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Aktueller Online-Flyer vom 19. August 2025  

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Inland
Kritik an den "Eckpunkten" auf dem Weg zu einer neuen Linkspartei
Für eine Linke, die diesen Namen verdient
Von Bernd Koenitz und Ekkehard Lieberam

Öffentliche Kritik an den "Eckpunkten auf dem Weg zu einer neuen Linkspartei" kommt von zwei PDS-Mitgliedern aus Sachsen. Ekkehard Lieberam ist Prof. für Staatstheorie- und Verfassungsrecht, Bernd Koenitz Prof. für Sprachwissenschaft. Sie sind Vorstandsmitglieder in Linkspartei-Basisgruppen in Leipzig und Mitglieder des Marxistischen Forums Sachsen. Die Redaktion.

Die vorliegenden "Eckpunkte auf dem Weg zu einer neuen Linkspartei" vom 23. Februar sind von ihrem Anspruch her erfreulich zurückhaltend. In der Präambel wird von einer "Diskussionsgrundlage" gesprochen. Sie plädieren für eine Debatte um Selbstverständnis programmatische Leitvorstellungen, Reformprojekte und politische Strategie. Sie wollen dazu "Anstoß" sein. Wir kommen dieser Aufforderung als "Angestoßene" gerne nach, weil wir der Meinung sind, dass diese Eckpunkte nicht überzeugend sind.

Der entfesselte Kapitalismus gleicht dem berühmten Hexenmeister

Die Charakterisierung der bestehenden Gesellschaft als Gesellschaft mit "Profitdominanz" wird in keiner Weise analytisch untersetzt. Sie wird gewissermaßen als Glaubensbekenntnis verkündet. Sie suggeriert ein falsches Bild der Gesellschaft, geteilt in profitdominiert und profitfrei. In den Eckpunkten wird richtig von der Aufkündigung des "wohlfahrtsstaatlichen Kompromisses" und von einer "neoliberalen Entwicklung des Kapitalismus" gesprochen, aber zugleich der Eindruck vermittelt, in der "heutigen Gesellschaft könne ein "emanzipatorischer Prozess" als "Einstieg in einen alternativen Entwicklungsweg" begonnen werden.

Analysiert man die heutige Welt genauer, so erweist sich dies bestenfalls als Wunschdenken oder Illusion. Der neoliberale Kapitalismus ist Resultat "einer weltweiten neoliberalen, exakter imperialistischen Offensive auf ökonomischem, ideologischem und militärischem Gebiet" (Uwe-Jens Heuer). Er ist ein Kapitalismus, der entfesselt von der Systemkonkurrenz mit dem Realsozialismus erneut zu sich selbst gekommen ist und der angesichts der mikroelektronischen Produktivkraftrevolution wieder einmal dem Hexenmeister gleicht, der die unterirdischen Gewalten, die er heraufbeschwor, nicht mehr zu bändigen vermag. Vor allem infolge des Fehlens ernsthafter Gegenkräfte ist seine derzeitige Herrschaft außerordentlich robust. Politisch setzt er ungehemmt, "das Wollen der ökonomischen Verhältnisse" durch und macht überhaupt das, wozu ihn seine inneren Gesetzmäßigkeiten drängen: Maximalprofite realisieren, den Konkurrenzkampf verschärfen, alle gesellschaftlichen Bereiche der Kapitalverwertung unterwerfen, Kriege führen, sozialpolitische Errungenschaften abbauen. Deutlich wird wieder einmal: Wir leben in einer ganzheitlichen Profitgesellschaft mit bestimmten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten, die die Möglichkeiten linker Politik außerordentlich einschränken.

Die kapitalistische Gesellschaft ist eine - wenn auch widersprüchliche - Totalität, in der Politik, Staat und Recht keine autonomen Sphären sind. Das Phänomen einer nicht unerheblichen Berücksichtigung sozialer Interessen der Lohnabhängigen in der Staatspolitik macht deutlich, dass der kapitalistische Staat sowohl Instrument der Kapitalherrschaft als auch Ausdruck des Klassenkräfteverhältnisses ist. Die Aufkündigung des sozialstaatlichen Klassenkompromisses ist Konsequenz der derzeit gegebenen Schwäche der Gegenkräfte. Seine Erosion im Sinne einer Stärkung der "Kapitaldominanz" wird sich unweigerlich fortsetzen, wenn es nicht zu einer grundlegenden Stärkung dieser Gegenkräfte kommt. Die seitenlange Aufzählung wünschenswerter sozialer und demokratischer Reformen in den Eckpunkten mag in einem Aktionsprogramm als Benennung von Aufgaben, für die man kämpfen muss, ihren Platz haben. In einem Grundsatzdokument wird damit der falsche Eindruck erweckt, die Verwirklichung solcher Reformalternativen sei eine Sache aktueller Möglichkeiten linker Politik oder es gehe um die Überzeugungskraft "vernünftiger" Reformvorschläge bei demnächst anstehenden Koalitionsverhandlungen auf Landes- oder Bundesebene.

