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Literatur
Der Fortsetzungsroman in der NRhZ - Kapitel VII 
"Niemandsland"
Von Wolfgang Bittner

Der Roman führt zurück in die achtziger Jahre der Bundesrepublik Deutschland. Der Ich-Erzähler, ein Universitätsdozent, gerät in eine Sinnkrise und Depression, aus der er sich durch das Erfassen seiner eigenen Geschichte zu befreien versucht. Er hat sich einen Standort geschaffen, doch die scheinbare Geborgenheit wird nach und nach in Frage gestellt. Das Gefühl der Sinnlosigkeit lähmt und läßt zugleich ahnen, daß die Ursache der Depression ein tiefes unterbewußtes Entsetzen ist. Fast zwanghaft spürt der Erzähler diesem unbestimmten Gefühl nach, nähert sich dem Ursprung seiner Angst. Ein Mosaik entsteht. Lesen Sie heute Kapitel VII "Theorie von den zwei Hälften".
An manchen Tagen dröhnt morgens der Kopf vom Ge­schrei und Gepolter der Kinder, der Fußboden im Bade­zimmer ist überschwemmt, die Toilette schmutzig, die Seife zerbröckelt. Alles klebt von Honig, die Türklinke, die Tasse, Messer und Gabel, der Wasserhahn; die Butter schmeckt nach Marmelade, der Tee nach Butter, und alles mögliche liegt auf der Erde und auf Bänken und Tischen herum. Und wenn ich sage: »Heb das auf«, sagt Ruth: »Ach, laß doch«, und mein Sohn sagt: »Nein«. Sie hat ein spitzes, auf die Nase ausgerichtetes Gesicht, an sol­chen Tagen; ihre Augen sind härter, die Bewegungen eckig und ungeschickt. »Laß mich doch in Ruhe mit deinem Geschwätz!« schreit sie. »Nachts herumsitzen, den gan­zen Vormittag im Bett liegen und dann auch noch An­sprüche stellen!«

Die alte Arbeitsteilung. Die Frau hat sich um Küche und Kinder zu kümmern, der Mann sorgt für den Unter­halt. Angeblich kann er sich in seinem Beruf verwirkli­chen, während die Frau - nach neuerer Einschätzung - zu Hause verkümmert. Und wie wäre es umgekehrt? Ruth liest gerade ein Buch, in dem es heißt, die Frauen würden ständig unterdrückt: zuerst von den Eltern und von der Schule, später vom Vorgesetzten und vom Ehe­mann. Die Frauen / die Männer. Ich kann das nicht mehr hören. Gerold sagt: »Wenn jemand in Wechselschichten für ein paar hundert Mark im Monat von einem Betrieb ausgenutzt wird, kann das nicht ohne Auswirkungen auf das Familienleben bleiben.«

In den Wohnblocks unserer Nachbarschaft leben etwa zehntausend Menschen, zumeist Arbeiter und kleinere Angestellte. Das durchschnittliche Monatseinkommen der Männer liegt zur Zeit bei 2.500 Mark. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung kostet 800 Mark, dazu kom­men Kosten für Strom, Heizung, Wasser, Gas, die Abzah­lungsraten für das Auto, den Fernseher und die Einrich­tung. Einer vierköpfigen Familie bleiben 700 Mark im Monat zum Leben. Wenn die Frau nicht mitarbeitet, kann die Familie kaum existieren. Wird der Mann als Haupt­verdiener arbeitslos, lebt die Familie an der Grenze des Existenzminimums, denn die Frauen bekommen - wenn überhaupt - nur schlechtbezahlte Hilfs  und Aushilfsar­beiten. Einige Häuser weiter hat sich kürzlich jemand in betrunkenem Zustand aufgehängt; ihm war mit zweiund­fünfzig Jahren gekündigt worden, und er fand keine neue Stelle. Schräg gegenüber ist ein Sechsundvierzigjähriger an Herzinfarkt gestorben, kein Direktor oder leitender Angestellter, ein ganz normaler Fabrikarbeiter. Und nachts werden die Straßenlaternen, Papierkörbe und Ru­hebänke demoliert, der neu angelegte Spielplatz war nach wenigen Wochen ein Trümmerfeld. Unsere Kinder kom­men weinend nach Hause und berichten, daß ihnen zwei Jungen vor dem Kaugummiautomaten das Geld wegge­nommen haben.

