kühlturm vorbei zur Alten Kolonie, da wehte ihn manches noch an im Vorbeiziehn mit dem überraschenden Hauch von verfremdetem Wiedererkennen, eine Straßenecke, paar Laternen, die fast unveränderten Siedlungshäuser.
Auch hier kaum Menschen, seltsam, außer ein paar ballspielenden Kindern. Alles doppelt belichtet, ein Film in zwei Zeiten, gegenwartsvergangen, spult rückwärts in den Schacht der Gedächtnisse.
Das war unser Haus. Fast zwanzig Jahr mein Schneckengehäuse. Die Mutterschnecke steckt noch drin. Daneben hat Siggi gewohnt. Der ist mir ertrunken in der Lippe der beste Freund. Erstmal weiter. Hinter siebenundzwanzig im Ziegenstall das Duett der Zungenkuss mit dem Lehrmädchen Sonja, Uraufführung ohne Probe, viele Wiederholungen. Der Schulweg dreihundert Meter lange Freiheit unter Linden mit Siggi bis zu dem Tor in unsre erste Zuchtanstalt - das hat ja tatsächlich auch einen gotischen Spitzbogen und Türme wien Burgtor, haben die sich was kosten lassen die kaiserlich preußischen Zechenherrn: anständige Wohnhäuser für die Kumpelfamilien, anständige Schulen für die kleinen Rabauken den Maulwurfnachwuchs.
Herr Surén hat den Rohrstock durch den Zusammenbruch gerettet, die Zuchtrute für uns war nicht schwarzweißrot und nicht schwarzrotgold sondern gelb. Pfiff bei jedem Hieb. Die Straßen waren breit, die Häuser mit Abstand gebaut, übersichtlich, keine miefigen Aufstandsbrutstätten wie die Berliner Proletenkasernen. Jeder Kumpelfamilie den Gemüsegarten und einen Stall für Schwein und Ziege. Die Urform der Belegschaftsaktie wahrscheinlich. Die Häuserverwalter der Zeche hatten jederzeit Zutritt, Heimlichkeiten ausgeschlossen. Sowieso hatten alle ihre Nasen beim Nachbarn im Kochtopf.
Nur über mich wusste keiner Bescheid. Ich auch nicht. Ich war das unbekannte Geheimnis.
Kolenda fuhr die Delbrückstraße zurück bis zur Nummer Zwölf, noch immer kaum parkende Pekawes auf den Straßen der Siedlung. Vier Häuser vier Eingänge in einem Gebäude, Nummern Zwölf bis Fünfzehn. Das verschossene fleckige Ocker der Fassaden. Paar braune Fachwerkbalken im Obergeschoss. Nummer Vierzehn war Siggi Masur mit seinen drei Geschwistern, Nummer Dreizehn der röchelnde Taubenvater Lichtenbrink mit Tochter und Fünfzehn der Grubenelektriker Brauer, Frau und drei Töchter. Längst gestorben der Opa, klar, und die andern? Witwe Kolenda lebt, der Vorgarten ist leidlich gepflegt, die Fenster geputzt. Sie wird in der Küche sitzen. Wo sonst.
Er schritt zögernd auf dem schmalen Plattenweg zum Hintereingang. Er wollte sie diesmal wirklich umarmen. Mindestens. Etwas nachholen. Gutmachen? Vielleicht. Das Moos in den Ritzen war ungewohnt wie die Gräser am Rand. Solch unkontrolliertes Gewächs hat Wilhelm Kolenda nicht geduldet. Mutters Zinnien und Astern, schön. Mit Blumenliebe gepflegt. Wie immer. Blumenstrauß hätt ich ihr auch mitbringen können. Den Ziegenstall hat noch der Alte zur Laube umgebaut. Die Flurtür wie eine fast vergessne Verwandte, die soliden gebeizten Bretter - als er die Klinke niederdrückte, erkannte seine Hand sie sofort, obwohl er mit Sicherheit nie sie bewusst angefasst hatte. Die Tür war unverschlossen. Wie immer. Knarrte. Halbdunkel im Flur. Die Küchentür angelehnt, Licht im Spalt. Er wartete nicht länger, klopfte mit dem Knöchel. Schob die Tür langsam auf.
Da saß sie. Neben dem Tisch, auf dem die Zeitung lag und ihre Brille, ihm entgegen schauend, mit freundlichen Augen in ihrem großen faltendurchfurchten Gesicht, streckte die Arme zu ihm aus: Mein Junge. Da bist du. Sagte sie ruhig mit der sehr gewissen, vertrauten Stimme, die ihm gleich durchging ins Herz.
