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Aktueller Online-Flyer vom 19. April 2024  

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Kultur und Wissen
Die Gesellschaft macht die Menschen krank
"Gegenseitige Hilfe" läßt sie gesunden – und überleben
Von Rudolf Hänsel

Einführung in Thematik: Fürst Peter Kropotkin (1842-1921), russischer Politikwissenschaftler, Humangeograph und Philosoph, beobachtete sowohl die Natur als auch die Naturwesen und bezog seine Erkenntnisse auf den Menschen. In seinem wissenschaftlichen Werk “Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ schreibt er, dass im Tierreich nicht nur der “Kampf ums Überleben“, sondern auch das Prinzip der „Gegenseitigen Hilfe“ wirksam ist und dass diejenigen Lebewesen, die dieses Prinzip umsetzen, länger überleben (1). Die naturwissenschaftliche Tiefen-Psychologie basiert auf diesen Erkenntnissen. Demnach ist der Mensch ein naturgegeben soziales Wesen, das auf die Gemeinschaft seiner Mitmenschen ausgerichtet ist und eine Neigung zum Guten besitzt. Vor diesem Menschen muss man keine Angst haben.

Geschätzte Mitbürger, in den letzten Tagen machte ich Erlebnisse, die ein Umdenken zur Folge hatten. Im persönlichen Kontakt mit alten Freunden wurde mir stärker vor Augen geführt als bisher, dass die Politiker im Namen der Gesellschaft mit ihren „dringend notwendigen“ politischen Entscheidungen und ihren medial-politischen Manipulationen sowie der permanenten Dauerberieselung der Bevölkerung mit Mahnungen und Warnungen die Bürger nicht nur stark verunsichern und irritieren, sondern sie krank machen.

Eine liebe Nachbarin, die meine Frau und ich längere Zeit nicht gesehen hatten, ist so stark abgemagert, dass wir erschrocken sind. Erst nach einer Weile erzählte sie beschämt, dass Mitte des Monats von der kleinen Alters-Rente kein Geld mehr übrig sei für ein nahrhaftes Essen.

Ein alter Freund, der eine ordentliche Professur im entfernten Ausland angeboten bekam, antwortete auf die Frage, ob er seine alten Freunde in der Heimat vergessen hätte, dass dem nicht so sei, dass er aber nicht mehr wisse, „wo ihm der Kopf stünde“, weil seine Ehefrau, die er zusammen mit den Kindern in der Heimat zurücklassen musste, schwer erkrankt sei. Des weiteren fand eine gute Freundin, die nach einigen Jahrzehnten plötzlich ihr Modegeschäft räumen musste, in ihrem Auto ganz verwirrt den Rückwärtsgang nicht mehr.

Zu guter Letzt stieß ich auf die Veröffentlichung einer wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaft, der „Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN). Unter der Überschrift „Basisdaten zu psychischen Erkrankungen in Deutschland“, heißt es aufgrund einer Momentaufnahme vom Januar 2023:
    „In Deutschland sind jedes Jahr etwa 27,9 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen betroffene Personen, (…). Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Angststörungen (15,4 Prozent), gefolgt von affektiven Störungen (9,8 Prozent, unipolare Depression allein 8,2 Prozent) und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenkonsum (5,7 Prozent).“ (2)
Leider versuchen viele Kollegen, verunsicherte Ratsuchende mit der jeweils bestehenden Gesellschaft auszusöhnen, anstatt auch das soziale und kulturelle Problem in den therapeutischen Prozess mit einzubeziehen. Diese würden dann erfahren, dass ihre individuellen Probleme nicht nur in der persönlichen Geschichte wurzeln, sondern vielmehr in einer inhumanen Gesellschaft und Kultur.

Doch die „gegenseitige Hilfe“ erweist sich als „Einladung“ und „Angebot“ als ein Weg, den Mitmenschen „unter die Arme zu greifen“ – und durch die Hilfeleistung auch selbst zu gesunden. Die Menschen, denen die Unterstützung angeboten wird, erfahren in dieser Situation, dass auch die Helfenden Probleme haben, die von den eigenen nicht gänzlich verschieden sind.

Überall kommt es auf den Gemeinsinn an, auf das Gefühl der Zusammengehörigkeit, des Miteinanderseins. Das Geschenk der Evolution besteht im sittlichen Bewusstsein des Einzelnen, in der Einsicht in die Verantwortung aller gegenüber allen.

