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Globales
Zeit für einen Rückblick
Libyen in der Zeit nach Oberst Muammar al-Gaddafi
Von Markus Heizmann (Bündnis gegen Krieg, Basel)

Am 20. Oktober 2011 wurde der damals 69-jährige Oberst Muammar al Gaddafi nahe seiner Heimatstadt Sirte bestialisch gelyncht. Die Videos dieses Lynchmordes gingen um die Welt, und analog zur Ermordung des Präsidenten Saddam Hussein (Irak) zeigen sie exemplarisch die Entmenschlichung und die Verrohung des Imperialismus auf. Auch innerhalb der westlichen Linken war bzw. ist Oberst Gaddafi eine schillernde, umstrittene Figur. Wie aus einem Reflex heraus wird Muammar al Gaddafi auch von Linken als „Diktator“ bezeichnet, meist ohne viel mehr über ihn zu wissen, als was der Mainstream berichtet. Auch dies zeigt einmal mehr die Verwirrung und das mangelnde anti-koloniale und anti-imperialistische Bewusstsein eben dieses sich „links“ nennenden Teils des Imperialismus. In einem kurzen Artikel wie dem vorliegenden kann unmöglich das Leben und das Werk des libyschen Revolutionsführers gebührend gewürdigt werden. Dazu wären mehrere Bücher notwendig. Gleichwohl ist es nun, eine Dekade nach dem Mord, Zeit für einen Rückblick. Sehen wir uns also, in der gebotenen Kürze, das Leben und die Situation zur Zeit vor, mit und nach Muammar al Gaddafi an.


Plakat, entstanden für den Arbeiterfotografie-Stand mit dem Motto "Die Rolle der Feindbilder – sie sind Teil der Kriege – wir nehmen sie unter die Lupe" auf dem evangelischen Kirchentag in Dresden 2011 - es fehlte nicht viel, und die Kirchentagsleitung hätte die Entfernung des Plakats angeordnet)


Einige Meilensteine

Libyen, unter der Herrschaft des römischen Reiches (sowohl Westrom, als auch Byzanz), wurde ab 640 durch die Araber befreit und somit Teil des Kalifats. Nach dem Zusammenbruch des Kalifats geriet Libyen unter die Herrschaft des Osmanischen Reiches. Obwohl das Osmanische Reich offiziell bis zum Jahr 1923 andauerte, besetzte Italien von 1911 bis 1943 das Land und verübte schwere koloniale Massaker an der Bevölkerung Libyens: In dieser Zeit wurde, nach damaligen Schätzungen, über ein Drittel des libyschen Volkes von den italienischen Faschisten ermordet. Legendär ist indes auch der Widerstand dagegen. Einer der Anführer dieses Widerstandes, Omar al Mukthar, wird bis in unsere Tage als Volksheld verehrt, und das nicht nur in Libyen, sondern in der gesamten arabischen Welt. (1) Wiederholen wir das: Italien nannte seinen Anspruch auf Libyen „Gott gegeben“. Dieser „von Gott gegebene Anspruch“ Italiens ermordete ein Drittel es libyschen Volkes!

Nach dem Zusammenbruch des deutschen und des italienischen Faschismus in Europa, folgten die Briten nahtlos als Besatzer. Nicht nur in Libyen kämpften die kolonialisierten Völker gegen den deutschen und den italienischen Faschismus. Auch in Algerien und in allen anderen (ehemaligen) Kolonien Frankreichs und Englands ließen sich die Menschen in das Blutvergießen des imperialistischen so genannten Zweiten Weltkrieges hineinziehen. Dies weil ihnen von den jeweiligen Kolonialmächten nach dem Sieg über die Faschisten die Unabhängigkeit versprochen wurden. So kam es, dass auf den Schlachtfeldern Europas Algerier, Syrer, Libyer, kurz Menschen aus allen damaligen Kolonien kämpften und starben, in der Meinung für die Freiheit ihrer eigenen Völker zu kämpfen. In keinem einzigen Fall wurde dieses Versprechen eingelöst. Jedes einzelne kolonialisierte Land musste weiter um seine Freiheit kämpfen. Das Blut im Dienst der kolonialen Armeen war umsonst vergossen worden. So wurde Libyen erst 1951 ein scheinbar unabhängiger Staat. Wie in vielen anderen Fällen auch, gelang es den Briten, eine ihnen hörige Marionettenregierung zu installieren.