Er trat auf sie zu, ergriff ihre Hände, sie zog ihn zu sich heran, und da er sie im Sitzen nicht umarmen konnte, fand er sich wie von selbst auf den Knien vor ihr, die Arme um ihre breiten Hüften, den Kopf auf ihrer Schürze, und als er ihre Hände leicht auf seinen Haaren spürte, drückte etwas Dickes Qualliges seinen Hals hoch, ein Schlucken, brach sich Bahn durch den Mund als Schluchzer, die er nicht verstand nicht wollte, die heftiger nur wurden durch das Streicheln ihrer Hände über seinen Kopf, das den Schamdamm zerstreichelte und während er mit einem ungläubigen Staunen die unaufhaltbaren Schluchzer aus seiner Brust dringen fühlte, das Zittern seiner Schultern, lief dabei der Gedanke mit, dass er es grad noch bis in dieses Ziel geschafft hatte die Flut aufzuhalten, die sich unbemerkt in ihm angestaut hatte.
Die alte Frau sagte nichts, gab nur leise tröstende Mutterlaute von sich, die von sehr weit her in den Tumult seiner Gefühle drangen, sich auf sie legten, mit sanfter, weicher Beharrlichkeit seine Verstörung dämpften. Als er den Kopf hob, mit noch verschleierten Augen aufsah in ihr Gesicht, sagte sie Mein armer Junge, und er, mit neu aufsteigenden Tränen Ach Mutter.
Jetzt bekämpfte er aber das Wasser mit seinem Taschentuch, wischte die Augen trocken, schnaubte die rotzige Nase frei. Und sah, dass seine Mutter lächelte. Und auch die zwei Tränenspuren auf ihren Wangen. Er schüttelte ein bisschen den Kopf, verstand nichts von dem was grade passiert war, wäre auch gern noch in der Stellung geblieben, in die er willenlos geraten war, ihre knotigen Hände jetzt auf seinen, aber die Knie schmerzten ihn so stark, dass er langsam sich aufrichtete und sich abstützend auf ihren Oberschenkeln aufstand. Sah sich um in der Küche ohne Aufmerksamkeit, setzte sich auf den zweiten Stuhl am Tisch, brachte ein verlegnes Lächeln ins Gesicht wie er seine Mutter nun ansah, sagte: Ich glaub ich bin zu lang weggeblieben -
Vor deiner Mutter musst du dich nicht schämen Armin, antwortete sie die Wahrheit, die er auch dachte, aber vor sich selbst?
Erasmus Schöfers "Die Kinder des Sisyfos", Bd.1 "Ein Frühling irrer Hoffnung", Bd.2 "Zwielicht" und Bd. 3 "Sonnenflucht", Dittrich Verlag Köln, ISBN 3-920862-58-9
Externe Links:
www.dittrich-verlag.de
Online-Flyer Nr. 37 vom 28.03.2006
Der Fortsetzungsroman in der NRhZ - Folge 17
"Zwielicht"
von Erasmus Schöfer
Kolenda trödelte weiter im zweiten Gang am hölzernen Kühlturm vorbei zur Alten Kolonie, da wehte ihn manches noch an im Vorbeiziehn mit dem überraschenden Hauch von verfremdetem Wiedererkennen, eine Straßenecke, paar Laternen, die fast unveränderten Siedlungshäuser.
Auch hier kaum Menschen, seltsam, außer ein paar ballspielenden Kindern. Alles doppelt belichtet, ein Film in zwei Zeiten, gegenwartsvergangen, spult rückwärts in den Schacht der Gedächtnisse.
Das war unser Haus. Fast zwanzig Jahr mein Schneckengehäuse. Die Mutterschnecke steckt noch drin. Daneben hat Siggi gewohnt. Der ist mir ertrunken in der Lippe der beste Freund. Erstmal weiter. Hinter siebenundzwanzig im Ziegenstall das Duett der Zungenkuss mit dem Lehrmädchen Sonja, Uraufführung ohne Probe, viele Wiederholungen. Der Schulweg dreihundert Meter lange Freiheit unter Linden mit Siggi bis zu dem Tor in unsre erste Zuchtanstalt - das hat ja tatsächlich auch einen gotischen Spitzbogen und Türme wien Burgtor, haben die sich was kosten lassen die kaiserlich preußischen Zechenherrn: anständige Wohnhäuser für die Kumpelfamilien, anständige Schulen für die kleinen Rabauken den Maulwurfnachwuchs.