Im Ostviertel, wo die Besserverdienenden wohnen, ist dagegen die Welt in Ordnung. Gepflegte Parkanlagen und Spielplätze, Straßenbepflanzungen, Gärten und Vor­gärten, in der Nähe der Stadtwald. Dort kostet der Qua­dratmeter Grund und Boden heute 600 Mark, das kann sich nicht jeder leisten. Wer das Glück hatte, in dieser Gegend ein größeres Grundstück zu erben, braucht sein Leben lang nicht mehr zu arbeiten. Oder nur zum Spaß. Und wer so clever war, nach dem Krieg dort Land zu erwerben - und sei es Kleingartengelände für 50 Pfennig pro Quadratmeter -, hat innerhalb von dreißig Jahren einen Vermögenszuwachs von mehr als hunderttausend Prozent erzielt. Man muß nur die richtige Nase dafür haben, ein entsprechendes finanzielles Polster und lange genug warten. Der Teufel scheißt bekanntlich immer auf den größten Haufen.

Ruth ist nicht zufrieden. Sie fühlt sich ausgenutzt, zu Hause eingesperrt. Sie will wieder arbeiten, sagt sie, mit halber Stundenzahl in ihrem Beruf als Lehrerin. Wir ha­ben das vor vier Jahren schon einmal versucht, aber sie hat seiner Zeit nach einem Jahr wieder aufgehört. Unsere beruflichen Verpflichtungen ließen sich nicht immer auf­einander abstimmen, wir brauchten eine Betreuung für die Kinder, das kostete zusätzlich Geld. Die Kinder be­gannen schwierig zu werden, denn ihnen fehlte ganz of­fensichtlich die Mutter. Hinzu kam, daß Ruth unter De­pressionen zu leiden begann, weil sie mit ihrem Rektor nicht auskam und sehr ernsthafte längerdauernde Aus­einandersetzungen mit der Mutter einer Schülerin hatte. An vier Vormittagen in der Woche war sie in der Schule, manchmal noch nachmittags zu den Konferenzen. Die Klassenarbeiten mußten nachgesehen werden, eine Elternversammlung war vorzubereiten, eine Klassenfahrt zu organisieren. Wenn das Essen mittags nicht auf dem Tisch stand, schrie sie mich an. Als sie zu arbeiten aufhör­te, war sie froh und fühlte sich befreit. Wir einigten uns, daß ich in den nächsten Jahren für den Unterhalt sorgen würde und sie sich mehr um Haushalt und Kinder küm­mert.

Bei Gerold und Helga gibt es - unter umgekehrtem Vorzeichen - ähnliche Probleme, obwohl sie keine Kinder haben. Gerold, der 54 Jahre alt ist, war Rechtsanwalt, kann aber nicht mehr arbeiten. Sein zeitweiliger Alkoho­lismus hat zur Berufsunfähigkeit und teilweisen Zerstö­rung eines hochsensiblen Geistes geführt. Gerold spricht selber von einer vorzeitigen Vergreisung. Jetzt kümmert er sich um den Haushalt, und Helga arbeitet als Laboran­tin. Sie geht morgens um sieben aus dem Haus und kommt abends um fünf zurück. Helga sagt: »Wenn ich könnte, würde ich sofort zu Hause bleiben oder nur noch halbtags arbeiten.« Aber sie muß Geld verdienen, weil Gerold kaum Einnahmen hat. Obwohl ihm aus einer Erbschaft viel Geld zusteht; aber das ist ein Kapitel für sich. Jetzt schreibt er an einem Theaterstück, das wahrscheinlich niemals zur Aufführung kommen wird, selbst wenn es fertig werden sollte. Ihm fällt zu Hause die Decke auf den Kopf. Oft treffe ich ihn in der Stadtbüche­rei, wo er die neuesten Zeitschriften studiert.