Notwendig eine Strategie zur Schaffung von Gegenmacht.

Die Eckpunkte gehen davon aus, dass der heutige Kapitalismus "Entwicklungsmöglichkeiten" hervorgebracht hat, "die eine andere Welt möglich machen". Mittels der "Bewegung gegen die erneute Entfesselung des Kapitalismus" müsse die "Vorherrschaft des Neoliberalismus" überwunden und eine Transformation hin zu einer sozial gerechten und demokratischen Gesellschaft eingeleitet werden. Aus unserer Sicht ist das allzu nebulös. Wir meinen: erforderlich ist eine Strategie der Schaffung politischer, organisatorischer und geistig-kultureller Gegenmacht. Eine Chance für die Zurückdrängung des Neoliberalismus wird es nur dann geben, wenn sich im praktisch-politischen Kampf die Lohnabhängigen und die Ausgegrenzten zusammentun, um das Klassenkräfteverhältnis grundlegend zu ihren Gunsten zu verändern.

Die "neuen Entwicklungsmöglichkeiten" sind entweder (wie die "Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums") versperrt durch die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft oder (wie die "Individualität und die Autonomie für Millionen Menschen") bloße Leerformeln. Richtig wird festgestellt, dass der neoliberale Kapitalismus mit "gravierenden ... sozialen Gegensätzen" verknüpft ist und es "wieder offensichtlicher wird, dass wir in einer Klassengesellschaft leben.". Präziser formuliert: Ein sehr wesentliches Merkmal des gegenwärtigen Kapitalismus ist die soziale Polarisierung, die Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen Kapital und Arbeit. Diese Entwicklung in der gesellschaftlichen Grundstruktur hat unvermeidlich Konsequenzen für die politische Sphäre. Die angeblich erreichte dauerhafte Abkopplung des politischen Denkens von der Klassenlage ist ein Märchen. Die Geschichte hat nicht aufgehört, eine Geschichte von Klassenkämpfen zu sein. Die Klassenauseinandersetzungen des Jahres 2004, vor allem in Form von Abwehrkämpfen geführt, haben das deutlich gemacht. In der Politik geht es nun einmal um den Kampf widerstreitender Klasseninteressen.

Zutreffend wird in den "Eckpunkten" eingeschätzt, dass in den Betrieben und in der Gesellschaft ein "Klassenkampf von oben" geführt wird. Warum ist dann aber nichts darüber zu lesen, welche neuen Anforderungen für einen "Klassenkampf von unten" sich heute ergeben? Wir kommen nicht weiter, wenn wir nicht wahr haben wollen, dass die Kernfrage linker Politik darin besteht, "die sich verändernde Arbeiterklasse als wesentlichen Akteur, als Subjekt der Veränderungen zu begreifen" (Edeltraut Felfe). Überhaupt fehlen in den "Eckpunkten" Aussagen über die Zusammenhänge von linker Politik, den realen Interessen der Lohnabhängigen, der Arbeitslosen und Ausgegrenzten sowie deren politischem Handeln. Ein bemerkenswertes Ergebnis der Bundestagswahlen 2005 war ein nicht zu übersehendes spontanes Streben in der Lohnabhängigenklasse nach politischer Unabhängigkeit von den auf die Interessen des großen Kapitals ausgerichteten neoliberalen Parteien. Nur wenn die "neue Linke" in ihrer Politik diesem Streben gerecht wird, wird sie weitere Erfolge erzielen.