Zur Bedeutung der Aufklärung

Die Zukunft unserer Kultur hängt nach wie vor davon ab, ob es genügend Aufklärer geben wird, die imstande sind, den breiten Volksmassen jene Vorurteile zu nehmen, die der ideologische Hintergrund der Menschheitskatastrophen sind. Mehr denn je sind wir darauf angewiesen, dass „freie Geister“ uns lehren, was Wahrheit und was Lüge ist.

Dabei hat der Intellektuelle eine große Verantwortung, denn seine Pflicht wäre es, für die anderen Menschen zu denken. Einige unter ihnen befürchten jedoch, dass sie als Intellektuelle unter sich bleiben würden, nur zueinander sprächen und die Masse der Bevölkerung gar nicht erreichten.

Deshalb wäre es für alle „Aufklärer“ wichtig, sich zusätzlich zur Aufklärung mit den Mitmenschen zusammenzusetzen, sie in aller Ruhe anzuhören und zu versuchen, sich in ihre Probleme einzufühlen.

Oder wie es Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, ausdrückte:
    „Mit den Augen eines anderen sehen, mit den Ohren eines anderen hören, mit dem Herzen eines anderen fühlen.“ (3)
Gemeinsam findet man in der Regel einen menschlichen (psychologischen) Weg heraus aus dem Labyrinth der Zukunftsängste. Und das vor allem dann, wenn das Hilfsangebot eine freundliche Einladung und ein zwangloses Angebot ist, wie man die gegenwärtige Situation zufriedenstellend bewältigen kann und dadurch besser lebt.

Bereits vor meinem „Umdenken“ hatte ich mit einem Zitat von Bertolt Brecht den Aufruf verfaßt: „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht“. Aus Gewissensgründen dem Staat den Gehorsam verweigern. Politiker sind nur die sichtbaren Schachfiguren der wirklichen Herrscher der Welt.“

Begonnen hatte ich den Artikel mit den Worten: „Die Zeit ist aus den Fugen (Shakespeare). Doch diejenigen, die sich der Gefahr des Neo-Faschismis‘, der Gefahr des „pharmazeutischen Verbrechens des Jahrhunderts“ (CHD) und des drohenden Weltkriegs bewusst sind, werden der Aufforderung Bertolt Brechts und derjenigen des deutschen Regime-Kritikers Wolfgang Borchert in seinem 1947 verfassten Manifest „Dann gibt es nur eines: Sag NEIN!“ bereitwillig zustimmen.

Aber die Bewunderung großer Vorbilder, die dem Staat aus Gewissensgründen den Gehorsam verweigerten und mit ihrem selbstlosen Handeln nicht nur das Recht und die Freiheit in den eigenen Ländern schützten, reicht nicht aus, um die sehr beunruhigende Situation in der Welt zu verändern: Jeder von uns muss selbst aktiv werden.“

Da es sich bei dem geplanten Artikel wieder um eine Aufforderung an die bereits problembeladenen Mitmenschen handelte, nahm ich nach meinem „Umdenken“ Abstand von dieser Idee.

Peter Kropotkin
 
Abschließend eine psychologische Stellungnahme des humanistisch gesinnten russischen Anarchisten und Revolutionärs Fürst Peter Kropotkin:
    „Ein Mensch, dem die Fähigkeit, sich mit seiner Umgebung zu identifizieren anerzogen ist, ein Mensch, der sich selbst seines Herzens, seines Willens bewusst ist, stellt seine Fähigkeiten frei in den Dienst der Anderen, ohne in dieser oder einer anderen Welt dafür eine Belohnung zu erwarten. Vor allem besitzt er die Fähigkeit, die Gefühle anderer zu begreifen, sie mitzuerleben. Dies genügt. Er teilt mit den Anderen Freud und Leid. Er hilft ihnen, die schweren Zeiten ihres Lebens zu ertragen. Er fühlt seine Kräfte und verbraucht großmütig seine Fähigkeiten, andere zu lieben, andere zu begeistern, in ihnen den Glauben an eine bessere Zukunft zu wecken und sie zum Kampf für diese Zukunft hinzureißen. Welches Schiksal ihn auch erreicht, er nimmt es nicht als Leid, sondern als Erfüllung seines Lebens, das er nicht gegen ein pflichtloses Vegetieren eintauschen möchte, er zieht eventuell Gefahren einem kampf- und inhaltslosen Leben vor.“ (4)

