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Medien
Der Kölner Autor Ingo Niebel über das Experiment Venezuela - und wie es mit uns zusammenhängt.
"Venezuela not for Sale"
Von Hans-Detlev v. Kirchbach

"Man sagt, Chavez sei demokratisch gewählt. Das war Hitler auch." - So wetterte der CDU-Abgeordnete Klaus Jürgen Hedrich am 12. März 2004 im Berliner Reichstag gegen den Präsidenten Venezuelas, anlässlich einer Bundestagsdebatte über dieses mittelamerikanische Land. Und Hedrich ist nicht irgendwer. Er gilt als führender Lateinamerika-Experte seiner Partei und war unter Helmut Kohls Kanzlerschaft sogar Staatssekretär im so genannten Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. US-Verteidigungsminister Rumsfeld war von Hedrich jedenfalls so beeindruckt, dass er dessen Hitler-Vergleich am vergangenen Wochenende wiederholte.

Es muss dieser Chavez also ein ganz furchtbarer Tyrann sein, ein millionenfacher Massenmörder womöglich sogar, wenn ihn ein so herausragender und kompetenter Politiker und Fachmann, der ja als Christ-Demokrat überdies der Wahrheit verpflichtet ist, in unmittelbare Nähe Adolf Hitlers stellt. Da ist kein Vorwurf zu abenteuerlich: Chavez unterstütze die kolumbianische Drogenmafia, wird zum Beispiel behauptet, und auch sein Staatsbesuch im Irak, beim einstigen US-Protegé Saddam Hussein, im Jahre 2000 wird ihm als Kainszeichen seiner Zugehörigkeit zur "Achse des Bösen" aufgebrannt.

Chavez - für Hedrich und Rumsfeld gefährlich wie Hitler
Chavez - für Hedrich und Rumsfeld gefährlich wie Hitler
Foto: Agência Brasil


Der Kölner Hispanologe, Historiker, Journalist und Autor Ingo Niebel kann über soviel agitatorische Wut des offenbar mit Berechnung Amok laufenden CDU-Politikers allerdings nur den Kopf schütteln. Was die intime Kenntnis der spanischsprachigen Welt und insbesondere Lateinamerikas angeht, kann Niebel es mit Herrn Hedrich allemal aufnehmen. Und eines hat er ihm sicherlich voraus: Dass er sich nämlich Venezuela "von unten" angesehen, dass er mit Menschen gesprochen hat, die nach wie vor in Armut leben und dem Präsidenten Chavez unbeirrbar die Stange halten. Aus seinen Erkundungen des Landes zieht Niebel den Schluss: "Venezuela steht nicht zum Verkauf - Venezuela not for sale" - was denn auch den Titel seines kenntnisreichen Buches über den umstrittenen "Modellversuch Venezuela" bildet.

Deutsche Parteistiftungen: Putschunterstützung gegen den gewählten Präsidenten

Der bullige ehemalige Fallschirmjäger-Offizier Hugo Chavez kam mit einem linkspopulistischen Programm gegen Armut und Korruption 1998 an die Macht - durch Wahlen, durch die übrigens im Gegensatz zu Hedrichs Geschichtsklitterung Hitler eben nicht an die Macht gekommen ist. Chavez hingegen gewann seine erste Wahl mit 56 % der Stimmen. Er war zwar 1992 an einem gescheiterten "linken" Offiziersputsch gegen den neoliberalen Präsidenten Carlos Andrés Pérez beteiligt, dessen Sozialabbau-"Reformen" im Sinne des IWF zu gesellschaftlichem Desaster und einem Aufstand der Armen in Caracas geführt hatten. Den ließ Pérez blutig niederschlagen - Bilanz zwischen 300 und 3000 Toten. Der US-genehme Diktator "CAP" wurde 1993 wegen Korruption gestürzt und exilierte in die Vereinigten Staaten.

Ingo Niebel (rechts) und der stv. Vorsitzende des IAI-Freundeskreises Peter Schumann
Ingo Niebel (rechts) und der stv. Vorsitzende des IAI-Freundeskreises
Peter Schumann
Foto: NRhZ-Archiv


1994 kam Chavez aus der Haft frei und strebte nun nicht wieder als Putschist zur Macht, sondern stellte sich zur Wahl. Anders als etwa jener Augusto Pinochet, der sich 1973 in Chile durch einen US-inszenierten blutigen Staatsstreich gegen den demokratisch gewählten Volkspräsidenten Salvador Allende zum diktatorischen Gewalthaber aufschwang. Jubelnd begrüßt übrigens gerade von jenen Blättern, die, wie FAZ und WELT, heute hierzulande systematisch Stimmung gegen den angeblichen venezolanischen "Dikator" Chavez machen - und von führenden Unionspolitikern
wie Dregger und Strauß offen unterstützt. Und wie seinerzeit schon in Chile betreibt, so die Recherchen von Ingo Niebel, die Konrad-Adenauer-Stiftung heute in Venezuela Einflussarbeit mit dem Ziel, den Buhmann Chavez aus dem Amt zu entfernen.

