NRhZ-Online - Neue Rheinische Zeitung - Logo
SUCHE
Suchergebnis anzeigen!
RESSORTS
SERVICE
Unabhängige Nachrichten, Berichte & Meinungen
Aktueller Online-Flyer vom 29. März 2024  

Fenster schließen

Kultur und Wissen
Leo N. Tolstoi: "Rede gegen den Krieg"
Aufruf an die Menschen: "Du sollst nicht töten!"
Von Rudolf Hänsel

Leo Tolstoi, eigentlich Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1828-1910), gilt bis heute unbestritten als einer der bedeutendsten Literaten und Intellektuellen der Literaturgeschichte. Seine Hauptwerke sind die realistischen Romane „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“. Mit ihnen wurde er auf der ganzen Welt bekannt. Tolstoi verfasste auch Bücher, die das zaristische Russland kritisierten sowie Lesebücher für die Schulkinder. Da er sich für die Reformpädagogik engagierte, war es sein Anliegen, den russischen Bauernkindern Werte zu vermitteln. Sie sollten wissen, wie sie sich sozial und moralisch richtig zu verhalten hatten. Mit diesen Ideen war er in Russland ein Vorreiter, erhielt für seine Bemühungen aber vor allem im Ausland viel Anerkennung.

Tolstoi war kein Verfechter der Diktatur des Proletariats, er hatte andere Ideen. Deshalb war die Oktoberrevolution 1917, die nach seinem Tod stattfand, wohl nicht in seinem Sinne. Er war der Meinung, dass die etablierten zaristischen Funktionäre nicht durch sozialistische ersetzt werden dürften, da sonst alles beim Alten bliebe.

Viele Sprüche Tolstois sind legendär. Zu seinen besten gehören sicherlich seine Aussagen über den Menschen, Gott, das Leben, die Vernunft und die Liebe. So soll er gesagt haben:
    „Das wichtigste Ziel ist das Jetzt, der wichtigste Mensch ist der Nächste, mit dem ich jetzt spreche; die wichtigste Tat ist, dem Nächsten Gutes zu tun.“ (1)
Hier schließt sich auch seine „Rede gegen den Krieg“ von 1909 an, in der er schrieb:
    „Geliebte Brüder! Wir haben uns hier versammelt, um gegen den Krieg zu kämpfen. (…) Deshalb möchte ich unserer Versammlung den Vorschlag machen, einen Aufruf an die Menschen sämtlicher Völker und besonders der christlichen Völker zu verfassen und zu veröffentlichen, worin wir klar und geradeheraus sagen, was zwar alle wissen, was aber niemand oder so gut wie niemand sagt: nämlich, dass der Krieg nicht, wie das jetzt die Menschen vorgeben, irgendeine besonders wackere und lobenswerte Sache sei, sondern dass er, wie jeder Mord, eine abscheuliche und frevelhafte Handlung ist, und zwar nicht nur für die, welche die militärische Laufbahn aus freien Stücke wählen, sondern auch für die alle, die sich ihr aus Furcht vor Strafe oder um eigennütziger Interessen willen widmen.“ (2)
Etwas später fährt er mit folgenden Worten fort:
    „Wir müssen sagen, was alle wissen und nur nicht zu sagen wagen, wir müssen sagen, dass, wenn die Menschen dem Mord einen noch so veränderten Namen geben, der Mord immer nur Mord bleibt – eine frevelhafte, schmachvolle Tat. Und man braucht nur klar, bestimmt und laut, wie wir das hier zu tun vermögen, dies zu sagen, und die Menschen werden aufhören zu sehen, was sie zu sehen vermeinten und werden erblicken, was sie in Wirklichkeit sehen. Sie werden aufhören, im Krieg den Vaterlandsdienst, den Heldenmut, den Kriegsruhm, den Patriotismus zu sehen, und werden sehen, was da ist: die nackte, frevelhafte Mordtat. Und wie die Menschen das sehen, wird dasselbe geschehen, was in dem Märchen geschah: diejenigen, die die Freveltaten üben, werden sich schämen, diejenigen aber, die sich eingeredet haben, dass sie im Mord keine Frevelhaftigkeit sehen, werden sie jetzt gewahr werden, und werden aufhören, Mörder zu sein. (…)“  (3)
Tolstoi schließt seine Rede, indem er begründet, warum er so gesprochen hat:
    „Das ist alles, was ich sagen wollte. Es wäre mir sehr leid, wenn ich jemanden beleidigt, gekränkt oder böse Gefühle in ihm erweckt hätte. Doch wäre es für mich, einem 80jährigen Greis, der jeden Augenblick des Todes gewärtig ist, eine Schande, nicht ganz offen die Wahrheit zu sagen, wie ich sie verstehe, die Wahrheit, die nach meiner festen Überzeugung allein die Menschen von den unseligen Drangsalen zu erretten vermag, die der Krieg hervorbringt und unter denen sie leiden.“ (4)

Fußnoten:

(1) https://www.leotolstoi.de/
(2) Tolstoj, Leo N. (1983). Rede gegen den Krieg. Politische Flugschriften. Herausgegeben von Peter Urban. Insel Verlag. Frankfurt am Main, S. 163 und 167
(3) A. a. O., S. 169f.
(4) A. a. O., S. 170



English version:
Leo N. Tolstoy: "Speech Against War"
Call to the People: "You Shall Not Kill!"