Aus der Geschichte wissen wir, dass spontane Protestbewegungen gegen die Politik des Kapitals kommen und gehen. Wenn es nicht gelingt, sie als organisierte politische und geistige Kraft zu verstetigen, dann sind die politischen Erfolge gering. Die Schwäche der organisierten Gegenkräfte ist eben nur die Kehrseite der bestehenden stabilen hegemonialen Herrschaftskonstellation zu Gunsten des Kapitals. Der Erfolg der "neuen Linken" wird davon abhängen, ob sie sich als Teil von Gegenmacht und Verfechter einer Gegenmachtstrategie profiliert. Die Schaffung von Gegenmacht als Weg des Kampfes gegen den Neoliberalismus erfordert kämpferische Gewerkschaften, ein Bündnis mit erstarkenden sozialen Bewegungen, eine einflussreiche politische Opposition in den Parlamenten, überhaupt geistig-kulturelle Macht und Klartext in den politischen Auseinandersetzungen. Nach allen historischen Erfahrungen wird dies ohne Verbindung von organisierter Bewegung und Marxismus als Theorie progressiver Gesellschaftsveränderung nicht zu haben sein.

Markenzeichen - Widerstand gegen Neoliberalismus

In den Eckpunkten wird der Anspruch erhoben, "eine linke Partei zu bilden, wie es sie seit 1914 nicht gegeben hat - Linke einigend, für Freiheit und Gleichheit stehend, konsequent für Frieden kämpfend. demokratisch und sozial, offen und plural, streitbar und tolerant." Wir vermissen hier eine klare Aussage darüber, was denn der Inhalt dieser Einigung sein soll, zumal in den Reihen der Linkspartei einflussreiche Politiker sind, die dem Menschenrechtsimperialismus ihre Reverenz erweisen und neoliberale Politikinhalte exekutieren. Aus unserer Sicht kann es bei der Einigung einer neuen Linken nur um eine Linke gehen, die diesen Namen tatsächlich verdient. Ungeachtet aller sonstigen Differenzpunkte verlangt dies in der Bundesrepublik Einigkeit im konsequenten Widerstand gegen den Neoliberalismus und dabei auch gegen die "Regierungslinke".

Wenn verkündet wird, nach 92 Jahren habe man in Gestalt von zwei Wörtern - "Linke einigend" - die politische Form einer linken Partei gefunden, dann hat das zwei Seiten. Zum einen löst dies Verwunderung aus, weil irgendwie den Eindruck erweckend, alle Differenzen innerhalb der deutschen Linken - zwischen Vaterlandsverteidigern, Kriegsgegnern, sozialistischen Revolutionären, Partnern der Freikorps, Reformsozialisten, Sozialliberalen usw. - seien vermeidbare Missverständnisse gewesen. Zum anderen ist es natürlich richtig, dass es in der deutschen Geschichte bittere Versäumnisse gab, die Linke, ungeachtet der in ihr bestehenden Differenzen zu vereinigen: gegen den Nazifaschismus, gegen Remilitarisierung, gegen Sozialabbau, gegen die kapitalistische Restauration in Ostdeutschland.

Heute ist zweifelsohne auf dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten Jahre die Chance gegeben, ungeachtet programmatischer Differenzen, eine linke Einheit zu schaffen: zwischen Sozialisten, Kommunisten, sozial engagierten Christen und konsequenten Sozialstaatsverteidigern. Die Wahrnehmung dieser Chance wird vor allem durch eine grundsätzliche inhaltliche Differenz gefährdet, die zumindest innerhalb der Linkspartei bereits deutlich ausgeprägt ist. Die "Geschäftsgrundlage" einer neuen Linken muss heute der gemeinsame Kampf gegen Neoliberalismus und Kriegsführung sein. Dies aber wird in der praktischen Politik der Linkspartei in einem nicht unerheblichen Maße missachtet. "Man kann nicht einerseits rote Fahnen schwenken, aber andererseits sich an der Privatisierung beteiligen" (Klaus Ernst). Die Beschwörung der Losung "Freiheit und Gleichheit" in den Eckpunkten als inhaltliche Grundlage der Einigung ist untauglich, hier eine Grenze zu ziehen. Die Einigung der Linken muss ein klar erkennbares "Markenzeichen" haben: Nein zum Sozialabbau und nein zum Krieg. "Wer neoliberalen Politikinhalten anhängt, ..., ist besser in einer anderen Partei als der neuen Linken aufgehoben." (Oskar Lafontaine). Wenn dies nicht geschieht, sind Unglaubwürdigkeit und Vertrauensverlust vorprogrammiert.

Regierungsbeteiligung demobilisiert den Widerstand
Die "Beteiligung in Regierungen" offenbar auch auf Bundesebene wird in den Eckpunkten als "Mittel gesellschaftlicher Umgestaltung" bezeichnet, "wenn die dafür notwendigen Bedingungen gegeben sind." Maßstäbe dafür sollen unter anderem sein: "die Durchsetzung wichtiger Reformalternativen, der Stopp der neoliberalen Offensive". Es erfolgt dabei keine Distanzierung von Politikern der Linkspartei, die als Minister oder Abgeordnete Tarifflucht, Privatisierung und Arbeitsplatzvernichtung mit durchgesetzt haben.