"Einmischung in innere Angelegenheiten" musste selbst der SPD-Venezuela-Experte Lothar Mark im Hinblick auf die Aktivitäten der Konrad-Adenauer-Stiftung in Caracas feststellen: unübersehbar hatte die christdemokratische Parteiagentur im Jahre 2002 zum Beispiel eine Partei namens "Primero Justicia" unterstützt, die an einem gescheiterten - natürlich wiederum von den USA "begleiteten" - Putschversuch gegen den gewählten Präsidenten beteiligt war. Freilich muss Ingo Niebel im Hinblick auf die Positionen deutscher Parteien und Stiftungen in Venezuela auch den Sozialdemokraten bescheinigen, dass sie zwar "verdeckter" operierten als die CDU-Konkurrenz, den "bolivarianischen" Volkstribun Chavez aber ebenso als Diktator diffamierten wie die Union. "Völlig bar jeder Realität" befindet der Autor solche Einordnungen der Chavez-Politik.

"Eine besorgniserregende und negative Kraft"

Die geballte Wut westlicher, insbesondere US-amerikanischer und deutscher Presseorgane und Politikinstitutionen erklärt Niebel denn auch nicht etwa aus angeblichen "Demokratiedefiziten" oder "Menschenrechtsmängeln". Die ja im übrigen immer dann großzügig übersehen werden, wenn denn nur der Öl- und Profitfluss stimmt. Vielmehr macht Niebel eher in der sperrigen Haltung des Chavez´schen Venezuela gegenüber dem Ausverkauf seiner nationalen Schlüsselindustrien und der Demontage sozialer Sicherung die eigentliche Motivationsquelle der Anti-Chavez-Fronde aus. Denn im Jahre 1999 wurde per Volksabstimmung mit 70prozentiger Mehrheit eine Verfassung eingeführt, die eine Privatisierung der Schlüsselindustrien wie Erdöl und -gas sowie der sozialen Sicherungssysteme verbietet.

Die Ölressourcen Venezuelas waren zwar schon in den siebziger Jahren nationalisiert worden, lange vor Chavez, doch dessen Regierung, so Niebel, sorgte nun dafür, dass die Erträge im Lande blieben statt in die USA abzufließen. Solche Verstöße gegen die global gültige Marktreligion, deren oberstes Gebot darin besteht, dass westlichen Konzernen jederzeit und weltweit freier Zugang zu Ressourcen und Rohstoffen und ungehinderte Gewinnerwirtschaftung zustehe, rechtfertigen aus der Sicht der Hohepriester und GralshüterInnen des Kapitals natürlich ein Verdammungsurteil über das ketzerische Land und den aufsässigen Chavez.

Buchautor Ingo Niebel - Hispanologe, Historiker und Journalist
Buchautor Ingo Niebel - Hispanologe, Historiker und Journalist
Foto: NRhZ-Archiv


Für die US-Außenministerin Condoleeza Rice ist Venezuela folgerichtig vor allem eine "besorgniserregende und negative Kraft in Lateinamerika", wie sie im April 2005 drohend bekundete. Denn eine massive Drohung steckt schon in einer solchen Definition seitens der US-Außenministerin. "Man muss mit einer militärischen Intervention der USA rechnen", befürchtet Ingo Niebel vor dem Hintergrund dieser Drohkulisse. Denn die lateinamerikanische Geschichte - einschließlich des 2002 gescheiterten Putschversuchs in Venezuela - zeige, dass die USA immer militärisch intervenierten, wenn sie ihre "Interessen" bedroht sähen. Und Venezuela - beziehungsweise dessen Ölvorkommen - hat Washington ohnehin als Angelegenheit seiner "nationalen Sicherheit" definiert. Kein Wunder, da die USA aus Venezuela mehr Öl beziehen als aus den Golfstaaten, ganz abgesehen von den weitaus kürzeren Transportwegen.