Gerolds Theaterstück geht folgendermaßen: Ein alter Mann besitzt eine Villa mit großem Grundstück in guter Lage. Mehrere Makler bemühen sich darum, aber der Alte will nicht verkaufen. Er hat einige junge Leute als Mieter aufgenommen, die in dem ehemaligen Herrenzimmer und der Bibliothek, die als Gemeinschaftsräume dienen, einen Jugendclub eingerichtet haben. Das miß­fällt nicht nur den Maklern, sondern auch der Stadtver­waltung. Als der alte Mann das Haus seinen Mietern schenken will, wird er kurzerhand entmündigt. Das geschieht ganz einfach: Der Bürgermeister spricht mit dem Amtsgerichtsdirektor, der mit dem Oberstaatsanwalt und der läßt Erkundigungen durch die Polizei einziehen. Ein Polizeibeamter berichtet, die jugendlichen Mieter trügen teils lange Haare und Bärte, teils Punkfrisuren, und mach­ten auch sonst einen unzuverlässigen Eindruck; man kön­ne davon ausgehen, daß sie den alten Mann beschwatzt hätten. Der Oberstaatsanwalt beantrag daraufhin beim Gericht die vorläufige Entmündigung. Das Gericht gibt dem Antrag statt, so daß die Übereignung nicht mehr vorgenommen werden kann. Wenn der alte Mann stirbt, fallen Haus und Grundstück an die Stadt, da keine Erben vorhanden sind. Die Mieter, die sich um ihren Vermieter und dessen Besitz mit viel Liebe und Sorgfalt kümmern, versuchen natürlich die Entmündigung rückgängig zu ma­chen, wobei sich allerlei Verwicklungen ergeben.

So weit ist Gerold inzwischen. Er arbeitet gedanklich schon an einem Happy End, denn das Stück soll eine Komödie werden. Jede Woche berichtet er über neue Einfälle, die sich geradezu auftürmen. Ein wahres Gedan­kengebirge. Der Oberstaatsanwalt soll mondsüchtig sein und sich unter bestimmten Konstellationen der Gestirne im Zustand geistiger Überhöhung in seine frühere Rolle als Reichskriegsgerichtsrat zurückversetzt fühlen. Der ortsansässige Makler soll - zum heimlichen Vergnügen ihres Vaters, das von der Mutter geteilt wird - ein Auge auf die Bürgermeisterstochter geworfen haben, die wie­derum einen der Mieter und Mitbegründer des Jugend­clubs favorisiert. Bürgermeister, Amtsgerichtsdirektor und Oberstaatsanwalt sollen regelmäßig am Freitagabend zusammen Skat spielen, wozu sich als vierter Mann der Besitzer der Lokalzeitung einfindet. Und so weiter. Ein Fall, aus dem Leben gegriffen. Aber Gerold schreibt und schreibt und ändert und überarbeitet und konzipiert und überdenkt alles wieder und fängt erneut an zu schreiben. Und das Stück wird wohl niemals fertig werden, wie andere Stücke zuvor niemals fertig geworden sind.

Gerold hat einen achtundzwanzigjährigen Sohn aus erster Ehe, Patrick. Der Junge ist sehr reich, mehrfacher Millionär, weil Gerold ihm den Bauernhof seines Vaters kurz vor dessen Tod direkt überschreiben ließ. Um die Erbschaftssteuer zu sparen. Patrick war damals zwölf Jahre alt. Er machte nach dem Abitur eine Berufsausbil­dung zum Bankkaufmann. Der Hof wurde verkauft, das Geld in Wertpapieren angelegt. Sobald er volljährig wur­de, legte Patrick seine Hand auf das Vermögen, und der Vater, Gerold, müßte ihn jetzt verklagen, um Geld heraus­zubekommen. Allerdings zahlt Patrick gelegentlich ein paar tausend Mark, die dazu ausreichen, Gerolds aufge­laufene Schulden abzudecken. Auch aus der Klage wird wohl nie etwas werden. »Ich habe selber schuld«, sagt Gerold, wenn er wieder einmal finanziell abgebrannt ist und einen Bettelbrief schreiben muß. »Ich hätte den Hof nicht übertragen und meinen Sohn besser erziehen sol­len.« Er leidet unter Schuldkomplexen.

Die Männer / die Frauen. Patrick hat keine Schwierig­keiten mit dem anderen Geschlecht; er hat sich eine Frau gekauft. Auf einer seiner Weltreisen ist er eines Tages nach Bangkok gekommen, und ihm fiel auf, daß es dort sehr anschmiegsame, hübsche Mädchen gibt, die man käuflich erwerben kann. Er hat nicht lange gezögert und sich eine von ihnen gleich mit nach Hause genommen. Sie wurde als Hausgehilfin deklariert. Von den Zinsen seines vorzeitig ererbten Vermögens läßt es sich gut leben. Patrick besitzt eine geräumige Eigentumswohnung in Frankfurts erster Wohngegend, seinen Ferrari Sportwa­gen hat er geleast.