In der Folge wurde Sidi Mohammed Idris el-Mahdi el-Senussi, kurz König Idris, mit Billigung und mit Hilfe der Westmächte als König des nun „unabhängigen Königreichs Libyen“ auf den Thron gehievt. Idris regierte das Land bis 1969 demzufolge ganz im Sinn der Westmächte. So forderte zum Beispiel das Volk Libyens 1956 und 1967, dass die libysche Armee Ägypten in dessen Verteidigungskriegen gegen Israel, Frankreich, England und die USA beistehen sollte. Idris ignorierte nicht nur diese Forderungen, sondern verbot de facto auch die panarabische Ba‘ath Partei. Dies und die Verträge, welche er mit der BP (British Petroleum) nach den Erdölfunden im Jahr 1962 abschloss, führten schließlich zu seinem Sturz. (2) Dieser Putsch gegen den König, angeführt von einem jungen Offizier namens Muammar al Gaddafi erfolgte weitgehend unblutig. Idris befand sich auf einem Staatsbesuch in Ägypten, als die jungen Offiziere unter Führung von Muammar al Gaddafi die Macht übernahmen und damit auf breite Zustimmung des Volkes stießen. Den Namen „Bund der Freien Offiziere“ hatten sie, inspiriert und in Anlehnung an eine Gruppe namens „Junge Offiziere“ gewählt, die unter Gamal ab‘del Nasser 1952 in Ägypten König Faruk gestürzt hatten. Präsident Nasser sollte denn auch bis zu seinem Tod im Jahr 1970 ein Freund und Vertrauter von Oberst Gaddafi bleiben.

Libyen unter Gaddafi

Legendär ist die Vertreibung der USA vom damaligen US-Luftwaffenstützpunkt Wheelus Field in Libyen. Die neue Revolutionsregierung gab allen ausländischen Streitkräften, die sich in Libyen befanden, eine Frist, um das Land zu verlassen. England und Frankreich erkannten offenbar die Zeichen der Zeit und verschwanden. Die USA wollten ihre Basis Wheelus Field jedoch nicht einfach aufgeben. Karam Khella, einer der profundesten Kenner der arabischen Welt und der arabischen Politik schreibt dazu:

[…] „Die USA hingegen meinten, nicht klein beigeben zu müssen. Sie verschleppten die Räumung (des Stützpunktes). Die Revolutionsführung mobilisierte das libysche Volk für den Widerstand gegen eine mögliche Weigerung des US-Abzuges aus dem Land. (…) Es kam zu einer der größten antiimperialistischen Demonstrationen, über eine Million Menschen marschierten zum Stützpunkt. Wheelus Field, in unmittelbarer Nähe von Tripolis, war der damals größte amerikanische Luftwaffenstützpunkt außerhalb der USA. Er wurde von Libyen in die Bundesrepublik verlegt, wo er in die Rhein-Main Airbase integriert wurde.“ (3)

Der Aufbau des Landes konnte beginnen. Libyen wurde in der Folge zu einem der blühendsten und fortschrittlichsten Länder der Welt und zum fortschrittlichsten Land der Region. Soziale Errungenschaften, von denen wir hierzulande nicht zu träumen wagen, waren im damaligen Libyen selbstverständlich. Freie Gesundheitsversorgung, Recht auf Wohnung, Wohnungen waren gar für alle BürgerInnen umsonst, Recht auf Bildung, gleiche Rechte für alle Menschen so genannter Ethnien und Konfessionen, gleiche Rechte für Frauen, all dies war in Libyen keine Utopie sondern gelebte Politik. Bezahlt wurden diese sozialen Errungenschaften mit den Petro Dollars, die nun nicht mehr von den imperialistischen Konzernen abgezogen wurden, sondern dem libyschen Volk gehörten. Die Bewaffnung des Volkes gehörte ebenso zur revolutionären Politik Libyens, wie die regelmäßig stattfindenden Volksversammlungen (Jamahiriya). Diese Strukturen, sowie die generellen Linien der libyschen Innen- und Außenpolitik erläuterte Muammar al Gaddafi in seinem „Grünen Buch“. (4)