Unsere Position ist eine dreifache: Die Realität der derzeit stabilen hegemonialen Herrschaftskonstellation verbietet es grundsätzlich, sich an Landesregierungen oder an einer Bundesregierung zu beteiligen. Die konkreten praktisch-politischen Erfahrungen mit den Regierungsbeteiligungen in Berlin und Meck-Pom bestätigen dies und machen deutlich, dass die Linkspartei in diesen Ländern bereits knietief in neoliberale Politik involviert ist. Regierungsbeteiligung ist derzeit keine bloße Sackgasse; sie demobilisiert den Widerstand, deformiert die Partei und konterkariert die einzig taugliche Strategie im Kampf gegen den Neoliberalismus - die Schaffung von Gegenmacht.

Die Linke in Deutschland hat in ihrer Geschichte sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Beteiligung an Regierungen bzw. auch mit der Verweigerung einer derartigen Beteiligung gemacht, die hier im einzelnen nicht nachgezeichnet, allenfalls angedeutet werden können. Die Debatten um diese Frage berührten grundsätzliche, aber auch von der Situation abhängige Aspekte linker Politik. Für Karl Marx war die Regierungsbeteiligung der proletarischen Partei 1850 davon abhängig, ob "die Verhältnisse es erlauben, ihre Ansichten durchzuführen." Rosa Luxemburg sah sie 1899 in der Auseinandersetzung mit dem Millerandismus als prinzipielle, aber auch als taktische Frage. "In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle der oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten." Natürlich müsse die Sozialdemokratie, um praktisch zu wirken, "alle erreichbaren Positionen im gegenwärtigen Staate einnehmen, überall vordringen". Dies gelte für die Parlamente und die Kommunen insofern, als es um "Positionen" ginge, von denen aus man den Klassenkampf mit der Bourgeoisie führen könne. Hinsichtlich der Regierung sei dies nicht der Fall, weil die Regierung als "einheitliche Maschinerie der Gesetzesausführung" keinen Raum in ihrem Rahmen für eine Opposition lasse. Ausdrücklich schränkte sie ein, dass ein "Anteil" des Proletariats an der bürgerlichen Regierung notwendig sei, wenn es sich "um die demokratischen Errungenschaften wie die Republik handelt".

Diese Positionen haben sich im wesentlichen bestätigt. Einige weitere Erfahrungen sind hinzugekommen (wobei hier lediglich von denen der entwickelten kapitalistischen Industrieländer die Rede ist). Dazu gehört die positive Bilanz insbesondere der Volksfrontregierung 1936 in Frankreich bei der Abwehr des Faschismus, aber auch bei der Erkämpfung erheblicher sozialer Verbesserungen. Dazu gehören auch die Erfahrungen mit Linksregierungen und Mitte-Links-Regierungen unter Einschluss von Kommunisten oder Linkssozialisten seit den sechziger Jahren mehrfach in Frankreich, Italien, in nordeuropäischen Ländern und nunmehr auch - auf Länderebene - in der Bundesrepublik. Auch unter den Bedingungen der globalen Systemkonkurrenz mit dem Realsozialismus waren die Erfahrungen bereits unverkennbar ambivalent. Die Durchsetzung einiger sozialer Verbesserungen wurde erkauft mit einem deutlichen Verlust an Kampfkraft der Linksparteien.

Nach dem Ende des Realsozialismus als globaler Alternative steht natürlich weiter das Problem einer Regierungsbeteiligung im Falle der Bedrohung der "demokratischen Errungenschaften". Aber ansonsten hat sich die Situation verändert. Alle Analysen weisen darauf hin: Die "Verhältnisse" erlauben es derzeit einer linken Partei, die sich als Teil der Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus versteht, nicht, "ihre Ansichten durchzuführen". Die punktuelle Abmilderung einiger sozialer Grausamkeiten ändert allenfalls marginal Tempo und Ausmaß des Wegräumens des Sozialstaates. Regierungsbeteiligung heute führt unweigerlich zur Einordnung in die neoliberale Klassenkampfführung von oben mit entsprechenden verheerenden Folgen: Glaubwürdigkeitskrise bei den von der neoliberalen Politik Betroffenen, Veränderung des politischen Charakters der Linkspartei in Richtung Anpassung. Die Entwicklung eigenständiger Interessen der Parteibürokratie verstärkt sich bis hin zu einer Interessenallianz mit den Führungen der neoliberalen Parteien. Die Parole des Widerstandes gegen den Neoliberalismus verkommt zur bloßen Rhetorik im Kampf um Wählerstimmen.