Herr Surén hat den Rohrstock durch den Zusammenbruch gerettet, die Zuchtrute für uns war nicht schwarzweißrot und nicht schwarzrotgold sondern gelb. Pfiff bei jedem Hieb. Die Straßen waren breit, die Häuser mit Abstand gebaut, übersichtlich, keine miefigen Aufstandsbrutstätten wie die Berliner Proletenkasernen. Jeder Kumpelfamilie den Gemüsegarten und einen Stall für Schwein und Ziege. Die Urform der Belegschaftsaktie wahrscheinlich. Die Häuserverwalter der Zeche hatten jederzeit Zutritt, Heimlichkeiten ausgeschlossen. Sowieso hatten alle ihre Nasen beim Nachbarn im Kochtopf.
Nur über mich wusste keiner Bescheid. Ich auch nicht. Ich war das unbekannte Geheimnis.
Kolenda fuhr die Delbrückstraße zurück bis zur Nummer Zwölf, noch immer kaum parkende Pekawes auf den Straßen der Siedlung. Vier Häuser vier Eingänge in einem Gebäude, Nummern Zwölf bis Fünfzehn. Das verschossene fleckige Ocker der Fassaden. Paar braune Fachwerkbalken im Obergeschoss. Nummer Vierzehn war Siggi Masur mit seinen drei Geschwistern, Nummer Dreizehn der röchelnde Taubenvater Lichtenbrink mit Tochter und Fünfzehn der Grubenelektriker Brauer, Frau und drei Töchter. Längst gestorben der Opa, klar, und die andern? Witwe Kolenda lebt, der Vorgarten ist leidlich gepflegt, die Fenster geputzt. Sie wird in der Küche sitzen. Wo sonst.

Da saß sie. Neben dem Tisch, auf dem die Zeitung lag und ihre Brille, ihm entgegen schauend, mit freundlichen Augen in ihrem großen faltendurchfurchten Gesicht, streckte die Arme zu ihm aus: Mein Junge. Da bist du. Sagte sie ruhig mit der sehr gewissen, vertrauten Stimme, die ihm gleich durchging ins Herz.
Er trat auf sie zu, ergriff ihre Hände, sie zog ihn zu sich heran, und da er sie im Sitzen nicht umarmen konnte, fand er sich wie von selbst auf den Knien vor ihr, die Arme um ihre breiten Hüften, den Kopf auf ihrer Schürze, und als er ihre Hände leicht auf seinen Haaren spürte, drückte etwas Dickes Qualliges seinen Hals hoch, ein Schlucken, brach sich Bahn durch den Mund als Schluchzer, die er nicht verstand nicht wollte, die heftiger nur wurden durch das Streicheln ihrer Hände über seinen Kopf, das den Schamdamm zerstreichelte und während er mit einem ungläubigen Staunen die unaufhaltbaren Schluchzer aus seiner Brust dringen fühlte, das Zittern seiner Schultern, lief dabei der Gedanke mit, dass er es grad noch bis in dieses Ziel geschafft hatte die Flut aufzuhalten, die sich unbemerkt in ihm angestaut hatte.
Die alte Frau sagte nichts, gab nur leise tröstende Mutterlaute von sich, die von sehr weit her in den Tumult seiner Gefühle drangen, sich auf sie legten, mit sanfter, weicher Beharrlichkeit seine Verstörung dämpften. Als er den Kopf hob, mit noch verschleierten Augen aufsah in ihr Gesicht, sagte sie Mein armer Junge, und er, mit neu aufsteigenden Tränen Ach Mutter.
Jetzt bekämpfte er aber das Wasser mit seinem Taschentuch, wischte die Augen trocken, schnaubte die rotzige Nase frei. Und sah, dass seine Mutter lächelte. Und auch die zwei Tränenspuren auf ihren Wangen. Er schüttelte ein bisschen den Kopf, verstand nichts von dem was grade passiert war, wäre auch gern noch in der Stellung geblieben, in die er willenlos geraten war, ihre knotigen Hände jetzt auf seinen, aber die Knie schmerzten ihn so stark, dass er langsam sich aufrichtete und sich abstützend auf ihren Oberschenkeln aufstand. Sah sich um in der Küche ohne Aufmerksamkeit, setzte sich auf den zweiten Stuhl am Tisch, brachte ein verlegnes Lächeln ins Gesicht wie er seine Mutter nun ansah, sagte: Ich glaub ich bin zu lang weggeblieben -
Vor deiner Mutter musst du dich nicht schämen Armin, antwortete sie die Wahrheit, die er auch dachte, aber vor sich selbst?
Erasmus Schöfers "Die Kinder des Sisyfos", Bd.1 "Ein Frühling irrer Hoffnung", Bd.2 "Zwielicht" und Bd. 3 "Sonnenflucht", Dittrich Verlag Köln, ISBN 3-920862-58-9
Externe Links:
www.dittrich-verlag.de
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