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Kultur und Wissen
Der Fern-Seher - Folge 2
Ob die BRD zur Zone wird...?
Von Ekkes Frank

Ich habe keinen Fernseher - ich bin ein Fern-Seher. Ich betrachte das Land, in dem ich geboren, erzogen und zu dem wurde, der ich bin, nicht mehr von innen, als Mit-Erlebender, Mit-Leidender, Mit-Kämpfer. Ich bin weg.

Aus der Ferne betrachtet - dabei ist Italien in den Zeiten von Internet und Ryanair gar nicht mehr so fern - wirkt diese BRD ziemlich klein, viel unwichtiger als sie selbst sich gern sieht ("Wir sind wieder wer!"). Eben wie ein normales europäisches Land.
Manchmal kriege ich dann etwas mit, das mich zu einer Reaktion motiviert. Und manchmal reise ich auch noch nach Norden, nach Germania. Und ich schalte, irgendwie gewohnheitsmäßig, das noch immer dort herumstehende TV-Gerät ein. Dann bin ich sozusagen ein totaler Fern-Seher...

Jetzt seien die Ossis die Bossis, ekelte sich BILD schon damals, als das Zentralkomitee der SE... äh, scusate!, als der Parteivorstand der SPD den ewigen Dreitagebart Platzeck als neuen Vorsitzenden bloß nominiert hatte. Und heute erst! Mein Fernblick auf das, was derzeit in der BRD passiert, lässt mich verwundert die müden Augen aufreißen: Ist es denn wirklich wahr? Dass nicht nur die beiden Figuren an der Spitze der immer kleiner werdenden Volks(!)parteien das neue Bild prägen, sondern so grauenhaft quasi-realsozialistische Fakten wie etwa die Annahme der Koalitionsvereinbarungen in allen drei beteiligten Parteien, mit Ergebnissen, über die sich früher von der FAZ über BILD bis zur FR alle empört mokiert hätten; in der CSU sogar 100 %, da wird ja selbst Walter Ulbricht im Grabe noch neidbleich.

Und den Platzeck haben die Spezialdemokraten mit 99,9 % gewählt ("gewählt" hätte man damals genölt). Schröder und Müntefering herzen sich wie sintemalen Breshnew und Honecker, die zugehörigen saftigen Bruderküsse auf den Mund hat gewiss nur die eifersüchtige Doris untersagt. Angela Merkel, die baldige allererste - und, wenn ich das mal vermuten darf, für Jahrhunderte letzte - deutsche Bundeskanzlerin übt sich in kesser Kapitalistenschelte, als lebte sie im Leipzig des Jahres 1955. Und dann: dieses Stoiber-Schauspiel: er leide wie ein Hund (wow! Wow!!), stammelt er, ergeht sich in einer einst nur in sozialistischen Kreisen gern geforderten Selbstkritik, wobei das zuhörende Parteifußvolk noch nicht einmal beifallrauscht, sondern schweigend keine einzige Hand rührt.

Oh Karl, oh Friedrich, oh Rosa - was sagt denn ihr dazu? Bin ich vielleicht bloß ein BILD- und Berlusconi-infizierter Fern-Seher, der überall kommunistischen Unrat riecht, der den schönen neuen Werbespruch "Du-bist-Deutschland" nur versteht als "Du-bist-inzwischen-mehr-DDR-als-du-ahnst"? Stimmt es womöglich gar nicht, dass in Kürze Siemens verstaatlicht wird und der Daimler gleich danach? Spricht Angela Merkel doch nicht schon übermorgen vom Raubtierkapitalismus, den sie bändigen wolle, mit tatkräftig-verbaler Hilfe des Heuschrecken-SCHRECKS Münte? Wird Herr Glos sich bremsen und den US-amerikanischen Imperialismus ungegeißelt lassen und auch nicht Michael Moore statt Wolf Biermann ins Wildbad Kreuth laden?

Womöglich, sage ich mir, besteht - genau und nicht durch die B- und B-Brille betrachtet - gar kein Anlass zur Sorge. Wenn ich mir etwa anschaue, wie die Berliner Parlament-Arier den - in ihren tomatenverklebten Augen - Herrn Bisky gnadenlos demokratisch abgewatscht haben, dass es nur so schepperte, dann muss (nicht nur) mir nicht bange sein. Die Diäten-Empfänger auch der Großen Koalition werden ebenso wie ihre 99,9-prozentigen Spitzenfunktionäre das tun, was Politiker in allen zivilisierten, also westlichen Staaten tun: sie werden den Neoliberalismus hätscheln und tätscheln, weil es doch "keine Alternative" gibt; sie werden zum Stopfen der sich immer neu und weiter öffnenden Haushaltslöcher nicht die Herren aus den Vorstandsetagen der Multis heranziehen, sondern wie gehabt Arbeitslose, Rentner und andere Schmarotzer. Und sie werden - nachdem ihr Ruf ja ohnehin längst ruiniert ist (durch sie selbst übrigens) - sich die Aufwandspauschalen und Pensionenanwartschaften erhöhen, weil sie sonst ja gleich in die "freie Wirtschaft" gehen könnten.

Kurz: die Hoffnung auf eine Neuauflage des doch ziemlich traurig dahingegangenen real-ex(DDR)istierenden Sozialismus darf mich nicht wirklich ängstigen müssen. Was da zu bestaunen ist, ist allenfalls Real-Satire.

Online-Flyer Nr. 19  vom 23.11.2005



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