Libysche Außenpolitik

Nach der Revolution von 1969 war Libyen kein „neutrales“ Land sondern ein integraler und integrer Teil des globalen anti-imperialistischen Widerstandes. Keine Befreiungsbewegung der damaligen Zeit, von den verschiedenen Fraktionen des palästinensischen Widerstandes, über post-koloniale Kämpfe in Afrika und Südamerika bis hin zu den damaligen Kämpfen der Irish Republican Army (IRA) im bis heute britisch besetzten Teil Irlands: Sie alle konnten auf die Unterstützung und auf die Solidarität Libyens zählen.

Jedoch nicht nur antiimperialistische Befreiungsbewegungen konnten sich auf die Solidarität Libyens verlassen. Libyen gehörte zu den wenigen arabischen Staaten, welche die palästinensische Sache niemals verraten hatten. Die Revolutionsregierung unter Muammar al Gaddafi war immer darum bemüht, eine Einheitsfront gegen die kolonialen, zionistischen und imperialistischen Aggressionen zu bilden. Am bekanntesten dürfte wohl die Gründung der Front der Standhaften sein. (5)

1978 unterzeichneten der ägyptische Präsident Anwar al Sadat und der israelische Ministerpräsident Menachem Begin im US-amerikanischen Camp David ein ägyptisch-israelisches „Friedensabkommen“. Dieser Separatfrieden, den Sadat abschloss, war in mehrfacher Hinsicht ein Verrat: Er verriet damit die arabische Einheit, welche erklärt hatte, mit einer Stimme gegen den Zionismus zu sprechen, er verriet damit die palästinensische Sache, er verriet seinen engsten Verbündeten Syrien. Syrien verlor damals die Golanhöhen, welche die Zionisten bis heute widerrechtlich besetzt halten, und nicht zuletzt verriet er damit das eigene ägyptische Volk. Diesem „Friedensabkommen“ Sadats waren Gespräche voraus gegangen, und einige Staaten der arabischen Liga, darunter auch Libyen, bemühten sich, Sadat von seiner de facto spalterischen Politik abzubringen. Auf Initiative von Muammar al Gaddafi wurde die Front der Standhaftigkeit gegründet. In dieser Front vereinten sich Libyen, Syrien, Algerien, Südjemen, Irak und selbstverständlich die PLO. Die Front der Standhaftigkeit hielt nur bis zum Jahr 1981. Die inneren Widersprüche der verschiedenen Länder waren offenbar zu groß. Gleichwohl war es ein wichtiges Zeichen, welches gegen die arabische Liga gesetzt wurde. Ägypten war damals das arabische Land, dem eine Führungsrolle innerhalb der arabischen Liga und innerhalb der arabischen Welt zugesprochen wurde. Auch dies wurde von Anwar al Sadat zerstört. So wurde der Weg für Korruption und für die Übernahme der arabischen Liga durch die Golf Oligarchien bereitet.