Ein Zimmer der Wohnung ist mit komplizierten Com­putern eingerichtet, an denen er täglich mehrere Stunden im Spiel verbringt - sein zweites Hobby. Immer ist sein Thaimädchen für ihn da, ihm den deprimierenden Alltag ertragen zu helfen, es braucht sich nur ihm zu widmen. Geringfügige Komplikationen treten, selten allerdings, dadurch auf, daß man sich verbal nicht verständigen kann, berichtet Gerold. Für die Hausarbeit ist eine Wirtschafte­rin zuständig. Gerold hat ausgerechnet, daß Patrick über ein Jahreseinkommen von rund 200.000 Mark verfügt, nur aus Kapitalerträgen in Form von Zinsen und Divi­denden. So ist für Patrick alles bestens geregelt.

Gerold überlegt sich das alles immer wieder, und dabei wird es voraussichtlich bleiben. Eine solche Entwicklung sei vorherzusehen gewesen, sagt er. Seine erste Frau sei auch kein einfacher Mensch gewesen, die Schwiegermut­ter eine nach dem Krieg völlig verarmte baltische Baro­nin. Sie habe bei jeder Gelegenheit von ihrem Gut in der Nähe von Riga erzählt, von ihren Pferden, dreißig Gäste­zimmern und Domestiken. Und davon, daß man vier Tage brauchte, um mit dem Schlitten einmal die Grund­stücksgrenzen abzufahren. Ein Jahr nach der Heirat sei die Schwiegermutter mit Billigung der Tochter, aber ge­gen seinen Einspruch, zu ihnen gezogen und habe den gerade geborenen Patrick unter ihre zerrupften Fittiche genommen. Gerold hat sich gegen die Frauen nicht durchsetzen können. Nachdem bei zunehmendem Alter die Anfälle von Schwermut und Hysterie sowohl der Tochter als auch der Schwiegermutter häufiger wurden, diente das Kind offenbar der Kompensation; es konnte sich mit acht Jahren noch immer nicht allein waschen oder die Schuhe zubinden. Die Großmutter setzte sogar durch, daß es in ihrem Zimmer schlief und schob die Folgen der übersteigerten Behütung und Verzärtelung dem Schwiegersohn zu, der sich nach ihrer Meinung zu­viel um seinen Beruf als Rechtsanwalt und zuwenig um das Kind kümmerte. Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, weckte sie den Jungen auf, um ihm nahezubrin­gen, daß die Welt bald unterginge, er sich aber nicht zu fürchten brauche, weil die Großmutter bei ihm wäre. Einmal, so erzählte Gerold, habe es während seiner Ab­wesenheit Auseinandersetzungen zwischen Schwieger­mutter und Tochter gegeben, die dazu führten, daß Ge­rold bei seiner Rückkehr in die eheliche Wohnung die Feuerwehr antraf. Die beiden Frauen - so stand es auch in der Zeitung - hatten jede auf einer Ecke des Balkons gesessen, um in die Tiefe zu springen, falls die andere ihr diesbezügliches Vorhaben nicht sofort aufgäbe; wer den Anlaß dazu gegeben hatte, ließ sich hinterher nicht mehr feststellen. Typische Hospitalismussymptome bei dem Jungen, wie Stottern, spasmodisches Zittern und Bettnässen, konnten erst im Laufe mehrerer Jahre nach der Scheidung an einem noblen Internat in Süddeutsch­land auskuriert werden.