Fussnoten:

(1) Kropotkin, Peter (1908). Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Leipzig
(2) https://de.rt.com/meinung/164099-studie-rund-ein-drittel-der-erwachsenen-deutschen-psychisch-erkrankt/
(3) Adler, Alfred (1928). Kurze Bemerkungen über Vernunft, Intelligenz und Schwachsinn. In: Internationale Zeitschrift für Insividualpsychologie Nr. 6. S. 267-273, S. 267
(4) Zitiert nach: Grasenack, Moritz (Hrsg.). (2005). Die liberetäre Psychotherapie von Friedrich Liebling. Eine Einführung in seine Großgruppentherapie anhand wortgetreuer Abschriften von Therapiesitzungen. Lich / Hessen, S. 45


English version:
Society makes people sick
"Mutual aid" makes them healthy – and survive

By Dr. Rudolf Hänsel

Introduction to the topic: Prince Peter Kropotkin (1842-1921), Russian political scientist, human geographer and philosopher, observed both nature and natural beings and related his findings to human beings. In his scientific work "Mutual Aid in the Animal and Human World", he writes that in the animal kingdom not only the "struggle for survival" but also the principle of "mutual aid" is effective and that those living beings who implement this principle survive longer (1). Scientific depth psychology is based on these findings. According to this, man is a naturally social being who is oriented towards the community of his fellow human beings and has a tendency towards good. There is no need to be afraid of this human being.

Dear fellow citizens, in the last few days I have had experiences that have led to a change in thinking. In personal contact with old friends, it became more apparent to me than before that politicians, in the name of society, with their "urgently necessary" political decisions and their media-political manipulations, as well as the permanent constant sprinkling of the population with admonitions and warnings, not only greatly unsettle and irritate the citizens, but also make them ill.

A dear neighbour, whom my wife and I had not seen for a long time, became so emaciated that we were shocked. Only after a while did she tell us, ashamed, that in the middle of the month there was no money left from her small old-age pension for a nutritious meal.

An old friend who had been offered a full professorship in a distant foreign country replied to the question whether he had forgotten his old friends back home that this was not the case, but that he no longer knew "where his head would be" because his wife, whom he had to leave behind in the homeland together with the children, was seriously ill. Furthermore, a good friend, who suddenly had to vacate her fashion shop after several decades, could no longer find the reverse gear in her car, completely confused.

Last but not least, I came across the publication of a scientific medical society, the "Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN). Under the heading "Basic data on mental illnesses in Germany", it says, based on a snapshot from January 2023:
    "In Germany, about 27.9 percent of the adult population is affected by a mental illness every year. This corresponds to around 17.8 million affected persons, (...). The most common disorders include anxiety disorders (15.4 per cent), followed by affective disorders (9.8 per cent, unipolar depression alone 8.2 per cent) and disorders caused by alcohol or drug use (5.7 per cent)." (2)
Unfortunately, many colleagues try to reconcile insecure counselling seekers with the respective existing society instead of also including the social and cultural problem in the therapeutic process. They would then learn that their individual problems are not only rooted in their personal history, but rather in an inhumane society and culture.

But "mutual aid" turns out to be an "invitation" and an "offer" as a way to "help" one's fellow human beings – and, by helping them, to become healthy oneself. In this situation, the people who are offered support learn that those who help them also have problems that are not entirely different from their own.

Everywhere it comes down to a sense of community, a feeling of belonging, of being together. The gift of evolution consists in the moral awareness of the individual, in the insight into the responsibility of all towards all.

On the importance of enlightenment

The future of our culture still depends on whether there will be enough enlightened people who are capable of removing from the broad masses of people those prejudices which are the ideological background of the catastrophes of humanity. More than ever, we are dependent on "free spirits" to teach us what is truth and what is a lie.

In this, intellectuals have a great responsibility, because their duty would be to think for other people. However, some among them fear that as intellectuals they would remain among themselves, speaking only to each other and not reaching the mass of the population at all.

Therefore, it would be important for all "enlighteners", in addition to enlightenment, to sit down with fellow human beings, to listen to them calmly and to try to empathise with their problems.