Weitere Einigungsprojekte Libyens


Der Versuch, eine Front der Standhaftigkeit zu gründen, war jedoch bei weitem nicht das einzige Projekt hinter dem die libysche Regierung stand. Immer wieder ging es um die Einheit bzw. um die Bildung einer Einheitsfront der kolonialisierten Völker gegen Imperialismus und Zionismus. All diese Initiativen können unter dem Titel „Panarabisches, panafrikanisches, panislamisches Einheitsstreben“ subsumiert werden. Libysche Projekte waren u.a.:
  • Föderation Arabischer Republiken und Union mit Ägypten (1970–1973)
  • Union mit Malta (1972)
  • Vereinigte Staaten von Nordafrika (1973)
  • Arabische Islamische Republik (1974)
  • Front der Standhaftigkeit (1977–1981)
  • Union mit Syrien (1980–1981)
  • Vereinigte Sahel-Staaten und Union mit dem Tschad (1981–1984)
  • Arabisch-Afrikanische Föderation (1984–1986)
  • Arabische Union (1985)
  • Integration mit Sudan (1986)
  • Union mit Algerien (1987)
  • Arabischen Maghreb (1989)
  • Union mit Palästina (1988)
  • Union mit dem Sudan (1990–1994)
Wir sehen an dieser Liste, wie ambitioniert die Außenpolitik Libyens war. Man mag nun einwenden, dass so gut wie alle dieser Projekte gescheitert seien. Das ist nur auf den ersten Blick richtig, schon ein zweiter, etwas tieferer Blick zeigt auf, dass diese libysche Außenpolitik tiefe Spuren hinterlassen hat. Der Begriff „Brudervolk“ war für Libyen unter Gaddafi keine leere Worthülse, sondern praktizierte Politik. Das Streben nach Einheit manifestiert sich u.a. darin, dass Libyen den Ländern des afrikanischen Kontinents immer hilfreich zur Seite stand. Der Autor dieses Beitrags hat selbst erlebt, wie afrikanische FreundInnen und GenossInnen tief trauerten, als die Nachrichten von der Ermordung von Muammar al Gaddafi um die Welt gingen. Viele Universitäten in Afrika wurden mit dem Geld Libyens erbaut. Krankenhäuser, Strassen, Schulen, Telekommunikation (in Zusammenarbeit mit China), all dies brachte Libyen im Lauf der Jahre in die afrikanischen Länder. Mit der Hilfe Libyens wurde versucht, den Einfluss der Kolonialmächte und der USA zurück zu drängen und die afrikanische Einheit zu fördern. Bereits im Jahr 2009 warnte der äthiopische Professor Mohamed Hassan eindringlich vor einem Krieg gegen Libyen, und er nannte fünf Gründe, weshalb der Westen das Land angreifen werde... (6)

Der Krieg gegen Libyen

...Was dann auch geschah. Dieser erneute Angriffskrieg gegen Libyen hatte viel mit der Person und mit der Politik von Muammar al Gaddafi und nichts mit den Ereignissen, die hierzulande als „arabischer Frühling“ oder „arabische Rebellion“ bekannt wurden, zu tun. Ebenso wie in Syrien wurde auch in Libyen in den westlichen Medien ein „Bürgerkrieg“ herbei fantasiert, der so nie stattfand. Auch zehn Jahre danach ist noch nicht vollständig analysiert, was es eigentlich mit diesem „arabischen Frühling“ auf sich hatte. Soviel jedoch können wir heute mit Sicherheit sagen: Schon sehr bald gelang es den imperialistischen Mächten mit ihren Helfershelfern vor Ort, seien es NGO‘s oder andere Menschenrechtsorganisationen, genannt seien Amnesty International oder Human Rights Watch, die Aufstände zu instrumentalisieren oder gar zu inszenieren.

Musterbeispiele dafür waren die erwähnten Ereignisse in Syrien und in Libyen. Hier wie dort wurden die Unruhen von außen gesteuert und geschürt. Hier wie dort scheuten die Strippenzieher in Europa und in den USA weder Geld noch Macht, um die Länder zu destabilisieren und – analog wie Jahre zuvor den Irak – ins Chaos zu stürzten. Anders als in Syrien ging der imperialistische Plan in Libyen auf. Das mag auch damit zusammenhängen, dass Muammar al Gaddafi schon Jahrzehnte vor den Ereignissen des „arabischen Frühlings“ in den westlichen Medien von links bis rechts diffamiert wurde. Wobei das Wort diffamiert nicht zutreffend ist, das neudeutsche Wort „Shitstorm“ trifft den Kern der Sache eher. Im Westen wurden alle, welche nicht ins allgemeine Gaddafi-bashing einstimmten, buchstäblich wie Geistesgestörte behandelt.