Gerold hat eine Theorie entwickelt, die einiges für sich hat. Wenn zwei Menschen heiraten, sagt er, gibt jeder dem anderen die Hälfte von sich; das sei zwingend, ob er es nun wolle oder nicht. Auch geheime Vorbehalte nützten da nichts. Jeder bekommt vom anderen dessen Hälfte an Liebesfähigkeit, an Tüchtigkeit, Aufgeschlos­senheit, Schönheitssinn, Empfindsamkeit, auch an Dummheit, Schlampigkeit, Gehässigkeit, Faulheit, Streit­sucht und was es sonst noch an positiven und negativen Eigenschaften so gibt. Ist diese Hälfte des Partners über­wiegend gut, so hat der andere Glück gehabt oder vor­trefflich gewählt. Ist diese Hälfte jedoch überwiegend schlecht, dann muß der andere damit leben. Er besitzt seine ihm verbliebene Hälfte und dazu die des Partners; das ist jetzt sein Los. Und mancher, so meint Gerold, macht erst dadurch sein Glück, daß er für seine weggege­bene schäbige Hälfte, mit der nun sein Partner fertig werden muß, eine gute, manchmal vortreffliche Hälfte dazugewinnt. Allerdings kann es vorkommen, hat Gerold überlegt, daß diese gute Partie, diese glanzvolle hinzuer­worbene Hälfte, mit der Zeit stumpfer wird, vielleicht sogar rostig oder sonstwie unansehnlich. Das kann man­cherlei Gründe haben, und diese können wiederum in dem einen oder anderen Partner ihre Ursache finden. Jedenfalls müssen dann beide damit leben, weil sie beide davon betroffen sind. Und daraus wird ersichtlich, folgert Gerold, wie abhängig selbst ursprünglich unabhängige Charaktere werden können, wenn sie sich ernstlich ge­bunden haben.

Im Grunde seien das altbekannte Erkenntnisse, die mehr oder weniger deutlich in den Erfahrungsschatz der Menschen, gleich welchen Volkes auf welchem Kontinent auch immer, eingegangen sind. Dennoch seien die Verbin­dungen der Menschen natürlich nicht nur von Erkenntnissen und vom Bewußtsein abhängig, wie jeder weiß. Sondern da spielten oft ganz andere Dinge eine Rolle, die sich nicht so genau greifen lassen und von dem herrühren, was allgemein als Liebe bezeichnet wird und was nicht selten Irrationalität bedeutet, kurz: Drüsenfunktionen, Stoffwechsel, materielle Überlegungen, vorübergehende Vorlieben oder Abneigungen, oft nur Zufälligkeiten.

Jemand kann über solche Phänomene menschlichen Zusammenlebens nachdenken, sie können ihm vollkom­men klar sein, und dennoch vermag er sie nicht in den Griff zu bekommen. Ein Leben als Pantoffelheld, als Putzlappen, als Sklave eines Partners kann die Folge sein. Derartige Fälle sind, wie man weiß, recht häufig. Für gewöhnlich nimmt niemand davon Notiz; es sei denn, jemand hätte den unnatürlichen Tod seines ihm widerlich gewordenen Partners herbeigeführt, wie gelegentlich zu hören oder zu lesen ist.

Solchen Überlegungen hängt Gerold an seinen einsa­men Vormittagen nach. Auch ich suche manchmal nach Erklärungen, die mir unsere Schwierigkeiten im Zusam­menleben verständlicher werden lassen. Aber alle Model­le, denen ich bisher begegnet bin, haben mich eher noch ratloser gemacht. Wahrscheinlich ist es ein Fehler, das Leben in Schemata pressen zu wollen.

Ruth sagt, sie möchte entweder wieder arbeiten oder noch ein Kind. Als ob das eine Lösung wäre.

Wolfgang Bittner-Niemandsland

Dieses Buch erschien erstmals 1992 im Forum Verlag Leipzig, im September 2000 neu aufgelegt im Allitera Verlag, München








Der Autor

Wolfgang BittnerWolfgang Bittner, geboren 1941 in Gleiwitz, lebt als Schriftsteller in Köln. Er studierte Jura, Soziologie und Philosophie und promovierte 1972 zum Dr. jur. Bis 1974 ging er verschiedenen Tätigkeiten nach, u. a. als Fürsorgeangestellter, Verwaltungsbeamter und Rechtsanwalt. Ausgedehnte Reisen führten ihn nach Vorderasien, Mexiko und Kanada. Er hat mehr als 50 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder geschrieben, darunter die Romane »Marmelsteins Verwandlung«, »Die Fährte des Grauen Bären«, »Die Lachsfischer vom Yukon« und »Narrengold« sowie das Sachbuch »Beruf: Schriftsteller«.




Online-Flyer Nr. 55  vom 02.08.2006



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