Or as Alfred Adler, the founder of individual psychology, put it:
    "See with another's eyes, hear with another's ears, feel with another's heart." (3)
Together, one usually finds a human (psychological) way out of the labyrinth of fears about the future. And this is especially true when the offer of help is a friendly invitation and an informal offer of how to manage the present situation satisfactorily and thereby live better.

Even before my "rethinking", I had made the appeal with a quote from Bertolt Brecht: "When injustice becomes right, resistance becomes a duty". For reasons of conscience, refuse to obey the state. Politicians are only the visible pawns of the real rulers of the world."

I had started the article by saying, "Time is out of joint (Shakespeare). But those who are aware of the danger of neo-fascism, the danger of the "pharmaceutical crime of the century" (CHD) and the threat of world war will readily agree with Bertolt Brecht's injunction and that of the German regime critic Wolfgang Borchert in his 1947 manifesto "Then there is only one thing: Say NO!".

But the admiration of great role models who refused to obey the state for reasons of conscience and with their selfless actions not only protected law and freedom in their own countries is not enough to change the very worrying situation in the world: Each of us must take action ourselves."

Since the planned article was again a call to action to fellow human beings who were already burdened with problems, I refrained from this idea after my "rethinking".

Peter Kropotkin
 
Finally, a psychological statement by the humanist-minded Russian anarchist and revolutionary Prince Peter Kropotkin:
    "A man to whom the ability to identify with his surroundings is inbred, a man who is himself conscious of his heart, of his will, places his faculties freely at the service of others, without expecting any reward for them in this or any other world. Above all, he possesses the ability to understand the feelings of others, to experience them. This is enough. He shares joys and sorrows with others. He helps them to bear the difficult times of their lives. He feels his strength and generously uses up his abilities to love others, to inspire others, to awaken in them the belief in a better future and to inspire them to fight for this future. Whatever misfortune reaches him, he takes it not as suffering but as the fulfilment of his life, which he does not wish to exchange for a dutiful vegetation; he may prefer dangers to a life devoid of struggle and content." (4)

Footnotes:

(1) Kropotkin, Peter (1908). Mutual aid in the animal and human world. Leipzig
(2) https://de.rt.com/meinung/164099-studie-rund-ein-drittel-der-erwachsenen-deutschen-psychisch-erkrankt/
(3) Adler, Alfred (1928). Brief Remarks on Reason, Intelligence and Feeblemindedness. In: International Journal of Individual Psychology No. 6. pp. 267-273, p. 267.
(4) Quoted from: Grasenack, Moritz (ed.). (2005). The Liberetarian Psychotherapy of Friedrich Liebling. An introduction to his large group therapy based on verbatim transcripts of therapy sessions. Lich / Hesse, p. 45



Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Schul-Rektor, Erziehungswissenschaftler (Dr. paed.) und Psychologe (Dipl.-Psych.). Nach seinen Universitätsstudien wurde er wissenschaftlicher Lehrer (Professor) in der Erwachsenenbildung: unter anderem Leiter eines freien Schul-Modell-Versuchs und Fortbildner bayerischer Beratungslehrkräfte und Schulpsychologen. Als Pensionär arbeitete er als Psychotherapeut in eigener Praxis. Bei einer Öffentlichen Anhörung zur Jugendkriminalität im Europa-Parlament war er Berichterstatter für Deutschland. In seinen Büchern und Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung sowie eine Erziehung zu Gemeinsinn und Frieden. Für seine Verdienste um Serbien bekam er 2021 von den Universitäten Belgrad und Novi Sad den Republik-Preis „Kapitän Misa Anastasijevic“ verliehen.

Dr. Rudolf Lothar Hänsel is a school headmaster, educationalist (Dr. paed.) and psychologist (Dipl.-Psych.). After his university studies, he became an academic teacher (professor) in adult education: among other things, he was head of an independent school model trial and in-service trainer of Bavarian counselling teachers and school psychologists. As a retiree, he worked as a psychotherapist in private practice. He was rapporteur for Germany at a public hearing on juvenile delinquency in the European Parliament. In his books and articles, he calls for a conscious ethical-moral education and an education for public spirit and peace. For his services to Serbia, he was awarded the Republic Prize "Captain Misa Anastasijevic" by the Universities of Belgrade and Novi Sad in 2021.




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