So ist es denn auch kein Wunder, dass der Krieg, der von der NATO, allen voran Frankreich, gegen Libyen losgetreten wurde, in den Gesellschaften des „freien und demokratischen Westens“ kaum auf Proteste stieß. Der Autor erinnert sich an eine vom Bündnis gegen Krieg organisierte Demonstration gegen die Angriffe vor dem französischen Konsulat in Basel. Die Zahl der TeilnehmerInnen, die gegen das beginnende Massaker protestierten, lag weit unter Hundert. Große Teile der Linken entpuppten sich einmal mehr als linker Arm des Imperialismus. Ab Februar 2011 nahm das Unheil seinen Lauf. Der UN-Sicherheitsrat beschloss eine sogenannte „Flugverbotszone“ über Libyen, was eine Carte Blanche für die flächendeckenden Bombardierungen der NATO bedeutete.

Weshalb weder China noch Russland ein Veto gegen dieses Verbrechen einlegten, wird die PolitologInnen wohl noch auf weitere Jahrzehnte hinaus beschäftigen. Libyen, ein reiches und solidarisches Land, wurde von den Geschwadern der NATO dem Erdboden gleichgemacht. Was im Zug dieser Angriffe geschah ist bekannt: Das Land wurde zerstört, Oberst Gaddafi wurde von einem Lynchmob vor laufenden Kameras bestialisch ermordet. Dieses Verbrechen wurde von der damaligen Außenministerin und beinahe-Präsidentin der USA, Hilary Clinton, mit hämischen Worten gefolgt von einem hysterischen Lachen kommentiert. (7) Diese Primitivität, dieser Zynismus ist doch eigentlich unglaublich; wir reden hier nicht von einer Betrunkenen am Stammtisch, die Rede ist von der damaligen Aussenministerin des angeblich mächtigsten Landes der Erde!

Nach seiner Ermordung wurde Muammar al Gaddafis Leichnam „an einem unbekannten Ort in der Wüste“ bestattet. Damit sollte verhindert werden, dass sein Grab zu einem Wallfahrtsort seiner Anhänger wird. Die Realisierung der Vision einer fortschrittlichen und egalitären Gesellschaft durch die Ideen von Muammar al Gaddafi sind offenbar für seine Gegner über seinen Tod hinaus gefährlich.

Was bleibt?

Was aber bleibt von der Regierungszeit unter Oberst Muammar al Gaddafi? Was bestimmt bleibt, ist das von ihm verfasste und oben bereits erwähnte „Grüne Buch“. Was bleibt sind seine zahlreichen Initiativen, deren Ziel es war, die Menschen in ihrem Kampf gegen Kolonialismus, Imperialismus und Zionismus zu vereinen. Bleiben wird auch die Erinnerung an einen Politiker, der den Machtgelüsten der USA, der NATO, des IWF und allen anderen Organisationen des Imperiums Zeit seines Lebens die Stirn geboten hat.

Solidarischen und wirklich politisch denkenden Menschen bleibt Muammar al Gaddafi als scharfer Analytiker des Kapitalismus in Erinnerung. Im Jahr 2009 hatte Libyen turnusgemäß den Vorsitz bei der UN-Vollversammlung. Die Rede, welche Oberst Gaddafi zu diesem Anlass hielt, wurde von den Medien der freien Welt diffamiert. Das Magazin, welches lange Zeit als der Meinungsmacher im deutschsprachigen Raum galt („Der Spiegel“) titelte: „Gaddafi-Wutrede empört UNO-Delegierte“ und katapultierte sich damit einmal mehr in die Tiefen des Boulevard-Journalismus. (8)

Wer sich indes die Zeit nimmt, zu lesen, was da vor dem hohen Haus in New York gesagt wurde, ist in der Tat erstaunt, mit welchem Weitblick der Oberst in die Welt blickte. So sagte er zum Beispiel:

„Heute haben wir die Schweinegrippe. Morgen werden wir vielleicht die Fischgrippe haben, da wir manchmal Viren aus kommerziellen Gründen herstellen. Kapitalistische Unternehmen produzieren Viren, so dass sie dann die Impfstoffe und Medikamente dafür verkaufen können. Das ist eine Schande und unethisch. Impfstoffe und Medikamente sollten nicht verkauft werden. In meinem grünen Buch steht, dass Medikamente nicht verkauft oder gehandelt werden sollten. Medikamente sollten gratis sein und Impfstoffe kostenlos an Kinder vergeben werden. Kapitalistische Unternehmen jedoch stellen die Viren und Impfstoffe her und wollen sie mit Gewinn verkaufen“ (9)