Die DDR - Erfahrungsobjekt für eine sozialistische Neuorganisation

Die Eckpunkte plädieren dafür, Erfahrungen jener Kräfte zu bewahren und zu erschließen, "die gemeinsam unsere neue Partei bilden". Über die Erfahrungen der Linkspartei als eine Partei, die aus der SED hervorgegangen ist, die eine sozialistische Gesellschaft auf deutschem Boden gestalten wollte, wird nichts Positives gesagt. Negativ - augenscheinlich auch auf die DDR bezogen - wird kategorisch formuliert: "Wir lehnen jede Form von Diktatur ab und verurteilen den Stalinismus als verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus." An die Stelle einer differenzierten Wertung soll offenbar die Totalverurteilung treten. Unsere Position ist eine andere. Wer als Alternative zum neoliberalen Kapitalismus für einen neuen demokratischen Sozialismus eintritt, muss auch über die DDR als "Erfahrungsobjekt" - im positiven wie im negativen Sinne des Wortes - "für eine sozialistische Neuorganisation nachdenken" (Ingo Wagner).

Insofern verteidigen wir auch weiter die Position, dass die Einleitung einer über den Kapitalismus hinausgehenden Entwicklung, wie sie im Osten Deutschlands vollzogen wurde, historisch gerechtfertigt gewesen und grundsätzlich positiv zu beurteilen und zu würdigen ist.

Im PDS-Programm von 1993 erfolgt eine abgewogene Wertung: "Die antifaschistisch-demokratischen Veränderungen im Osten Deutschlands und später das Bestreben, eine sozialistische Gesellschaft zu gestalten, standen in berechtigtem Gegensatz zur Rettung des Kapitalismus in Westdeutschland .... Zum Sozialismusversuch in der DDR gehören wertvolle Ergebnisse und Erfahrungen im Kampf um soziale Gerechtigkeit, um die Bestimmung der Ziele der Produktion im Interesse der werktätigen Bevölkerung, um ein solidarisches und friedliches Gemeinwesen auf deutschem Boden. Es gab jedoch auch Fehler, Irrtümer, Versäumnisse und selbst Verbrechen. ... Für die Geschichte, Gegenwart und Zukunft Deutschlands wie auch für die Politik demokratischer Sozialisten in diesem Land ist es ebenso notwendig, sich mit den Defiziten der DDR-Gesellschaft auseinanderzusetzen, wie die Berechtigung und Rechtmäßigkeit einer über den Kapitalismus hinausgehenden Entwicklung auf deutschem Boden zu verteidigen."

Diese programmatische Position der PDS wurde 2003 in das neue Chemnitzer Programm übernommen. Allerdings wurde der letzte Satz gestrichen. Auch wurde nunmehr formuliert, es habe "schmerzliche Fehler, zivilisatorische Versäumnisse und Verbrechen" gegeben. Die Eckpunkte reduzieren nunmehr alles, was zu sagen ist, auf "den verbrecherischen Missbrauch des Sozialismus".

Wenn es in den Eckpunkten heißt, dass den Ostdeutschen "eine im Vergleich zur Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung ausgeprägtere kapitalismuskritische Einstellung und das größere Verlangen nach sozialer Gleichheit" eigen ist, so ist wohl doch zu fragen, worin denn die Ursache für diesen Umstand zu suchen sein soll, wenn nicht vor allem in Vorzügen der Gesellschaftsordnung der DDR und der mit ihr verbundenen tiefen Verinnerlichung auch politischer Überzeugungen, kapitalismusfremder Wertvorstellungen und Haltungen. Zum positiven Erbe der DDR gehören, wie soziologische Untersuchungen in Ostdeutschland belegen, eben auch heute noch "geringere Ungleichheiten im sozialen Status" (Gunnar Winkler), spezifische solidarische Denk- und Verhaltensmuster, eine sehr kritische Einstellung zum Kapitalismus und eine Befürwortung der "sozialistischen Idee" von etwa 70 Prozent der Befragten (in Westdeutschland bei 50 Prozent). Die neue Linke kann und darf auf dieses kritische Potenzial im Kampf für eine andere Gesellschaft nicht verzichten.


Online-Flyer Nr. 35  vom 14.03.2006



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