Operation Balboa - der Krieg gegen die Armen Venezuelas wird geprobt

Auf wessen Seite im Interventionsfalle die deutschen "Christdemokraten" stünden, daran kann es für Niebel keinen Zweifel geben. Namentlich der eingangs erwähnte Klaus Jürgen Hedrich habe schon 2003 bei einer Venezuela-Tagung des Ibero-Amerikanischen Institutes einen Eingriff der NATO, kurzum, einen gewaltsamen Sturz der Chavez-Regierung, gefordert. Wie das nun alles mit Völkerrecht, Friedensgebot und Demokratie vereinbar sei, das, so empfiehlt Niebel eher ironisch, müsse man schon die deutschen Christ-Demokraten selber fragen. Freilich kann Putschagitator Hedrich guter Hoffnung sein. Bereits bei einer Generalstabsübung in Madrid im Mai 2001 simulierte die NATO eine militärische Landung in Venezuela. Codewort der Computerübung: "Operation Balboa".

Bei den Armen Venezuelas, so konnte Ingo Niebel feststellen, werden aber weder interne Putschisten noch externe Invasoren auf Gegenliebe stoßen. In den Armenvierteln greifen die Sozialprogramme des Präsidenten, weiß der Autor zu berichten. Es gibt eine medizinische Versorgung durch Ärzte, die unter anderem von Cuba zur Verfügung gestellt werden, und in subventionierten Läden können die ärmeren Venezolaner kostengünstige Lebensmittel erstehen. Das sind konkrete Dinge, die wir früher nicht hatten, bekam Niebel von den Armen zu hören, und daher hat Chavez, der "Diktator", mittlerweile auch bei elf Wahlen und Abstimmungen obsiegt. Zuletzt stellte er sich im Jahre 2004 einem Abwahlreferendum, dessen beabsichtigte Verhinderung ihm wiederum Hedrich & Co. wahrheitswidrig unterstellten - und gewann. Merkwürdiger Diktator, meint Ingo Niebel, der sich nach der Hälfte seiner Amtszeit einem Abwahlreferendum stellt.

Aufforderung zu kritischer Solidarität

Was, kurzum, kann man nun - es sei denn, man gehört zur Konrad-Adenauer-Stiftung - von Deutschland aus tun, um das Land auf seinem gefahrreichen Weg in eine selbstbestimmte Zukunft zu unterstützen? Ingo Niebel empfiehlt zunächst einmal, den Mainstream-Berichten über Venezuela zu misstrauen, nicht ungeprüft zu glauben, was beispielsweise "ein Hamburger Nachrichtenmagazin" an Behauptungen verbreite. Zudem gebe es in Deutschland Solidaritätsgruppen wie etwa "Venezuela avanza", die mit konkreten Projekten Hilfestellung leisteten "und auch wissen, was dort zu tun ist". Wer sich jedenfalls aus einer ebenso sachkundigen wie solidarischen Perspektive über die Vorgänge in einem Land informieren will, dessen Wohl und Wehe direkt mit der hier bei uns betriebenen Politik zusammenhängt - und dessen Erfolg, seine eigene demokratische und soziale Zukunft ohne Gewaltintervention von außen zu bauen, auch Auswirkungen auf unsere eigene demokratische Verfasstheit zeitigen wird, sollte dieses Buch lesen. Klar positioniert sich der Autor in seinem Vorwort, zugleich als Appell an seine LeserInnen:

"Zwischen dem Respekt vor einer demokratischen Wahlentscheidung und der Unterstützung von putschbereiten Kräften kann es keinen Mittelweg geben.
In Venezuela geht es um die Verteidigung einer Politik, die viele Probleme an deren Wurzeln lösen könnte. Die Feinde der bolivarianischen Revolution schrecken vor Massenmord, Putsch und Intervention nicht zurück. Ihre Pläne lassen sich nur mittels Widerstand durchkreuzen. Dazu zählt auch die Aufklärung durch Information. Das Buch hat den Anspruch, auf die Lügen hinzuweisen, bevor sie die Wahrheit meucheln und damit dem Krieg den Weg bereiten, so wie es im Fall von Jugoslawien und des Irak geschehen ist."

Buchcover: Ingo Niebel - Venezuela not for Sale

Ingo Niebel:
Venezuela not for Sale. -
Visionäre gegen neoliberale Putschisten
Kai Homilius Verlag, Berlin 2006
ISBN: 3-89706- 870-2
334 Seiten, gebunden, Hardcover - Preis: 18 Euro




Das Interview von Hans-Detlev v. Kirchbach mit dem Buchautor Ingo Niebel ist hier als mp3-Datei nachzuhören (14m52s, 13, 6 MB).

Online-Flyer Nr. 30  vom 07.02.2006



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