Nein, Muammar al Gaddafi war kein Prophet, der in weiser Voraussicht den aktuellen Corona-Hype kommen sah. Er war lediglich ein klarer Denker, der auch nicht davor zurückscheute, klaren Gedanken klare Worte und klaren Worten klare Taten folgen zu lassen. Der Mainstream der westlichen Presse jedoch sah an jenem 23. September 2009 vor der UNO-Vollversammlung nur einen als „Diktator“ verschrienen Araber, der die Charta der Vereinten Nationen publikumswirksam in Fetzen riss. Ebenso sahen sie zwei Jahre später in Tripolis anlässlich der gezielt geschürten Unruhen, die auch die gezielte Einschleusung von Todesschwadronen beinhalteten, nur einen alten Mann unter einem Regenschirm, der von „Drogensüchtigen Ratten und gekauften Mördern“ sprach, für die meisten MedienkonsumentInnen des so genannten „freien Westens“ völlig unverständliches Zeug. All dies wurde jedoch vielen von uns erst klarer, als die Ereignisse in Syrien ein ähnliches Muster aufzeigten wie in Libyen: Demonstrationen, die angeblich spontan vom Volk ausgingen und die in bewaffneten Auseinandersetzungen mit eingeschleusten Söldnern endeten. Mit Captagon (10) und anderen Mitteln hochgeputschte Killer, die für Geld mordeten und für die westlichen Kameras den Tod von Muammar al Gaddafi oder in Syrien analog den Tod von Bashar al Assad forderten. Was bleibt, ist die Wut und die Trauer über einen vor zehn Jahren verübten Lynchmord und die damit verbundene Tragödie für das libysche Volk. Es bleibt jedoch auch die Genugtuung und die Hoffnung, dass die imperialistischen Pläne nicht überall durchschlagen.

Das Vermächtnis

Das Vermächtnis von Muammar al Gaddafi liegt indes nicht allein in dem von ihm verfassten „Grünen Buch“. Sein Vermächtnis ist das Vermächtnis eines Revolutionärs. Die Angst, welche die Mächtigen vor den Ideen und vor der Umsetzung der Ideen der Revolution haben, manifestiert sich auch darin, dass der Leichnam des Revolutionärs versteckt gehalten werden muss. Den Revolutionär können sie töten, nicht aber die Revolution. Zehn Jahre sind nach der Ermordung von Muammar al Gaddafi vergangen, und wir können mit Gewissheit sagen, dass sich die Welt seither zum schlechteren verändert hat. Dennoch scheint es so, als würden die Menschen in Libyen erkennen, was sie verloren haben. Verloren, nicht nur mit der Person Muammar al Gaddafi, sondern mit der mit ihm verbundenen Idee der Einheit, und mit der mit ihm verbundenen sozialistischen Ideologie einer blühenden und fortschrittlichen Gesellschaft. Die Völker Afrikas behalten Muammar al Gaddafi als einen der ihren in Erinnerung, ebenso wie die Völker der arabischen Welt. Auch zehn Jahre nach seinem Tod hat er nichts von seiner Faszination eingebüsst. Sein Vermächtnis lebt weiter im Kampf der Völker und dem der Individuen gegen Kolonialismus, Imperialismus und Zionismus.

Die Lehren

Die Lehre, die wir alle aus Libyen, Irak, Syrien, Venezuela, Kuba und aus anderen vom Imperialismus angegriffenen Ländern ziehen können, ist klar: Der Imperialismus ist ein menschenverachtendes, mordendes System, welches nicht reformierbar ist. Selbst einer der größten Apologeten des Kapitalismus, der WEF Gründer Klaus Schwab, versucht uns mittlerweile einen „great reset“ beliebt zu machen. Auch hier, im Schatten von Corona, können wir unsere Lehren ziehen: Die Eminenzen des imperialistischen Systems scheuen nicht davor zurück, Menschen auf anderen Kontinenten gewissenlos zu ermorden, sie massenhaft buchstäblich hinzuschlachten oder gnadenlos durch die Blockaden auszuhungern. Weshalb also sollten sie uns verschonen, wenn sie ihren „great reset“ tatsächlich einleiten, so wie es Schwab androht?