By Dr. Rudolf Hänsel

Leo Tolstoy, actually Lev Nikolayevich Count Tolstoy (1828-1910), is still undisputedly considered one of the most important literary figures and intellectuals in the history of literature. His main works are the realistic novels "Anna Karenina" and "War and Peace". With them he became known all over the world. Tolstoy also wrote books that criticised czarist Russia as well as reading books for schoolchildren.

As he was committed to reform pedagogy, his concern was to impart values to Russian farmer children. They should know how to behave in a socially and morally correct way. With these ideas, he was a pioneer in Russia, but received much recognition for his efforts, especially abroad.

Tolstoy was not an advocate of the dictatorship of the proletariat, he had other ideas. That is probably why the October Revolution of 1917, which took place after his death, was not to his liking. He believed that the established czarist functionaries should not be replaced by socialist ones, otherwise everything would remain the same.

Many of Tolstoy's sayings are legendary. Among his best are certainly his statements about man, God, life, reason and love. He is reported to have said:
    "The most important goal is the now, the most important person is the neighbour I am talking to now; the most important deed is to do good to the neighbour." (1)
This is also followed by his "Speech against War" of 1909, in which he wrote:
    "Beloved brothers! We have gathered here to fight against war. (...) Therefore, I would like to propose to our assembly that we write and publish an appeal to the people of all nations and especially of the Christian nations, in which we say clearly and straightforwardly what everyone knows, but what no one or almost no one says: Namely, that war is not, as men now pretend, some particularly valiant and praiseworthy thing, but that it is, like all murder, a detestable and sacrilegious act, not only for those who choose the military career of their own free will, but also for all those who devote themselves to it for fear of punishment or for the sake of selfish interests." (2)
A little later he continues with the following words:
    "We must say what everyone knows and just does not dare to say, we must say that no matter how much people change the name they give to murder, murder always remains just murder – a sacrilegious, disgraceful act. And one need only say this clearly, firmly and loudly, as we are able to do here, and people will stop seeing what they thought they saw and will see what they see in reality. They will stop seeing in war the service to the fatherland, the heroism, the glory of war, the patriotism, and will see what is there: the naked, sacrilegious act of murder. And as men see this, the same thing will happen that happened in the fairy tale: those who practise sacrilege will be ashamed, but those who have persuaded themselves that they see no sacrilege in murder will now become aware of it, and will cease to be murderers. (...)" (3)
Tolstoy concludes his speech by explaining why he has spoken in this way:
    "That is all I wanted to say. I would be very sorry if I had offended anyone, offended anyone or aroused bad feelings in them. But it would be a disgrace for me, an old man of 80, who is liable to die at any moment, not to speak quite openly the truth as I understand it, the truth which, I am firmly convinced, alone is capable of saving men from the unhappy tribulations which war produces and from which they suffer." (4)

Footnotes:

(1) https://www.leotolstoi.de/
(2) Tolstoy, Leo N. (1983). Speech against war. Political pamphlets. Edited by Peter Urban. Insel Verlag. Frankfurt am Main, pp. 163 and 167
(3) op. cit., p. 169f.
(4) op. cit., p. 170



Dr. Rudolf Lothar Hänsel ist Lehrer (Rektor a. D.), Doktor der Pädagogik (Dr. paed.) und Diplom-Psychologe (Schwerpunkte: Klinische-, Pädagogische- und Medien-Psychologie). Als Pensionär arbeitete er viele Jahre als Psychotherapeut in eigener Praxis. In seinen Büchern und pädagogisch-psychologischen Fachartikeln fordert er eine bewusste ethisch-moralische Werteerziehung und eine Erziehung zum Gemeinsinn und Frieden.

Dr. Rudolf Lothar Hänsel is a teacher (retired headmaster), doctor of education (Dr. paed.) and graduate psychologist (specialising in clinical, educational and media psychology). As a retiree, he worked for many years as a psychotherapist in his own practice. In his books and educational-psychological articles, he calls for a conscious ethical-moral education in values and an education for public spirit and peace.




Online-Flyer Nr. 789  vom 20.04.2022



Startseite           nach oben