Das System ist nicht reformierbar. Die einzige Chance, die uns bleibt, ist nicht ein „great reset“ sondern ein „great change“. Alternative Gesellschaftsformen, wie sie vom damaligen Libyen nicht nur angeregt sondern auch gelebt wurden, können Inspirationsquelle für diesen Wandel sein. Nichts – außer unserem europäischen Dünkel, nichts außer diese Bürde des weissen Mannes hindert uns daran, uns von diesen Inspirationsquellen beflügeln zu lassen.


Fußnoten:

1 https://www.youtube.com/watch?v=bdnCNlcjPE0
Letzter Zugriff November 2021)
2 Es heisst, dass damals alles was auf dem kargen Boden wuchs Libyen gehörte, alles was unter dem Boden war
gehörte den Briten. In der Tat verkaufte Idris das Öl nicht, er verschenkte es regelrecht.
3 Karam Khella, Die libysche Herausforderung, Libyen von den Anfängen bis zur Gegenwart, Theorie und Praxis Verlag, Hamburg, 1989 / 90 (Dritte Auflage)
4 Muammar al Gaddafi, Das Grüne Buch (Die Lösung des Demokratieproblems, die Macht des Volkes)
Herausgeber: Internationales Studien- und Forschungszentrum Tripolis. Leider ist das Buch nur noch mit viel Glück
antiquarisch erhältlich. Ein Download wird jedoch hier
https://sourceforge.net/projects/freefunds/
bereit gestellt. (Letzter Zugriff November 2021)
5 Die Front der Standhaftigkeit und Ablehnung, auch Front der Standhaftigkeit und Konfrontation war von 1977 bis 1981 eine Ablehnungsfront einiger arabischer Staaten und der PLO gegen eine Politik der Annäherung Ägyptens an die USA und den Separatfrieden mit Israel.
6 Siehe dazu:
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=25375
(Letzter Zugriff November 2021) und auch:
https://www.youtube.com/watch?v=a4fq9btXUeQ
(Letzter Zugriff November 2021)
7 „Wir kamen, wir sahen und er starb“
https://www.youtube.com/watch?v=F9_G1ikow1k
(Letzter Zugriff November 2021
8 https://www.spiegel.de/politik/ausland/eklat-in-new-york-gaddafi-wutrede-empoert-uno-delegierte-a-650897.html
(Letzter Zugriff November 2021)
9 Der gesamte Text der Rede kann hier in deutscher Sprache herunter geladen werden:
https://www.splitterpfe.ch/pdf_archiv/politik_archiv/150312_gaddafi_rede-vor-der-generalversammlung-der-uno.pdf
(Letzter Zugriff November 2021
10 Captagon® ist bzw. war ein Medikament, das den Wirkstoff Fenetyllin enthält. Captagon® wurde in Deutschland von dem Chemiewerk Homburg AG, Frankfurt (Main) hergestellt und ab 1961 als Medikament vermarktet. Strukturell gesehen besteht Fenetyllin aus Theophyllin (Coffeinanaloges) und Methylamphetamin, weshalb es auch trivial als "verkapptes" Amphetaminderivat bezeichnet wird. Quelle:
https://www.dshskoeln.de/institut-fuer-biochemie/doping-substanzen/doping-lexikon/c/captagonr/
(Letzter Zugriff November 2021)


Siehe auch:

Libyen - Bundesverband Arbeiterfotografie gegen jedes militärische Eingreifen
Erklärung vom 6.3.2011
http://www.arbeiterfotografie.com/nordafrika/nordafrika-0001.shtml

Schauspiel in drei Akten
Betrachtung zu den Vorgängen in Tunesien, Ägypten und Libyen von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann - 10.3.2011
http://www.arbeiterfotografie.com/nordafrika/nordafrika-0005.shtml

Libyen: Die Schlächter sind unter uns. Stoppen wir sie!
Appell des Bundesverbands Arbeiterfotografie vom 21.3.2011
http://www.arbeiterfotografie.com/nordafrika/nordafrika-0012.shtml

Online-Flyer Nr. 780  vom 10.11.2021



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